Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 18.11.2003, Az.: S 16 KR 1/03

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
18.11.2003
Aktenzeichen
S 16 KR 1/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 40138
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2003:1118.S16KR1.03.0A

In dem Rechtsstreit

...

hat die 16. Kammer des Sozialgerichts Lüneburg

auf die mündliche Verhandlung vom 18. November 2003 durch

die Richterin am Sozialgericht Maiworm - Vorsitzende -,

sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Werner-Pallasch und Molkentin

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Die Klage wird abgewiesen.

  2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

TATBESTAND

1

Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für einen schwenkbaren Autobeifahrersitz.

2

Die 1943 geborene Klägerin leidet an multipler Sklerose. Sie ist bereits mit zwei Rollstühlen versorgt. Zudem wurden ihr durch die Beklagte am 27.04.2001 Kosten für einen Autoschwenksitz in Höhe von 9 591,33 DM erstattet.

3

Den hier streitbefangenen Antrag auf einen schwenkbaren Beifahrerautositz bei schwerer zentraler Bewegungsstörung bei Encephalomyelitis disseminata stellte die Klägerin am 04.07.02 unter Bezugnahme auf die Verordnung der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. R.... vom 01.07.2002. Sie führte darin aus, dass in ihrem alten Pkw die Türöffnung zu klein und durch eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes es immer schwieriger gewesen sei, ins Auto hineinzukommen. Sie legte einen Kostenvoranschlag der Firma Griep-west Behindertentechnik vom 25.06.2002 in Höhe von 3 124,05 € bei. Mit Bescheid vom 09.07.2002 wurde der Antrag abgelehnt. Bei dem schwenkbaren Autositz handele es sich nicht um ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung, da dieser nicht dazu diene, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Im Widerspruchsverfahren führte die Klägerin aus, sie sei auf den Transport durch den Pkw angewiesen, da monatlich in Hannover die Baclofen-Pumpe, die ihr eingesetzt worden sei, aufgefüllt werden müsse, da dieses an ihrem Heimatort nicht möglich sei. Auch möchte sie weiter am kulturellen Leben teilnehmen. Die Beklagte gab daraufhin ein MDKN-Gutachten in Auftrag, das Dr. P.... am 14.08.2002 erstellte. Dr. Perlitz führte darin aus, dass die verloren gegangene Gehfähigkeit in ausreichendem Maße durch die beiden vorhandenen Rollstühle und einen elektrischen Aufrichtrollstuhl ausgeglichen sei. Bei dem behindertengerechten Pkw-Umbau handele es sich nicht um ein Hilfsmittel zu Lasten der Versichertengemeinschaft, sondern um ein Mittel zur sozialen Integration, wobei hier erforderlichenfalls andere Kostenträger zuständig seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.12.2002 wurde unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgericht ( BSG) vom 06.08.1998 -B 3 KR 3/97 R  - der Kostenübernahmeantrag abgelehnt. Die Möglichkeit ein Auto benutzen zu können sei keine körperliche Grundfunktion, die durch Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung wieder herzustellen sei, sondern Teil der sozialen oder beruflichen Eingliederung Behinderter, für die andere Sozialleistungsträger zuständig seien.

4

Im Klageverfahren verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter und meint, sehr wohl einen Anspruch auf Kostenübernahme des schwenkbaren Autobeifahrersitzes zu haben. Zum einen verweist sie auf eine Bindungsverpflichtung der Beklagten, die sich aus der Kostenübernahme im Jahre 2001 ergebe, zum anderen auf ihren verschlechterten Gesundheitszustand, der einen neuen PKW erforderlich gemacht habe. Im Übrigen sei der Sitz zwischenzeitlich eingebaut worden Rechnung vom 30.09.03).

5

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Bescheid vom 09.07.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2002 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr auf ihren Antrag vom 04.07.2002 Kosten für einen schwenkbaren Autositz in Höhe von 3 061,57 € zu erstatten.

6

Die Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

7

Sie bezieht sich im Wesentlichen auf den angefochtenen Bescheid und die zugrunde liegende BSG Rechtsprechung.

8

Außer der Gerichtsakte war die Beklagtenakte, die Klägerin betreffend, Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Auf ihren Inhalt wird wegen des weiteren Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

9

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig.

10

Die Klage ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 09.07.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2002 eine Kostenübernahme für einen schwenkbaren Beifahrersitz abgelehnt.

11

Nach § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) sind grundsätzlich Kosten für selbstbeschaffte Leistungen in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit eine Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und die Leistung notwendig war.

12

Das ist hier nicht der Fall, denn der Schwenksitz gehört nicht zu den von der Krankenkasse zu gewährenden Hilfsmitteln.

13

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmitteln nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V durch Rechtsverordnung ausgeschlossen sind.

14

Der schwenkbare Beifahrersitz ist zwar kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, sondern ein speziell für Behinderte entwickelter Sitz, der es der Klägerin ermöglicht, ohne größere Probleme als Beifahrerin in einen Pkw einsteigen zu können. Er ist auch nicht durch Rechtsverordnung nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen.

15

Der schwenkbare Beifahrersitz ist aber für die Klägerin nicht im Einzelfall erforderlich, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen.

16

Ein Hilfsmittel gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 3. August 1998, B 3 KR 3/97 R) erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Nach der Rechtsprechung gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Körperpflege, selbständiges Wohnen sowie Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Das hier in Betracht kommende Grundbedürfnis des Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraums hat die Rechtsprechung bislang immer nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden verstanden (vgl. BSG a.a.O.). Dabei hat das Bundessozialgericht das Grundbedürfnis auf Bewegung und körperlichen Freiraum in zahlreichen Entscheidungen auf den Nahbereich beschränkt (vgl. BSG vom 26.03.2003 Az. B 3 KR 23/02 R mit weiteren Nachweisen), wonach zu den maßgeblichen vitalen Bedürfnissen im Bereich des Gehens nur die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft zu kommen oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind, gehören (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7, 27 und 29). Hieraus folgt für das Gericht, dass bei Vertust der Gehfähigkeit ein Basisausgleich zu schaffen ist, dem die Beklagte durch die zur Verfügung stellenden von zwei Rollstühlen nachgekommen ist, jedoch ein schwenkbarer Autositz nicht erforderlich ist, um dem Grundbedürfnis auf Bewegung nachzukommen.

17

Hat das BSG ausnahmsweise einen größeren Radius als über das zu Fuß erreichbare anerkannt, sind bei diesen Entscheidungen zusätzliche qualitative Momente verlangt worden. So diente zum einen ein Fahrrad als Integrationsmittel eines Jugendlichen, zum anderen ein Faltrollstuhl zur Ermöglichung eines Schulbesuchs (vgl. B SKR 9/97 R und B 11 RK 7/78 und B 3 KR 3/97 R).

18

Hat das BSG in seiner Entscheidung vom 26.02.1991 Az.: 8 RKn 13/90 ausnahmsweise auch einen schwenkbaren Beifahrersitz als ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung für möglich erachtet, hat es ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Hilfsmitteleigenschaft nur bei Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse und Lebensbetätigungen bejaht werden könne, sofern die vorhandene Ausstattung mit einem Rollstuhl und die Übernahme der Krankenfahrten zur Gewährleistung eines hinreichenden Bewegungsspielraumes also noch nicht ausreichend waren. Da hierzu keine hinreichenden Ermittlungen durchgeführt wurden, wurde der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen. Damit ist jedoch nach der Rspr. des BSG, dem die Kammer gefolgt ist, nicht die mit der Benutzung eines PKW verbundene Bewegungsfreiheit allgemein als Grundbedürfnis anerkannt worden (vgl. BSG vom 26.03.03, Az: B3 KR 23/02 R). Dies ergibt sich auch aus der Entscheidung vom 06.08.1998 (B 3 KR 3/97 R). Darin hatte es der Senat fraglich gehalten, ob der Entscheidung vom 26.02.1991 zu folgen ist und sogar in dieser Entscheidung das selbständige Fahren eines Autos nicht als elementares Grundbedürfnis anerkannt.

19

Führt die Klägerin nun aus, dass sie den Schwenksitz benötige, um mit dem eigenen Wagen zu ihrem Arzt in H.... gebracht zu werden, da an ihrem Heimatort eine notwendige Behandlung nicht durchgeführt werden könne, legte das Bundessozialgericht in einer Entscheidung vom 11.04.2002, Az.: B 3 P 10/01 dar, dass grundsätzlich die Krankenkassen für gesetzlich Krankenversicherte die Kosten für Fahrten, die im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse notwendig sind, zu übernehmen haben. Dies ergibt sich aus § 60 SGB V. Erneut hatte das Gericht auch in dieser Entscheidung auf seine Rechtsprechung hingewiesen, das die behindertengerechte Ausstattung eines Kfz kein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung sei.

20

Schließlich kann die Klägerin keinen Anspruch daraus herleiten, dass bereits im Jahre 2001 Kosten für einen schwenkbaren Autositz übernommen wurden. Es hat sich hierbei um eine Einzelfallentscheidung gehandelt, die eine Bindungswirkung nicht erzeugt. Die Beklagte ist den gesetzlichen Vorschriften unterworfen, nach der eine Kostenübernahme nicht in Betracht kommt.

21

Aus alledem folgt somit, dass eine Kostenerstattung nach der Rechtsprechung des BSG, der die Kammer sich angeschlossen hat, nicht in Betracht kommt mit der Folge, dass die Klage abgewiesen werden musste.

22

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Maiworm
Werner-Pallasch
Molkentin