Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 05.12.2001, Az.: L 2 RI 240/01

Verstoß eines Gerichts gegen die Pflicht den berufskundlichen Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen als Urteilsaufhebungsgrund; Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
05.12.2001
Aktenzeichen
L 2 RI 240/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 15855
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:1205.L2RI240.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 27.07.2001 - AZ: S 15 RI 190/99

Prozessführer

XXX

Prozessgegner

Landesversicherungsanstalt Hannover,

die Geschäftsführung, Lange Weihe 2/4, 30880 Laatzen,

hat der 2. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

ohne mündliche Verhandlung am 5. Dezember 2001

durch

den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. C.,

den Richter am Landessozialgericht D. und

den Richter am Sozialgericht E. sowie

die ehrenamtlichen Richter F. und G.

für Recht erkannt:

Tenor:

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 27. Juli 2001 wird aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

2

Der im Mai 1948 geborene Kläger erlernte den Beruf eines Kfz-Schlossers. Nach Tätigkeit im erlernten Beruf bis November 1980 trat er im Dezember 1980 in den Dienst der Deutschen Bundespost (DBP), die ihn bis zum 2. Juli 1995 in der Kfz-Instandhaltung beschäftigte. Infolge Auflösung der fahrzeugtechnischen Abteilung nach Überführung des Sondervermögens DBP in eine Aktiengesellschaft (AG) wurde der Kläger dort vom 3. Juli 1995 an als Frachtzusteller mit Führerschein Klasse 3 für Frachten bis 30 kg Gewicht eingesetzt und sodann vom 1. August 1997 an aus organisatorischen Gründen in den Innendienst der Deutschen Post AG (Post AG) umgesetzt. Zuletzt erfolgte bis August 1998 ein Einsatz im Fahrdienst. AbMitte Oktober 1998 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Sein Beschäftigungsverhältnis wurde wegen Postdienstunfähigkeit beendet. Nach Angaben der Post AG wurde der Kläger nach Lohngruppe 7 a des TV DBP/TV Arb. (TV) entlohnt.

3

Am 4. November 1998 beantragte der Kläger Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte zog einen Bericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. H. nebst ärztlichen Unterlagen bei und ließ den Kläger durch ihren ChirurgenDr. I. begutachten. Dieser diagnostizierte im wesentlichen ein LWS-Syndrom nach 1995 operiertem BandscheibenvorfallL2/L3undeinerheumatoide Fingergelenksaffektion ohne Funktionseinschränkung (Gutachten vom 20. Januar 1999).

4

Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 1. Februar 1999 ab.

5

Im Vorverfahren zog die Beklagte die Auskunft der Post AG vom 18. März 1999 nebst Ergänzung vom17. Mai 1999 bei und bestätigte ihre Entscheidung mit Hinweis auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit im Innendienst der Post AG. Sie war der Auffassung, der Kläger müsse sich auf angelernte Tätigkeiten als Güteprüfer/Fertigungskontrolleur in der Automobilindustrie, Warenausfahrer für leichte Waren wie Arzneimittel oder Tabakwaren, als Endkontrolleur und Registrator oder Tankstellenkassierer verweisen lassen (Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1999).

6

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Osnabrück Gutachten des Orthopäden und Chirurgen Dr. J. vom 14. Dezember 1999 und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. vom 26. Oktober 2000 eingeholt und die Klage durch Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2001 abgewiesen. Zur Begründung hat es auf das von den Sachverständigen angenommene vollschichtige Restleistungsvermögen für körperlich leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten mit überwiegendem sitzenden Anteil und der Möglichkeit zum regelmäßigen Wechsel innerhalb der drei Haltungsarten hingewiesen. Damit sei der Kläger nicht als berufsunfähig anzusehen. Er müsse sich zumutbar auf andere Facharbeiten bzw. angelernte Tätigkeiten verweisen lassen, die seinem Leistungsvermögen entsprächen und die sich durch erhöhte Forderungen an Verantwortung, Zuverlässigkeit oder Erfahrung oder durch höhere tarifliche Einstufung aus dem Kreis der einfach angelernten Tätigkeiten hervorhöben. Die Beklagte habe den Kläger zutreffend auf Tätigkeiten eines Güteprüfers/Fertigungskontrolleurs in der Automobilindustrie bzw. Registrator oder Tankstellenkassierer verwiesen. Gegen diese Verweisungstätigkeiten habe der Kläger keine substantiierten Einwendungen erhoben. Sein Begehren, Erwerbsunfähigkeitsrente zu zahlen, scheitere an dem noch vorhandenen Restleistungsvermögen für vollschichtige Tätigkeiten.

7

Der Kläger rügt im Berufungsverfahren, dass grundlegende berufskundliche Feststellungen im erstinstanzlichen Verfahren nicht getroffen worden seien. Der Gerichtsbescheid enthalte keine Angaben über die gesundheitlichen Anforderungen der benannten Verweisungstätigkeiten, so dass er sich mit den Ablehnungsgründen nicht fundiert habe auseinander setzen können. Die Tätigkeit eines Güteprüfers/Fertigungskontrolleurs in der Automobilindustrie verlange EDV-Kenntnisse, die er nicht habe. Ob er sich solche Kenntnisse innerhalb von drei Monaten aneignen könne, sei zweifelhaft. Die Tätigkeit eines Warenausfahrers für leichte Waren sei eine ungelernte Tätigkeit. Sie könne ihm ebensowenig zugemutet werden wie die Tätigkeit eines Registrators, die nicht seinem Restleistungsvermögen entspreche.

8

Der Kläger, der mit Wirkung vom 1. Januar 1999 Postbetriebsrente bezieht, beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 27. Juli 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 1. Februar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 1999 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Januar 1999 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,
    hilfsweise,
    Rente wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren,

  3. 3.

    weiter hilfsweise, ein berufskundliches Gutachten zur Frage der Verweisbarkeit einzuholen.

9

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

10

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

11

Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren einen Befundbericht des Dr. H. vom 13. November 2001 beigezogen.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

13

Außer der Gerichtsakte haben die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Die Vorgänge waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.

Entscheidungsgründe

14

Die nach § 143 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig. Der Senat hat hierüber durch Urteil ohne vorherige mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entscheiden können, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.

15

Das Rechtsmittel ist auch im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils unter Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht (SG) begründet, weil das Klageverfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs. 2 SGG). Das SG Osnabrück hat hier in erheblichem Umfang gegen seine Pflicht verstoßen, den berufskundlichen Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG). Es hat das hilfsweise vom Kläger geltend gemachte Rentenbegehren abgelehnt, ohne den bisherigen Beruf festzustellen und dessen Wertigkeit im Rahmen des vom Bundessozialgericht entwickelten Mehrstufenschemas zur qualitativen Einstufung der Arbeiterberufe zu bestimmen. Gedrängt fühlen müssen hätte es sich ferner, sodann abzuklären, ob die schon im Vorverfahren benannten Verweisungstätigkeiten ein Anforderungsprofil haben, dem der Kläger mit seinem Restleistungsvermögen noch gewachsen wäre.

16

Das SG hätte nicht offen lassen dürfen, ob die Tätigkeit im erlernten Kfz-Schlosser-Beruf, die nachfolgende Tätigkeit als Frachtzusteller mit Führerscheinklasse 3 oder diejenige im Innendienst der Post AG, die zudem noch präzisiert werden muss, als bisheriger Beruf im Sinne von § 43 Abs. 2 SGB VI in der hier noch anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 2. Mai 1996 (BGBl I, 659 - SGB VI aF) anzusehen ist. Das hängt davon ab, ob eine Lösung von dem der Stufe des Facharbeiters zuzuordnenden Kfz-Schlosser-Beruf erfolgt ist oder nicht (vgl. dazu auch BSG Urt. vom 04.11.1998 - B 13 RI 95/97 R).

17

Wenn das SG sodann die Tätigkeit des Frachtzustellers oder die noch näher zu bestimmende Tätigkeit im Postinnendienst als bisherigen Beruf ansehen will, wird es bei der Beurteilung der qualitativen Wertigkeit des Berufes für den Betrieb der Post AG auch die Einstufung durch die Parteien des Tarifvertrages zu berücksichtigen haben, der beim Ausscheiden des Klägers aus dem Betrieb für Arbeiter der Post AG Mitte Oktober 1998 gegolten hat. Dabei wird es zusätzlich abzuklären haben, ob diese Einstufung auf qualitätsfremden Merkmalen, wie z.B. auf einem Bewährungsaufstieg, beruht hat.

18

Sofern sich danach ergibt, dass der bisherige Beruf des Klägers der Gruppe der Facharbeiter oder der Angelernten im oberen Bereich zugeordnet werden kann, wird sich das SG nicht damit begnügen dürfen, auf im Widerspruchsbescheid aufgeführte Tätigkeiten mit der Begründung zu verweisen, der Kläger habe gegen die von der Beklagten benannten Tätigkeiten keine Einwendungen erhoben. Das widerspricht dem im SGG geltenden Amtsermittlungsprinzip (§ 103 SGG). Das SG wird vielmehr die Anforderungsprofile in Aussicht genommener Verweisungstätigkeiten und deren Wertigkeit abzuklären und aufzuzeigen haben, dass diese Tätigkeiten dem Restleistungsvermögen des Klägers für körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im regelmäßigen Wechsel der drei Haltungsarten bei überwiegend sitzender Tätigkeit entsprechen und weshalb sie ihm in Anwendung des vom BSG für die Beurteilung der qualitativen Wertigkeit der Arbeiterberufe entwickelten Mehrstufenschemas zugemutet werden können.

19

Als Mittel zur Erlangung der dafür erforderlichen eigenen Sachkunde sind vor allem die Einholung von Gutachten berufskundlicher Sachverständiger sowie die Beiziehung und Auswertung von geeigneten Gutachten zu nennen, die in anderen Gerichtsverfahren mit berufskundlicher Fragestellung erstattet wurden. In diesem Zusammenhang ist auch auf die im Internet unter www.sgurteile.de zugängliche Datenbank hinzuweisen, in die zunehmend Urteile eingestellt werden, die unter Auswertung berufskundlicher Gutachten beschlossen wurden.

20

Die Zurückverweisung und die erneute Entscheidung durch das SG Osnabrück erscheinen zweckmäßig, zumal die aufgezeigten Verfahrensmängel vom Senat ohne aufwendige Sachverhaltsaufklärung nicht behoben werden könnten. Bei Abwägung des Interesses der Beteiligten an einer Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits und dem Schutz der Beteiligten vor dem drohenden Verlust einer Instanz andererseits war dem zuletzt genannten Gesichtspunkt Vorrang einzuräumen.

21

Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten in diesem Verfahren bleibt dem SG vorbehalten.