Landgericht Aurich
Urt. v. 23.11.2018, Az.: 2 O 165/12

Bibliographie

Gericht
LG Aurich
Datum
23.11.2018
Aktenzeichen
2 O 165/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74032
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OLG - AZ: 5 U 196/18

Tenor:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.03.2012, abzüglich zwischenzeitlich geleisteter 150.000,00 EUR, zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von ihm vorgerichtlich entstandenen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 8.225,28 EUR freizustellen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz trägt die Beklagte.

4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Streitwert: Ursprünglich 630.000,00 EUR, seit dem 12.01.2016: 800.000,00 EUR

Tatbestand:

Der am x.2006 geborene Kläger nimmt die Beklagte wegen ärztlicher Behandlungsfehler im Zusammenhang mit einer stationären Behandlung vom 12./13.05.2011 in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Hause der Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch.

Mit dem Rettungsdienst war der Kläger, unter hohem Fieber und Schüttelfrost leidend, am Nachmittag des 12.05.2011 in das Krankenhaus der Beklagten in E. eingeliefert worden. Wegen der Ereignisse am Abend, in der Nacht auf den und am Morgen des 13.05.2011 wird auf die Gründe des Grundurteils der Kammer vom 21.10.2013 sowie des Berufungsurteils des Oberlandesgerichts O. vom 28.10.2015 Bezug genommen. Nachdem am 13.05.2011 gegen 7.00 Uhr erstmals der Verdacht auf eine Meningokokkensepsis geäußert und eine Notfallversorgung begonnen worden war, bestätigte sich im Labor der Verdacht einer bakteriellen Meningitis. In Begleitung eines Intensiv-Teams überführte man den Kläger in dokumentiert schlechtem Allgemeinzustand, mit multiplen blau-schwarzen Hautnekrosen am ganzen Körper und im Gesicht, bei schwerer Bewusstseinstrübung, unklarer Sprache und fehlender Orientierung um die Mittagszeit des 13.05.2011 mit dem Rettungswagen in das Klinikum O. Nach Stabilisierung seines Zustandes dort wurde der Kläger am 30.05.2011 wegen zahlreicher Hautnekrosen sowie Gangrän an beiden Unterschenkeln zum Zwecke einer plastisch-chirurgischen Versorgung in das Katholische Kinderkrankenhaus W. in H. verlegt.

Die eingetretenen Nekrosen wurden dort zunächst durch Abtragung und Epigard-Deckung versorgt. Wegen ausgeprägter Nekrosen von Haut und Muskeln mussten am 03.06.2011 beide Unterschenkel des Klägers unterhalb der Knie amputiert werden. Zeitversetzt folgten mehrfache Muskellappen- und Spalthauttransplantationen im Gesicht, an den Armen sowie an den Oberschenkeln, wobei die Spalthaut hierfür am Thorax und am Rücken entnommen wurde. Wegen eines ausgedehnten Haut- und Weichteildefekts nebst Befall mit Pseudomonas-Keimen wurde dem Kläger am 04.07.2011 die rechte Kniescheibe entfernt. Die Deckung des rechten Knies erfolgte am 15.07.2011 mit Spalthaut von der Innenseite des linken Oberarms. Nach Entlassung aus dem W am 26.07.2011 wurde der Kläger von der Klinik und Poliklinik für Technische Orthopädie und Rehabilitation in M. übernommen. Im August 2011 musste sich der Kläger einer plastisch-chirurgischen Revision beider Amputationsstümpfe im Klinikum W. unterziehen. Jedenfalls vorübergehend war er gezwungen, einen Ganzkörperkompressionsanzug sowie eine Kopf- und Gesichtsmaske zu tragen, um einer wulstigen Narbenbildung entgegenzuwirken, sowie an beiden Beinstümpfen eine künstliche Streckung der Kniegelenke mittels Schienen vornehmen zu lassen.

Nachdem die Kammer mit Grundurteil vom 21.10.2013 die Klage hinsichtlich der auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie auf Freistellung von vorgerichtlich angefallenen Rechtsverfolgungskosten gerichteten Klageanträge zu 1. und 3. für dem Grunde nach gerechtfertigt erklärt und dem ursprünglichen Klageantrag zu 2. entsprechend festgestellt hatte, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtlichen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihm aus der fehlerhaften Behandlung vom 12./13.05.2011 ab dem 22.03.2012 entstanden ist und/oder noch entstehen wird, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden, hat das Oberlandesgericht O. die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zu dem Aktenzeichen 5 U 156/13 zurückgewiesen und lediglich den Feststellungsausspruch um eine Klarstellung ergänzt. Es hat in seiner rechtskräftig gewordenen Entscheidung festgestellt, dass das Vorgehen des für den Kläger in jener Nacht zuständigen Krankenpflegers einen groben Behandlungsfehler darstellt.

Der Kläger hält angesichts der infolge der der Beklagten anzulastenden Behandlungsfehler bei ihm eingetretenen Beeinträchtigungen ein Schmerzensgeld von mindestens 350.000,00 EUR für angemessen, wie er es in der Klageschrift vom 14.02.2012 vertreten hat. Mit Schriftsatz vom 12.01.2016 hat er verlangt, das weiterhin in das Ermessen des Gerichts gestellte Schmerzensgeld solle einen Betrag von 800.000,00 EUR jedenfalls nicht unterschreiten. Zu zwei dem Gericht nicht näher mitgeteilten Zeitpunkten, jedoch spätestens bis Frühjahr 2016 wurden von Seiten der Beklagten Schmerzensgeldbeträge von zunächst 100.000,00 EUR und sodann weiteren 50.000,00 EUR an den Kläger geleistet.

Der Kläger behauptet, aufgrund der sehr kurzen Unterschenkelstümpfe von rechts drei und links fünf Zentimetern unter dem Knie habe es sich bislang als sehr schwierig erwiesen, ihn mit angemessenen Prothesen zu versorgen, die ihm eine schmerzfreie Fortbewegung hätten ermöglichen können. Infolgedessen leide er unter Hüftbeschwerden, Rücken- und Schulterschmerzen. Darüber hinaus sei es in beiden Knien, dem Ellenbogen rechts sowie an beiden Schultern zu Streck- bzw. Beugedefiziten gekommen. Wegen seines noch nicht abgeschlossenen körperlichen Wachstums sei damit zu rechnen, dass wiederholte Knochenkürzungen an Tibia und Fibula, unter Umständen auch eine Amputation der Patella links, erforderlich werden. Er leide unter Phantomschmerzen an beiden Beinen und neige durch den Verlust gewachsener Haut in weiten Teilen seiner Körperoberfläche zu starkem Schwitzen. Zudem seien verschiedene psychische Folgen und Schwierigkeiten in der altersgerechten Sozialisierung auf die körperlichen Schädigungen sowie die vielfältigen Behandlungsmaßnahmen seit Mai 2011 zurückzuführen. Für die Zukunft sei zu befürchten, dass sich im Laufe seines Lebens und insbesondere in der Pubertät ein schwerer Verlauf psychischer Beeinträchtigungen einstelle. Wegen weiterer Einzelheiten wird ergänzend auf den Sachvortrag des Klägers, insbesondere im Schriftsatz vom 14.01.2016, Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen,

a) an ihn ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld - mindestens 800.000,00 EUR abzüglich zwischenzeitlich gezahlter 150.000,00 EUR - nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Klagezustellung zu zahlen sowie

b) ihn von vorgerichtlich entstandenen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 8.225,28 EUR freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält das zwischenzeitlich gezahlte Schmerzensgeld von insgesamt 150.000,00 EUR für ausreichend. Die Beklagte tritt zudem dem Ansatz des Klägers entgegen, Auswirkungen seines Schadens auf die gesamte Familie zur Grundlage eines ihm zustehenden angemessenen Schmerzensgeldes zu machen.

Das Gericht hat auf der Grundlage des Beweisbeschlusses vom 07.11.2016 (Bl. 89-92 Bd. III d.A.) Beweis erhoben durch Einholung eines interdisziplinär erstellten Sachverständigengutachtens. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 18.04.2018 Bezug genommen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den weiteren Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist auch der Höhe nach in vollem Umfang begründet. Die Beklagte schuldet dem Kläger gestützt auf §§ 280 Abs. 1; 278; 249; 253 Abs. 2 BGB sowie gemäß §§ 823 Abs. 1; 831 Abs. 1 Satz 1; 249; 253 Abs. 2 BGB Ersatz seines infolge der fehlerhaften stationären Behandlung in der Nacht vom 12. auf den 13.05.2011 entstandenen materiellen und immateriellen Schadens, wie dem Grunde nach bereits rechtskräftig entschieden ist.

I.
Die Kammer hält nach ergänzender Sachverständigenbeweisaufnahme zu den auf die fehlerhafte Behandlung zurückzuführenden Folgen in der Person des Klägers ein Schmerzensgeld in Höhe der geäußerten Mindestbetragsvorstellung für angemessen, um den Kläger für die erlittenen vielfältigen Beeinträchtigungen, unter denen er sein ganzes Leben lang wird leiden müssen und die er jeden Tag aufs Neue bewusst erlebt, in Geld zu entschädigen.

Durch den Verlust beider Unterschenkel jeweils knapp unter dem Kniegelenk und die Notwendigkeit von Muskellappentransplantationen sowie wiederholter, großflächiger Spalthauttransplantationen von Thorax und Rücken stammend im Gesicht, an den Armen und beiden Oberschenkeln sowie beiden Kniegelenken hat der Kläger schwerste körperliche Beeinträchtigungen erlitten und wird sein gesamtes Leben lang körperlich schwerstbehindert bleiben. Die Wangen beider Gesichtshälften sind durch die ausgedehnten Weichteilschäden, die auf die verspätete Behandlung der Meningokokkensepsis im Hause der Beklagten zurückzuführen sind, sowie die nachfolgenden Transplantationen entstellt. Dasselbe gilt für die oberen Extremitäten sowie die Oberschenkel- und Kniegelenksbereiche, die keloidartige großflächige Hautentstellungen zeigen und bei denen der Anteil transplantierter Hautareale die Fläche der hiervon nicht betroffenen Körperoberfläche deutlich überschreitet. An beiden Armen, rechts stärker als links, sowie den unteren Extremitäten bestehen infolge der Haut- und Gewebenekrosen ausgedehnte narbige Bezirke mit Verwachsungen. Das zeigen die Lichtbilder, die als Anlage zum Schriftsatz vom 12.01.2016 zur Akte gereicht wurden und die unstreitig den Körper des Klägers rund um den damaligen Zeitpunkt abbilden; auf sie wird verwiesen.

Der Kläger musste eine Vielzahl von Muskellappen- und Spalthauttransplantationen über sich ergehen lassen, um die weiträumigen Weichteildefekte im Gesicht sowie an Armen und Oberschenkeln so gut wie unter den gegebenen Umständen möglich zu kompensieren. Bereits die Vielzahl operativer Eingriffe, die stets mit stationären Aufenthalten im Krankenhaus verbunden waren und notwendigerweise sowohl an der Entnahmestelle als auch am jeweiligen Zielort des Transplantats erfolgen mussten, stellt für einen Jungen im Vor- und Grundschulalter eine nicht zu unterschätzende Last dar. Hinzu tritt die psychische Belastung durch die stets vorhandene Befürchtung, auch und gerade aus kindlicher Sicht, es könnte auch mit diesem Eingriff noch nicht „gut“ sein, sondern es könnten sich immer noch weitere Transplantationen oder sonstige Revisionseingriffe anschließen.

Im Hinblick auf die Amputationsstümpfe ist Letzteres wiederholt der Fall gewesen und es steht weiterhin zu befürchten, dass es hier mit fortschreitendem Wachstum des Klägers zu wiederholten Revisionsoperationen an Knochen und Weichteilen kommen wird; lediglich die Befürchtung des Klägers, er könnte in absehbarer Zeit auch noch seine linke Kniescheibe verlieren, ist durch die Beweisaufnahme nicht bestätigt worden. Ausweislich der Ausführungen der Sachverständigen Dr. S auf (kinder-) orthopädischem Fachgebiet waren bisher an den Amputationsstümpfen jährliche Nachoperationen notwendig, zuletzt im September 2016, plastisch-chirurgische Interventionen, bei denen unter anderem Sehnenplastiken vorgenommen wurden, um die Situation an den Unterschenkelstümpfen zu verbessern. Im Laufe der Jahre seit 2011 sind wiederholt Prothesen angefertigt worden, die jedoch bislang nicht zu einer zufriedenstellenden prothetischen Versorgung des Klägers geführt haben, weil es mehrfach zu Druckstellen und Belastungsschmerzen kam. Die orthopädische Sachverständige führt dies auf die schwierigen Stumpfverhältnisse zurück, die durch die im Gutachten näher beschriebene Narbenbildung und die bestehende Beugekontraktur der Kniegelenke geprägt sind. Auf beiden Seiten liegt ein Streck- und Beugedefizit vor. Eine schmerzfreie Belastung ist unter diesen Umständen besonders schwierig zu bewerkstelligen, sie verursacht nicht nur höhere Kosten, sondern stellt auch eine besondere Herausforderung für den Prothesenbauer dar. Das noch nicht abgeschlossene körperliche Wachstum des Klägers erschwert die prothetische Versorgung zusätzlich, weil die Stümpfe hierdurch, namentlich durch unterschiedliches Knochen- und Weichteilwachstum, nicht vorhersehbaren Veränderungen unterworfen sind. Auch hierauf müssen die behandelnden Ärzte jeweils angemessen reagieren. Durch die beidseitige Unterschenkelamputation hat der Kläger mithin nicht nur die Gehfähigkeit ohne Hilfsmittel verloren, sondern auch die prothetische Kompensation erweist sich bislang als schwierig. In beiden Oberschenkeln, rechts lediglich ausgeprägter als links, ist es zu einer Muskelatrophie gekommen. Unabhängig davon sind der Sachverständigen zufolge auch die geklagten Phantomschmerzen und Phantomempfindungen medizinisch nachvollziehbar.

Zudem zeigte sich die rechtsseitige Schultermuskulatur nebst Ober- und Unterarmmuskulatur des Klägers bei der orthopädischen Untersuchung verschmächtigt. Die Bewegungen des rechten Schulter- sowie des rechten Ellenbogengelenks werden als deutlich eingeschränkt beschrieben, darüber hinaus sind das linke Ellenbogengelenk und beide Handgelenke mittelgradig bewegungseingeschränkt. Die vorrangig genutzte rechte Hand ist im Gebrauch nur eingeschränkt dauerbelastbar, was die Sachverständige auf die Bewegungseinschränkung der Nachbargelenke, die durch Narben bedingten Muskelverletzungen und die muskuläre Dysfunktion zurückführt. Es kommt zu rezidivierenden Belastungsschmerzen sowohl der Schultergelenke, rechts mehr als links, als auch der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in die Hüftregion. Die Sachverständige Dr. S hat es überzeugend in ihren gutachterlichen Ausführungen als nachvollziehbar bezeichnet, dass es schon jetzt zu Rückenschmerzen und Hüftbeschwerden kommt, wenn sich der Kläger über längere Strecken ohne Prothesen und lediglich auf „Stubbies“ fortbewegt. Das Beugedefizit im rechten Ellenbogengelenk stellt eine im Alltag spürbare Funktionsbeeinträchtigung, etwa bei der Körperpflege, dar, weil es den Kläger daran hindert, bestimmte Partien des Rückens oder der oberen Schulterregion zu erreichen. Schließlich ist auch ein Anheben des rechten Arms im Schultergelenk über die Horizontale hinaus nicht möglich. An der rechten Hand schränken Narbenzüge den Kläger in der Abspreizung des Ringfingers und des kleinen Fingers geringfügig ein; zudem sind Verwachsungen der Fingernägel vorhanden.

Aus pädiatrischer Sicht hat der Hauptgutachter Dr. L die Behauptung des Klägers bestätigt, dass er aufgrund der ausgedehnten Hautdefekte voraussichtlich sein Leben lang darauf angewiesen sein wird, sich mehrfach täglich einzucremen, um wiederholt auftretenden Entzündungen der Narbenoberfläche nach Möglichkeit vorzubeugen. Dies ist wegen der hochgradigen Zerstörung von Talgdrüsen und Schweißdrüsen sowie der in den betroffenen Hautarealen fehlenden autonomen Regulation erforderlich. Da die großflächig vernarbten Hautareale zudem für eine aktive Regulation der Körpertemperatur nicht mehr zur Verfügung stehen, wird die Körpertemperatur bei dem Kläger durch vermehrtes Schwitzen im Bereich der verbliebenen gesunden Hautareale kompensiert. Soweit im Bereich der Beinstümpfe noch intakte Hautareale vorhanden sind, zeigen auch sie eine deutliche Schwitzneigung, was die prothetische Versorgung weiter erheblich erschwert. Der Gutachter hat zwar den schriftsätzlichen Vortrag, der Kläger sei weiterhin gezwungen, Kompressionskleidung zu tragen, nicht bestätigt; bei inzwischen längst abgeschlossener Defektheilung der Haut sei dies nicht mehr erforderlich, so der Sachverständige Dr. L. Da es sich dabei jedoch lediglich um einen gegenüber den übrigen Gesichtspunkten untergeordneten Aspekt handelt, fällt er bei der im Zuge einer Gesamtbewertung vorzunehmenden Schmerzensgeldbemessung nicht entscheidend ins Gewicht. Dasselbe gilt für die Frage, ob es infolge des Tragens einer Kompressionsmaske zu einer therapiebedürftigen Verformung der Zähne und des Kiefers gekommen ist, was die im Auftrag des Gerichts tätig gewesenen Gutachter nicht zu beurteilen imstande waren. Von der Erhebung weiteren Sachverständigenbeweises hat die Kammer daher mangels Relevanz abgesehen.

Schließlich hat auch der psychologische Teil des Gutachtens vom 18.04.2018, der von dem Psychologen T D erstellt wurde, eine Mehrzahl der vorgetragenen psychischen Auffälligkeiten des Klägers bestätigt. Der Zusatzgutachter hat seinen Feststellungen nicht nur die Schilderung der Eltern des Klägers, ihr Sohn E verfüge über einen Mangel an Selbstvertrauen und leide an starker motorischer Unruhe, einer deutlich reduzierten Ausdauerspanne, deutlich reduzierter Frustrationstoleranz sowie einer Rechtschreibstörung, zugrunde gelegt, sondern auch den Kläger selbst über Fragebögen befragt und mittels psychologischer Tests untersucht sowie Fremdbeurteilungen aus Schule und Kindergarten beigezogen und ausgewertet. Dabei hat er Aufmerksamkeit und Konzentration des Klägers als tendenziell vermindert, den psychomotorischen Antrieb hingegen als erhöht, die Frustrationstoleranz vermindert und die graphomotorischen Fähigkeiten als nicht altersgerecht festgestellt. Die Rechtschreibfähigkeit des Klägers ist unterdurchschnittlich und nicht der Klassennorm entsprechend. Mangelndes Selbstbewusstsein, motorische Unruhe, deutlich reduzierte Ausdauerspanne und Frustrationstoleranz hat der Fachgutachter jedenfalls als Teil einer Traumafolgenstörung klassifiziert und damit den körperlichen Schädigungen und darauf beruhenden Behandlungsmaßnahmen seit Mitte Mai 2011 kausal zugeordnet. Es zeigen sich insoweit abnorme Verhaltensstörungen mit Krankheitswert. Unabhängig davon, ob er der Bescheinigung der behandelnden Psychotherapeutin vom 22.08.2016, bei dem Kläger liege eine posttraumatische Belastungsstörung im Sinne von ICD-10 F43.1 vor, auf Seite 29 des Gutachtens inhaltlich beitritt oder die Fremddiagnose dort lediglich referiert: Zumindest liegt dem Fachgutachter zufolge bei dem Kläger eine traumatisch bedingte Störung vor, auf die er auch das durch ihn selbst beobachtete vermeidende und negierende Antwortverhalten des Klägers auf Fragen symptomatisch zurückführt. Dass sich die festgestellte Rechtschreibstörung ebenfalls klar kausal auf die Gesundheitsbeeinträchtigung von Mitte Mai 2011 und die nachfolgenden Behandlungsmaßnahmen zurückführen lässt, konnte der Sachverständige D hingegen nicht feststellen. Bei der vorliegenden Ausgangslage, wo die Folgen der Erkrankung und Fehlbehandlung zeitlich in eine auch für den Schriftspracherwerb sensitive Entwicklungsphase fallen, ist vielmehr von einem komplexen Zusammenwirken neurobiologischer, genetischer und umweltbedingter Faktoren auszugehen, was eine hinreichend klare kausale Zuschreibung nicht zulässt. Auch ohne dies verbleiben jedoch die oben bereits festgestellten Auffälligkeiten, die die Kammer als ergänzende Gesichtspunkte in die Schmerzensgeldbemessung eingestellt hat.

Mit Blick auf die Zukunft ergibt sich aus dem Gutachten vom 18.04.2018 zur Überzeugung der Kammer, dass der Kläger in seiner Mobilität für sein Leben lang erheblich eingeschränkt bleiben wird, und zwar selbst dann, wenn die sehr schwierige prothetische Versorgung mit Unterschenkelprothesen einmal gelingen sollte. Auch in diesem Fall wird die Ausdauer des Klägers beim Gehen und Laufen erheblich eingeschränkt sein, nicht nur im Hinblick auf längere Gehstrecken im Außenbereich, sondern auch bei zahlreichen Aktivitäten des alltäglichen Lebens in Innenräumen, insbesondere solchen, die mit einem Positionswechsel verbunden sind. Selbst unter optimaler Hilfsmittelversorgung hätte der Kläger noch erhebliche Einschränkungen beim Fahrradfahren, Autofahren, Treppensteigen und bei der Sportausübung zu gewärtigen; sollte sich die Versorgung mit Unterschenkelprothesen hingegen dauerhaft als erfolglos erweisen, was nach dem Gutachten vom 18.04.2018 durchaus denkbar ist, würden sich die beschriebenen Einschränkungen in der Mobilität, körperlichen Aktivität und damit letztlich der Teilhabe noch weitaus größer darstellen. Zugleich würden sich die hieraus ergebenden gesundheitlichen und psychosozialen Folgestörungen potenzieren.

Aus Sicht des psychologischen Fachgutachters D besteht zudem Anlass zu der Befürchtung, dass sich bei dem Kläger ein schwerer Verlauf psychischer Beeinträchtigungen im Laufe seines Lebens und insbesondere in der Pubertät einstellen wird. Der Gutachter hat dies für die Kammer überzeugend abgeleitet aus dem bisherigen psychologischen Krankheitsverlauf, der keine sich linear entwickelnde psychologische Beeinträchtigung, sondern eine wellenförmige psychische Symptomentwicklung zeige, und zwar mit aktuell deutlichen Auffälligkeiten in der gutachterlichen Untersuchung, während es aus dem aktuellen Schulbesuch keine Berichte über Auffälligkeiten gibt, die jedoch zu Beginn der integrativen Kindergartenbetreuung und zunehmend auch aus der Grundschule berichtet wurden. In Forschung und Literatur, so der Gutachter D weiter, gebe es Hinweise, dass Männer und Frauen mit Amputationen der unteren Extremität erhöhte Angst- und depressive Symptome zeigen, die beeinflusst werden durch Schmerzintensität und -häufigkeit sowie durch das Maß der Zufriedenheit mit einer Prothetik. Bei Kindern und Jugendlichen entwickeln sich durch Vernarbungen und Amputationen häufig Ängste, Depressionen und Schamgefühle, die das Entstehen einer affektiven oder kognitiven Störung fördern, wobei besonders in der Phase der Pubertät, in der sich ein gesteigertes Körperbewusstsein einzustellen pflegt, psychische Auswirkungen besonders deutlich werden. Daraus hat der Sachverständige für die Kammer überzeugend abgeleitet, dass der Kläger zum Kreis der Betroffenen gehört, bei denen das Risiko der Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung im Sinne einer andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung (ICD-10 F62.0) erhöht ist.

Dauerhaft ist zudem ernsthaft zu befürchten (und daher auch schon in die Schmerzensgeldbemessung im Rahmen der vorliegenden Entscheidung einzustellen), dass der Kläger in seiner sozialen Kontaktfähigkeit langfristig beeinträchtigt sein wird. Der Gutachter D hat insoweit - wie schon erwähnt - ungünstige negative prädiktive Faktoren identifiziert, die die Wahrscheinlichkeit einer andauernden Verhaltensstörung, etwa im Sinne einer Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung, deutlich erhöhen. Die Schwere der körperlichen Schädigungen und Schmerzzustände mit den hieraus resultierenden erheblichen Einschränkungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens, in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und den hieraus resultierenden erheblichen psychosozialen Folgeschäden führen schließlich zu einer erheblichen Gefährdung der Gesamtentwicklung des Klägers. Der Ausschau auf künftige Entwicklung, die die Gutachter D. und Dr. L. auf Bitten der Kammer auf den letzten Seiten des Gutachtens gehalten haben, lässt sich entnehmen, dass negative Auswirkungen der unmittelbar erlittenen Schädigungen in allen Lebensbereichen zu erwarten sind, so in der persönlichen und emotionalen Entwicklung, der Entwicklung freundschaftlicher und partnerschaftlicher Beziehungen, der Entwicklung beruflicher Perspektiven sowie im Hinblick auf die herabgesetzte Wahrscheinlichkeit einer Familiengründung. Die erlittenen Schädigungen führen bei dem Kläger zwar nicht unmittelbar zu einer eingeschränkten Lebenserwartung, das Risiko potenziell lebenszeitverkürzender Folgeerkrankungen ist jedoch deutlich erhöht. Zu nennen sind den Sachverständigen zufolge hier ein erhöhtes Risiko für Adipositas, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen als mittelbare Folgen der deutlich eingeschränkten Möglichkeiten zu körperlicher Betätigung, ein erhöhtes Risiko für Substanzmissbrauch infolge chronischer Schmerzzustände, erhebliche psychosoziale Belastungen und das erhöhte Risiko für schwere psychische Erkrankungen.

In der gebotenen Zusammenschau aller genannten Beeinträchtigungen auf körperlichem wie psychischem Gebiet erweist sich nach Überzeugung der Kammer, dass es sich um einen extremen Ausnahmefall in der Person eines zum Schädigungszeitpunkt gerade erst fünfjährigen Jungen handelt, der es nicht nur rechtfertigt, sondern auch gebietet, ein Schmerzensgeld von insgesamt 800.000,00 EUR zuzusprechen, auf das sich der Kläger die bereits geleisteten Teilzahlungen im Umfang von 150.000,00 EUR anrechnen lassen muss. Dass der hier zugesprochene Betrag über Schmerzensgeldbeträge hinausgehen mag, die in anderen Fällen des Verlustes beider unterer Extremitäten in vergleichbarem Umfang oder aber bei großflächigen Verbrennungen, die ein ähnliches dauerhaftes äußeres Erscheinungsbild und körperliche Einschränkungen nach sich ziehen, von der Rechtsprechung für angemessen erachtet wurden, ist der Kammer sehr wohl bewusst. Sie hält die Überschreitung hier allerdings für geboten, weil es in der Person des Klägers zu einer Häufung von Schäden gekommen ist, die nach Art und Umfang ihresgleichen sucht. Dieser Häufung von Beeinträchtigungen hat die Kammer bei der Schmerzensgeldbemessung in erster Linie gerecht zu werden; die von der Beklagten geäußerte Sorge, das Schmerzensgeldgefüge könnte durch eine solche Einzelfallentscheidung durcheinandergebracht werden, wird dabei zwar nicht verkannt, sie hat hinter dem individuellen Kompensationsinteresse des Klägers jedoch als lediglich abstrakter Gesichtspunkt zurückzutreten.

Bei der Bemessung des dem Kläger zustehenden Schmerzensgeldes hat die Kammer nicht auch auf die in der Anlage zum Schriftsatz vom 12.01.2016 sowie in Abschnitt VII. des Schriftsatzes vom 14.01.2016 hervorgehobenen Folgen für das Familienleben abgehoben. Entscheidend, ihrer Art und ihrem Gewicht nach aber auch ausreichend zur Begründung des zugesprochenen Schmerzensgeldbetrages sind vielmehr allein die Beeinträchtigungen, die der Kläger selbst unmittelbar durch die grob fehlerhafte Behandlung im Krankenhaus der Beklagten erlitten hat und an denen er sein Leben lang wird leiden müssen.

Die Kammer sieht die Angemessenheit des Schmerzensgeldbetrages durch folgende Kontrollüberlegung bestätigt: Berücksichtigt man, dass der Kläger zum Zeitpunkt des erlittenen Schadens rund fünf Jahre alt war, beläuft sich seine restliche Lebenserwartung auf jedenfalls mehr als achtzig Jahre. Für diese Zeitspanne ist damit zu rechnen, dass er in der oben beschriebenen Weise eingeschränkt sein wird. Teilt man nun den gesamten Schmerzensgeldbetrag (eine Schmerzensgeldrente hat der Kläger nicht beantragt) rechnerisch auf die statistische restliche Lebenserwartung des Klägers auf, bleibt für jedes Jahr ein Betrag von unter 10.000,00 EUR bzw. ein monatlicher Betrag von rund 800,00 EUR. Das erscheint der Kammer angemessen, um dem Kläger im Rahmen des Möglichen eine Genugtuung für den erlittenen Schaden zu verschaffen.

Die Verzinsung des zugesprochenen Schmerzensgeldbetrages ab Rechtshängigkeit der Klage beruht auf §§ 281 Abs. 1 Satz 2; 291 BGB. Dabei hat die Kammer zugrunde gelegt, dass der zuerkannte Schmerzensgeldbetrag bereits mit Zustellung der Klage rechtshängig geworden ist. Der Umstand, dass die Begründung in der Klageschrift vom 14.02.2012 noch von einem Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 350.000,00 EUR spricht und die Mindestbetragsvorstellung erst mit dem nach Rechtskraft des Grundurteils eingereichten Schriftsatz vom 12.01.2016 auf 800.000,00 EUR erhöht wurde, steht dem nicht entgegen. Höchstrichterlicher Rechtsprechung zufolge (vgl. BGH, Urteil vom 30.04.1996, VI ZR 55/95, juris-Rn. 34 ff.) zieht die Angabe eines Mindestbetrages dem Ermessen des Gerichts bei Festsetzung des für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes im Hinblick auf § 308 ZPO keine Grenze nach oben, weshalb auch die Zuerkennung eines den Mindestbetrag beispielsweise um das Doppelte übersteigenden Betrages - wie im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall - noch vom Klageantrag gedeckt ist. Eine Begrenzung des gerichtlichen Ermessens nach oben komme hingegen nur dann in Betracht, wenn der Kläger eine Obergrenze angibt und damit erkennen lässt, dass er die Ausübung des Ermessens nur bis zur Höhe des genannten Betrages begehre. Bei Angabe eines Mindestbetrages sei dies jedoch nicht der Fall. Zugleich hat der Bundesgerichtshof weit verbreiteten Überlegungen in der Literatur, den Betrag mittels eines prozentual bestimmten Rahmens von etwa 20% einzugrenzen, eine Absage erteilt (BGH, a.a.O., bei juris Rn. 40 m.w.N. zur anderen Ansicht). Das rechtfertigt die dem Zinsausspruch zugrundeliegende Annahme der Kammer, ein Schmerzensgeldanspruch in der zuerkannten Höhe sei bereits mit Zustellung der Klageschrift vom 14.02.2012 rechtshängig geworden.

II.
Der Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlich entstandenen Rechtsverfolgungskosten ist als Teil des dem Kläger nach § 249 BGB zu ersetzenden materiellen Schadens ebenfalls nicht nur dem Grund, sondern auch der Höhe nach begründet. Es steht außer Frage, dass die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich war. Der der Gebührenforderung zugrunde gelegte Gegenstandswert von 630.000,00 EUR, der sich aus damaliger Sicht zusammensetzte aus einem Wert von 350.000,00 EUR für den Schmerzensgeldanspruch und weiteren 280.000,00 EUR für die begehrte Feststellung der weitergehenden Ersatzpflicht für die Zukunft, ist nicht zu beanstanden, wobei zur näheren Begründung auf die Ausführungen unter I. dieser Entscheidungsgründe verwiesen werden kann. Keinen Bedenken begegnet es nach Überzeugung der Kammer schließlich, dass die Geschäftsgebühr hier mit einem Satz von 2,0 belegt worden ist. Nicht nur die Komplexität des Sachverhalts in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht, die zudem durch den Gang dieses Rechtsstreits im Nachhinein bestätigt worden ist, sondern auch die herausragende Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger rechtfertigen die Überschreitung der Mittelgebühr. Unter Einschluss der Pauschale für Post und Telekommunikation (Nr. 7002 RVG-VV) und der im Falle des Klägers anfallenden Umsatzsteuer (Nr. 7008 RVG-VV) ergibt sich auf der Grundlage eines Gegenstandswertes von 630.000,00 EUR und einer 2,0-Geschäftsgebühr eine Zahlungsverpflichtung des Klägers gegenüber seinen heutigen Prozessbevollmächtigten in Höhe von 8.225,28 EUR.

III.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1 Satz 1; 709 Satz 1 und 2 ZPO.