Landgericht Hannover
Urt. v. 31.05.2021, Az.: 19 O 217/11

Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung im Zusammenhang mit einem durch eine Blutgruppenunverträglichkeit verursachten Neugeborenen-Ikterus

Bibliographie

Gericht
LG Hannover
Datum
31.05.2021
Aktenzeichen
19 O 217/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 73249
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGHANNO:2021:0531.19O217.11.00

In dem Rechtsstreit
XXX
- Klägerin -
XXX
Prozessbevollmächtigte:
XXX
XXX
XXX
- Nebenintervenient -
Prozessbevollmächtigte:
XXX
XXX
gegen
XXX
XXX
- Beklagte -
Prozessbevollmächtigte zu 1.:
XXX
XXX
Prozessbevollmächtigte zu 2.:
XXX
XXX
hat das Landgericht Hannover - 19. Zivilkammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht XXX, die Richterin am Landgericht XXX und die Richterin am Landgericht XXX im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO aufgrund der bis zum 25.05.2021 eingereichten Schriftsätze für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagten zu 1) und 2) werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 650.000,00 € abzüglich der Abschlagszahlungen von 2 x 20.000,00 € am 31.12.2012 und 04.07.2013 sowie jeweils 100.000,00 € am 20.05.2014 und 22.05.2014 nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.11.2011 zu zahlen sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 500,00 € monatlich ab dem 01.02.2011 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem jeweils auf den Monatsersten folgenden Werktag zu zahlen und die Klägerin von den ihr außergerichtlich entstandenen Kosten in Höhe von 6.747,06 € freizustellen.

  2. 2.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  3. 3.

    Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 38% und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 62%; die Kosten des Vergleichs tragen die Klägerin zu 10% und die Beklagten zu 90%.

  4. 4.

    Die Kosten der Nebenintervention tragen die Beklagten als Gesamtschuldner zu 62%; im Übrigen trägt der Nebenintervenient seine Kosten selbst.

  5. 5.

    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin - vertreten durch ihre Mutter, Frau XXX - verlangt von den Beklagten Schadensersatz und Feststellung ihrer Einstandspflicht für weitere Schäden wegen fehlerhafter Behandlung im Zusammenhang mit einem durch eine Blutgruppenunverträglichkeit verursachten Neugeborenen-Ikterus (Gelbsucht).

Die Klägerin wurde am 12.01.2011 um 05.13 Uhr zu Hause entbunden; betreuende Hebamme war die Beklagte zu 1). Für Frau XXX (Jahrgang 1970) handelte es sich um die 4. Schwangerschaft. Sie hat die Blutgruppe 0 Rhesusfaktor negativ. Dies stellt weniger bei der ersten, wohl aber bei Folgeschwangerschaften einen Risikofaktor dar. Haben Mutter und Kind unterschiedliche Rhesusfaktoren, so kann dies bei einem Blutkontakt zur Bildung von Antikörpern im Blut der Mutter führen. Derartige Antikörper können bei einer weiteren Schwangerschaft das Kind, hat es den Rhesusfaktor positiv, gefährden, indem sie dessen Blutzellen angreifen. Aus diesem Grunde wurde gemäß der Behandlungsdokumentation der die Schwangerschaft betreuenden Frauenärztin XXX am 16.11.2010 eine Anti-D-Prophylaxe durchgeführt. Dieses Medikament verhindert die Produktion von Antikörpern.

Das Geburtsgewicht der Klägerin betrug 2.800 g und die Apgar-Werte lagen bei 10/10/10, also im jeweils höchsten Bereich. Nach der Geburt entnahm die Beklagte zu 1) Nabelschnurblut, das noch am selben Tag im XXX, in dem der Streithelfer tätig ist, einging (Bl. 44 d. A.). Die dortige Untersuchung durch den Streithelfer ergab bei der Klägerin die Blutgruppe 0 Rhesus positiv, einen positiven Antikörpersuchtest mit Anti-D-Titer von 1:16 und einen positiven Coombs-Test (diagnostisches Verfahren zum Nachweis von Antikörpern gegen Erythrozyten, d. h. roten Blutkörperchen). Außerdem wurde ein leicht ikterisches Serum beschrieben. Es wurde empfohlen, kurzfristig das Blut der Mutter zu untersuchen und bei der Klägerin eine klinische Verlaufskontrolle durchzuführen (Bl. 49 f. d. A.). Die Beklagte zu 1) nahm in der Folge von der Mutter der Klägerin Blut für einen Antikörpersuchtest ab. Die Blutprobe ging am 13.01.2011 im XXX ein. Nach dem schriftlichen Untersuchungsbefund des Streithelfers vom 19.01.2011 (Bl. 56, 81 ff. d. A.) war der Antikörpersuchtest positiv mit einem Anti-D-Titer von 1:256. Da sich - auch bei der Kontrolluntersuchung durch das Deutsche Rote Kreuz (vgl. Bl. 54 d. A.) - kein Nachweis eines zusätzlichen, schwangerschaftsrelevanten Antikörpers gefunden habe, sei keine Gefährdung des bereits geborenen Kindes durch einen anderen Antikörper zu erwarten (Bl. 84 d. A.).

In der Zeit vom 13. bis zum 16.01.2011 führte die Beklagte zu 1) tägliche Hausbesuche durch. Nach der Dokumentation (Bl. 78 ff. d. A.) war die Klägerin erstmals am 14.01. - einem Freitag - "etwas gelb" (Bl. 80 d. A.). An diesem Tag stattete auch der Beklagte zu 2), langjähriger Kinderarzt der Familie, einen Hausbesuch ab, bei dem er die Beklagte zu 1) antraf. Er dokumentierte einen "leichten Ikterus" und "ggfs. amb. KKB" (XXX). Am 15.01. führte die Beklagte zu 1) bei der Klägerin die Blutentnahme für das Neugeborenen-Screening durch. Nach der Dokumentation war die Klägerin unverändert gelb. Am 16.01. trank die Klägerin nicht mehr und die Haut war nach der Dokumentation der Beklagten zu 1) gelber geworden. Gegen 21.00 Uhr wurde sie von den Eltern in das XXX gebracht. Der Wert des Bilirubins (Abbauprodukt, das entsteht, wenn rote Blutkörperchen abgebaut werden; fällt mehr Bilirubin an, als die Leber abbauen kann, so lagert sich das Bilirubin im Unterhautfettgewebe an, wodurch eine Gelbfärbung der Haut entsteht) lag bei 47,1 mg/dl (Normalwert bei Kindern über 1 Monat je nach Reifegrad 0,2 bis 10 mg/dl). Nach der Pflegedokumentation war die Hautfarbe der Klägerin "orange". Im Krankenhaus wurde mit einer Fototherapie begonnen und noch in der Nacht eine Bluttransfusion durchgeführt. Gleichwohl verschlechterte sich ihr Zustand und sie musste künstlich beatmet werden. In dieser Zeit kam es zu cerebralen Krampfanfällen. Letztlich wurde die Diagnose eines Kernikterus (irreversible Hirnschädigung durch eine Bilirubin-Toxizität) gestellt. Die Klägerin leidet infolgedessen unter einer spastischen Lähmung aller Extremitäten, sie ist faktisch taub und kann nicht sprechen. Darüber hinaus besteht eine schwerwiegende Refluxerkrankung, weshalb eine Fundoplicatio (chirurgischer Eingriff zur Verhinderung des Rückflusses von Magensäure in die Speiseröhre) durchgeführt wurde. Dennoch ist nach wie vor eine schwere Ernährungs- und Gedeihstörung vorhanden. Es handelt sich um dauerhafte Schäden. Die Klägerin wird Zeit ihres Lebens in allen Bereichen auf Hilfe angewiesen sein (vgl. Berichte des XXX vom 06.09.2011, Bl. 18 f. d. A., vom 23.02.2011, Bl. 20 f. d. A., vom 25.06.2012, Bl. 328 d. A., und vom 13.09.2012, Bl. 330 f. d. A.).

Im Auftrag der XXX Niedersachen und im Lande Bremen wurde zur Klärung etwaiger Behandlungsfehler ein neonatologisches Gutachten von XXX eingeholt. Dieser kam im Gutachten vom 01.08.2011 (Bl. 7 ff. d. A.) zu dem Ergebnis, dass beide Beklagten die Klägerin grob fehlerhaft behandelt hätten, weil die notwendige tägliche Bestimmung der Serum-Bilirubin-Konzentration unterblieben sei. Ein solcher Fehler sei bei dem positiven Coombs-Test und einem Antikörpertest mit einem Titer von 1:256 nicht nachvollziehbar und dürfe einer Hebamme und einem Kinderarzt schlechterdings nicht unterlaufen. Bei richtiger Betreuung der Klägerin hätte man die Hirnschädigung vollständig vermeiden können.

Unter Berufung auf das Gutachten von XXX behauptet die Klägerin, von beiden Beklagten grob fehlerhaft behandelt worden zu sein. Die Gelbfärbung habe bereits am 13.01.2011 bestanden. Trotz stetiger Verschlechterung ihres Gesundheitszustands habe die Beklagte zu 1) davon abgeraten, sie ins XXX zu bringen und ihre Eltern mit dem Hinweis darauf, dass sie Antikörper habe, die aber nicht gefährlich seien, beruhigt. Bei rechtzeitiger Behandlung der durch die Blutgruppenunverträglichkeit hervorgerufenen Neugeborenengelbsucht hätten die schwersten Schäden vollständig vermieden werden können.

Mit der Klage macht die Klägerin neben einem Feststellungsanspruch als bezifferte Ansprüche einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 250.000,00 € als Teilbetrag eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie Betreuungsmehrkosten bis zum 31.12.2011 in Höhe von 22.882,32 € (Berechnung Bl. 2 ff. d. Schriftsatzes vom 01.12.2011, Bl. 150 ff. d. A.) geltend.

Die Klägerin hat ursprünglich beantragt,

  1. 1.

    die Beklagten zu 1) und 2) gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an sie einen Teilbetrag des ihr zustehenden Schmerzensgeldes in Höhe von 250.000,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.01.2011 zu zahlen,

  2. 2.

    die Beklagten zu 1) und 2) zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie die für ihre Betreuung bis zum 31.12.2011 entstandenen und entstehenden Betreuungsmehrkosten in Höhe von 22.882,32 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.01.2012 zu ersetzen,

  3. 3.

    festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, welche ihr aus der fehlerhaften Behandlung in der Zeit vom 12.01.2011 bis zum 31.01.2011 entstanden sind und noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden,

  4. 4.

    die Beklagten zu 1) und 2) zu verurteilen, an sie als Gesamtschuldner die ihr außergerichtlich entstandenen Kosten in Höhe von 6.979,11 € nebst Zinsen in Höhe von jeweils 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (02.11.2011) zu zahlen.

Die Kammer hat mit Grund- und Teilurteil vom 4. November 2013 die Haftung der Beklagten dem Grunde nach festgestellt und dem ursprünglichen Antrag zu Ziffer 3 stattgeben.

Die Klägerin hat im weiteren Verlauf des Rechtsstreits die Klage in sachlicher Hinsicht erweitert und dabei sowohl die geltend gemachten Schmerzensgeldbeträge erhöht, als auch zwischenzeitlich einen erhöhten Betreuungsbedarf sowie materiellen Schadensersatz in Höhe von insgesamt 33.461,90 € konkret geltend gemacht. Hinsichtlich des Betreuungsbedarfs und der Mehraufwendungen haben die Parteien einen Teilvergleich (protokolliert am 28. Dezember 2018, B. 1533 d.A.) geschlossen, in dem sich die Beklagten verpflichtet haben, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 29.933,01 € zu zahlen.

Die Klägerin beantragt daher nunmehr,

  1. 1.

    die Beklagten zu 1) und 2) gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an sie zur Abgeltung sämtlicher bis zur letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz eingetretenen Schadensfolgen

    1. a.

      ein in das Ermessen des Gerichts zu stellendes Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 1.000.000,00 € abzüglich der erfolgten Abschlagszahlungen von 2 x 20.000,00 € am 31.12.2012 und 04.07.2013 sowie jeweils 100.000,00 € am 20.05.2014 und 22.05.2014 nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (02.11.2011) zu zahlen;

    2. b.

      eine in das Ermessen des Gerichts zu stellende monatliche Schmerzensgeldrente von mindestens 2.500,- € monatlich ab dem 01.02.2011 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem jeweiligen Monatsersten zu zahlen.

  2. 2.

    die Beklagten zu 1) und 2) gesamtschuldnerisch zu verurteilen, sie von den ihr außergerichtlich entstandenen Kosten i.H.v. 6.979,11 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (02.11.2011) freizustellen.

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte zu 1) behauptet, die Ergebnisse der vom Streithelfer durchgeführten Untersuchungen nicht in Händen gehabt, sondern lediglich telefonisch abgefragt zu haben, nicht jedoch die Ergebnisse der Coombs-Tests. Der Streithelfer habe ihr gesagt, der hohe Titer-Wert von 1:256 sei auf die Anti-D-Prophylaxe zurückzuführen. Insofern sei sie beruhigt gewesen. Daher habe sie am 14.01.2011 die Ergebnisse der ihr bekannten Antikörpertests auch nicht an den Beklagten zu 2) weitergegeben. Wie von ihr dokumentiert, sei die Klägerin ab dem 14.01.2011 im Gesicht, an den Armen und am Körperstamm etwas gelb gewesen. Am 15.01. habe sich ihr Zustand nicht verschlechtert. Erst am 16.01. seien auch die Beine gelb gewesen. Außerdem habe sie leicht apathisch gewirkt, weshalb sie den Eltern empfohlen habe, das Kind im XXX vorzustellen. Vorher habe kein Anlass zur Sorge bestanden.

Der Beklagte zu 2) behauptet, bei der Untersuchung der Klägerin am 14.01.2011 habe für ihn kein Hinweis auf eine Rhesusunverträglichkeit bestanden, weshalb auch keine Indikation für eine umgehende Bilirubin-Bestimmung vorhanden gewesen sei. Die Untersuchungsbefunde der Blutproben habe er nicht gekannt. Er habe lediglich einen leichten Neugeborenen-Ikterus feststellen können. Gleichwohl habe er den Vater der Klägerin bei der Verabschiedung darauf hingewiesen, dass bei einer zunehmenden Gelbfärbung und damit einhergehender Trinkschwäche unbedingt eine Bilirubinbestimmung im XXX notwendig sei.

Beide Beklagte behaupten, dass man die Schädigungen der Klägerin auch bei früherer Bilirubinkontrolle nicht hätte verhindern können. Im Übrigen sind sie der Auffassung, dass die Eltern der Klägerin ein Mitverschulden treffe.

Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschlüssen vom 09.05.2012 (Bl. 266 f. d. A.) und 03.01.2013 (Bl. 374 d. A.) durch Einholung von Sachverständigengutachten. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gutachten des Neonatologen XXX vom 20.10.2012 und 04.09.2013 (in Aktenhülle), das am 14.08.2013 bei Gericht eingegangene Gutachten der Hebamme XXX (ebenfalls in Aktenhülle) sowie das Sitzungsprotokoll vom 12.09.2013 (Bl. 565 ff. d. A.) verwiesen. Ferner hat die Kammer Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 18.07.2019 (Bl. 1635 d.A.) durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf das Gutachten des Kinderneurologen XXX vom 06.03.2020 (Aktenhülle).

Wegen des Vortrags der Parteien im Einzelnen und Übrigen wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Nachdem durch das Grund- und Teilurteil rechtskräftig über die Haftung der Beklagten als Gesamtschuldner dem Grunde nach und den Feststellungsantrag bereits entschieden worden ist, bedurfte es nur einer weitergehenden Entscheidung hinsichtlich der Höhe des - noch in Streit - stehenden Schmerzensgeldes.

I.

Der Klägerin steht - über die bereits gezahlten 240.000 € hinaus - gegen die Beklagten als Gesamtschuldner aus §§ 280, 611 BGB und aus unerlaubter Handlung gemäß § 823 BGB jeweils in Verbindung mit den §§ 249, 253 Abs. 2 BGB ein weiterer kapitalisierter Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 410.000 € zu und damit ein Schmerzensgeld in Höhe von 650.000 € sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 500,- € zu, aus der sich ein kapitalisierter Gesamtbetrag in Höhe von 118.800,00 € ergibt. Der daraus resultierende kapitalisierende Schmerzensgeldanspruch beläuft sich demnach auf 770.000,00 €.

Dieser Betrag ist nach Auffassung der Kammer angemessen und ausreichend, er berücksichtigt unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls insbesondere die bei der Klägerin eingetretenen schwersten Gesundheitsschäden in adäquatem Umfang und trägt der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes Rechnung.

Dazu im Einzelnen:

1.

Nach der Vorschrift des § 253 Abs. 2 BGB kann der Geschädigte wegen immaterieller Schäden eine "billige Entschädigung" in Geld verlangen. Schmerzensgeld hat die Funktion, dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für die Schäden zu bieten, die nicht vermögensrechtlicher Natur sind, und zugleich dem Gedanken Rechnung zu tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (grundlegend: BGHZ 18, 149, 154 ff.).

Dabei steht - von Ausnahmen abgesehen - die Ausgleichsfunktion im Vordergrund mit der Folge, dass die Höhe des Schmerzensgeldes entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten abhängt, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss (OLG Celle, Urteil vom 08. Juli 2020 - 14 U 27/20 -, juris unter Verweis auf: BGH VersR 1976, 440; 1980, 975; 1988, 299; Senat, a. a. O.; OLG Hamm zfs 2005, 122 [123]).

Die Ermittlung des Schmerzensgeldes steht - nach Höhe und Art - grundsätzlich im Ermessen des Gerichts, das hier durch § 287 ZPO besonders freigestellt ist. Doch sind dem Ermessen Grenzen gesetzt; es darf das Schmerzensgeld nicht willkürlich festsetzen, sondern muss zu erkennen geben, dass es sich um eine dem Schadensfall gerecht werdende Entschädigung bemüht hat. Es muss alle für die Höhe des Schmerzensgeldes maßgebenden Umstände vollständig berücksichtigen und darf bei seiner Abwägung nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen. Das Gericht ist dabei insbesondere gehalten, sich an Entscheidungen anderer Gerichte zu orientieren, in denen Schmerzensgelder für vergleichbare Fälle zugesprochen worden sind. Hierbei ist aber auch in Rechnung zu stellen, dass die Rechtsprechung bei der Bemessung von Schmerzensgeld nach gravierenden Verletzungen großzügiger verfährt als früher (OLG Köln, VersR 1992, 1013 und VersR 1995, 549).

2.

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind folgende schwerste Beeinträchtigungen, die die Klägerin erlitten hat, zu berücksichtigen:

Der Sachverständige XXX hat in seinem Gutachten ausgeführt, bei der Klägerin liege ein Ikterus neonatorum gravis mit Kernikterus und schwersten zerebralen Bewegungsstörungen im Sinne einer dyskinetisch-choreoathetotischen Cerebralparese des schwersten Levels V vor. Demnach könne die Klägerin weder im Sitzen noch in der Bauchlage den Kopf oder Rumpf gegen die Schwerkraft aufrecht halten; die willkürliche Kontrolle ihrer Bewegungen sei stark eingeschränkt. Zudem sei jegliche motorische Funktion beeinträchtigt und sie könne sich nicht selbständig fortbewegen. Bestehende funktionelle Einschränkungen im Sitzen und stehen könnten auch mit angepassten Hilfsmitteln nicht vollständig kompensiert werden. Es erscheine zudem ausgeschlossen, dass die Klägerin erlernen werde, einen Rollstuhl zu benutzen.

Hinzuträten ausgeprägte und schwerste kombinierte kognitive und körperliche Funktionseinschränkungen, wobei - trotz fehlender Möglichkeit dies zu messen - von einer geistigen Behinderung auszugehen sei. Die Klägerin sei in der Lage, ihre Mitmenschen zu verstehen und gebe über Lachen und mimische Äußerungen zu verstehen, dass sie Dinge begreife; sie versuche mittels eines augengesteuerten Computers eine unterstützende Kommunikation zu erlernen. Im Ergebnis werde es ihr dadurch möglich werden, kurze Wünsche wie Hunger oder Durst zu kommunizieren; komplexere kognitive Fähigkeiten werde sie jedoch nicht erlernen können.

Die Klägerin besucht - mit Hilfe einer Schulbegleiterin - eine Förderschule und nimmt verschiedene therapeutische Angebote wahr.

Schwierigkeiten bestünden zudem bei der Ernährung, da sie kaum kauen könne und die Nahrung nur zerdrücken könne. Harte Nahrung könne sie nicht zu sich nehmen. Flüssigkeit müssen ihr in den Mund geträufelt werden.

Die vorhandene Cerebralparese sei permanent und unveränderlich. Diese führe zu abnormen, unwillkürlichen und eher anhaltenden Muskelspannungen mit abnormer Stellung von variierender Intensität, sowohl in der Ruhe aber vor allem in der Aktivität. Dieser Zustand könne trotz umfangreicher Therapiemaßnahmen wie Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie im besten Falle im status quo erhalten werden, wobei sich bei wachsendem Kind und zunehmendem Alter sicherlich die Intensität der Beeinträchtigung verstärken werde. Insgesamt sei nicht mit einer Verbesserung, sondern mit einer Verschlechterung zu rechnen.

Seine Feststellungen, denen die Kammer sich nach eigener sorgfältiger Prüfung anschließt, sind von den Parteien nicht angegriffen worden.

Angesichts des Umstandes, dass die Klägerin infolge des - groben - Behandlungsfehlers unter schwersten körperlichen Beeinträchtigungen und einer geistigen Behinderung leidet und dadurch von Beginn ihres Lebens in ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten maximal beeinträchtigt ist und voraussichtlich immer bleiben wird, erachtet die Kammer ein Schmerzensgeld von annähernd 770.000,00 € für angemessen.

Dabei ist die schadensbedingte Einschränkung der Fähigkeit, die eigene Person und seine Umwelt zu erleben und ein aktives, selbstbestimmtes Leben zu führen, von herausragender Bedeutung für die Bemessung des Schmerzensgeldes, da diese Fähigkeiten, die jedem gesunden Menschen von Natur aus gegeben sind, bei der Klägerin maximal eingeschränkt sind; ihr ist die Basis für die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit genommen worden.

Ebenfalls zu berücksichtigen war, dass die eingetretenen gesundheitlichen Folgen auf einem groben Behandlungsfehler beruhen.

Auch die Berücksichtigung anderweitiger Gerichtsentscheidungen oder der Rückgriff auf Tabellenwerke sind bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes zulässig - wenngleich sie keine Bindungswirkung haben können - und stehen der Angemessenheit des Schmerzensgeldes nicht entgegen.

In der Vergangenheit sind in Fällen, in denen unter der Geburt bzw. unmittelbar darauf oder in frühester Kindheit, schwerste Hirnschädigungen eingetreten sind, mehrere Urteile ergangen, die ein Schmerzensgeld von 500.000,00 € oder mehr sowie eine zusätzliche Schmerzensgeldrente zugesprochen haben (vgl. hierzu die Darstellung des LG Gießen in: VersR 2020, 630-635 unter Verweis auf: Oberlandesgericht Zweibrücken, Urt. v. 22.4.2008 - 5 U 6/07, NJOZ 2009, 3241; Oberlandesgericht Jena, Urt. v. 14.8.2009 - 4 U 459/09; KG Berlin, Urt. v. 16.2.2012 - 20 U 157/10, NJW-RR 2012, 920; Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urt. v. 31.1.2017 - 8 U 155/16; Landgericht Aachen, Urt. v. 30.11.2011 - 11 O 478/09; Landgericht Aurich, Urteil vom 23.11.2018 - Az. 2 O 165/12).

Entgegen der teilweise vertretenen Auffassung gibt es, selbstredend unter Berücksichtigung der Funktion des Schmerzensgeldes, keine fixe Obergrenze für auszuurteilende Schmerzensgeldbeträge (so etwa: OLG Köln, Urteil vom 05. Dezember 2018 - 5 U 24/18 -, juris).

3.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Bemessung des Schmerzensgeldes nicht, wie das OLG Frankfurt (NJW 2019, 442 [OLG Frankfurt am Main 18.10.2018 - 22 U 97/16]) meint, in Orientierung an Literatur taggenau zu berechnen, da dies zu unbilligen Ergebnissen führte und außer Betracht lässt, dass es durchaus schwerste Beeinträchtigung gibt, die - gerade wegen ihrer Schwere - zu einer geringeren Lebenserwartung führen (ebenfalls ablehnend: OLG Celle, Urteil vom 26. Juni 2019 - 14 U 154/18 -, juris). Wie dies bei der Berechnung zu berücksichtigen sein sollte, bleibt offen. Jedenfalls führte eine konsequente Umsetzung der Berechnungsweise tatsächlich dazu, dass Schmerzensgeldbeträge im höheren siebenstelligen Bereich zuzusprechen wären, was erkennbar den Intentionen des Gesetzgebers zuwiderliefe und mit dem Sinn und Zweck des Schmerzensgeldes in der deutschen Rechtsordnung nicht mehr zu vereinbaren wäre, dem insbesondere ein "Strafschadensersatz" bekanntermaßen fremd ist. Darauf liefe jedoch ein Vorgehen mit dem OLG Frankfurt - wie sich aus den dortigen Ausführungen ergibt - hinaus.

Schließlich verkennt die in Bezug genommene Entscheidung, dass sowohl rechtshistorisch bedingt als auch nach der Intention des Gesetzgebers nicht die Rechtssicherheit bei Geltendmachung des Anspruchs im Vordergrund steht, sondern vielmehr die Billigkeit des festzusetzenden Betrages. Eine taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes schnitte dieses Vorgehen jedoch ab und führte letztlich dazu, dass der Rechtssicherheit - der wegen der Möglichkeit, einen unbezifferten Klageantrag zu stellen eine eher untergeordnete Bedeutung zukommt - der Vorrang gegenüber der Billigkeit eingeräumt würde. Hinzutritt, dass - wie teilweise in der Literatur suggeriert wird - keineswegs völlige Unsicherheit herrscht, sondern vielmehr im bestehenden System, also der Rückgriff auf vergleichbare Entscheidungen und Schmerzensgeldtabellen, durchaus eine vorläufige Schätzung möglich ist.

II.

Darüber hinaus steht der Klägerin eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 500,00 € zu.

Dabei gilt zunächst, dass die Frage, ob das Schmerzensgeld nur als Kapitalbetrag oder in der Form einer gegebenenfalls zusätzlich zu einem Kapitalbetrag zu gewährenden Rente zuzubilligen ist, im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters steht (grundlegend: BGH, Urteil vom 19. Dezember 1969 - VI ZR 111/68 -, juris).

Soweit teilweise die Auffassung vertreten wird, eine monatliche Rente biete gegenüber einer einheitlichen Abfindung durch einen Kapitalbetrag keinen Vorteil ist bereits nicht im Ansatz greifbar, worauf diese Annahme fußt.

Die Höhe der Rente ist unter Berücksichtigung der statistischen Lebenserwartung und mit dem üblichen Zinsfuß von 5 % zu kapitalisieren (vgl. Gerhard Küppersbusch, 11. Auflage, Ersatzansprüche bei Personenschäden, Rdnr. 300, 869 m.w.N.).

Basierend auf der Sterbetafel 2009/2011 des Statistischen Bundesamtes (abgedruckt im Anhang bei Küppersbusch a.a.O.) und unter Berücksichtigung des Alters der Klägerin im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (10 Jahre), ergibt sich ein Kapitalisierungsfaktor von 19,8 (Tabelle I/8).

Der Kapitalbetrag errechnet sich daher wie folgt (vgl. Rechenbeispiele bei Küppersbusch a.a.O., Rdnr. 878):

500,00 EUR x 12 x 19,8 = 118.800,00 EUR

III.

Ausgehend von vorstehenden Erwägungen steht der Klägerin auch ein Anspruch auf Erstattung ihrer vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten nach einem Streitwert von 948.255,98 € (= 650.000,- € + [500,- € x 12 x 3,5 =] 21.000,- € + 27.255,98 € + [Feststellungsantrag] 250.000,- €) in Höhe von (4.346,- € (= Gebühr nach RVG a.F.) x 1,3 + 20,- € + 19% USt) 6.747,06 € zu.

Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288 BGB. Allerdings war der geltend gemachte Freistellungsanspruch nicht zu verzinsen, da seitens der Klägerin nicht vorgetragen worden ist, dass sie ihrerseits den außergerichtlichen Bevollmächtigten Zinsen schulden würde (vgl. hierzu: BGH Urteil v. 14.03.2017 - XI ZR 508/15).

IV.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 709, 92 Abs. 1, 101 ZPO.

Hinsichtlich des Teilvergleichs war ebenfalls noch über die Kosten zu entscheiden, so dass sich eine anteilige Kostenverschiebung einerseits im Rahmen der Kostentragung des Rechtsstreits ergibt und für den Vergleich eine gesonderte Quote, ebenfalls entsprechend § 92 Abs. 1 ZPO, auszuwerfen war.