Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.10.2001, Az.: 12 LB 2908/01

Bindungswirkung; Einsetzen; Einsetzen der Sozialhilfe; Hilfe zur Pflege; Kenntnis; Kenntnisgrundsatz; Pflegebedürftigkeit; Pflegekasse; Rückwirkung; Sozialhilfe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
25.10.2001
Aktenzeichen
12 LB 2908/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40354
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 09.07.2001 - AZ: 2 A 2320/00

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die nach § 68a BSHG bestehende Bindungswirkung einer mit Rückwirkung getroffenen Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit lässt den zu den Strukturprinzipien des Sozialhilferechts zählende Kenntnisgrundsatz (§ 5 Abs. 1 BSHG) unberührt und rechtfertigt es deshalb nicht, im Nachhinein weitere Hilfe zur Pflege für Zeiträume zu gewähren, in denen dem Träger der Sozialhilfe die von der Pflegekasse nachträglich anerkannte erhöhte Pflegebedürftigkeit des Hilfeempfängers unbekannt war.

Tatbestand:

1

Die am 5. September 1935 geborene pflegebedürftige Klägerin bewohnt ein Alten- und Pflegeheim des H.-E.-Stift e.V. und erhält von dem Beklagten Hilfe zur Pflege in Heimen nach dem Bundessozialhilfegesetz -- BSHG. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte der Bemessung seiner Hilfe für den Zeitraum vom 22. April bis einschließlich 2. September 1999 zugrunde legen durfte, die Klägerin sei Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige), oder ob er in Anknüpfung an eine mit Rückwirkung getroffene Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit der Klägerin letztere bereits als Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) hätte betrachten müssen. Mit ihrer Klage macht die Klägerin den Mehrbetrag an Hilfe zur Pflege geltend, den ihr der Beklagte auf der Grundlage seiner -- von ihr für unrichtig gehaltenen -- Rechtsmeinung versagt hat.

2

Unter dem 22. April 1999 stellte die Klägerin vertreten durch die hierzu durch den Betreuer der Klägerin bevollmächtigte Heimleiterin Frau P. einen am 23. April 1999 bei der Pflegekasse eingegangenen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung, mit dem eine Höherstufung auf Stufe III begehrt wurde. Auf der Rückseite des Antragsformulars ist an der Stelle, wo Angaben des Inhalts vorgesehen sind, "Ich erhalte bereits Pflegeleistungen in Gestalt (Hinzufügung des Senats) von Leistungen vom Sozialhilfeträger", ein Kreuz nicht gesetzt. Angekreuzt ist allerdings die Passage des Formulartextes, die lautet: "Falls der Sozialhilfeträger das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zur Prüfung seiner Leistungspflicht benötigt, stimme ich der Weitergabe des Gutachtens an den Sozialhilfeträger zu."

3

Am 13. Juli 1999 wurde die Klägerin durch eine Pflegefachkraft des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Pflegebedürftigkeit begutachtet. In ihrem Gutachten empfahl die Gutachterin, die Klägerin seit dem Höherstufungsantrag vom 22. April 1999 in die Pflegestufe III einzustufen. Zur Begründung führte die Gutachterin zusammenfassend aus, aufgrund der schweren Mobilitätseinschränkungen müsse die körpernahe Versorgung fast vollständig vom Pflegepersonal übernommen werden. Die Versicherte werde aktivierend gepflegt, was besonders zeitaufwendig sei. Die Vorgaben der Pflegestufe III seien erfüllt. Regelmäßige nächtliche Versorgung beim Reichen von Getränken und Nykturie sei notwendig.

4

Durch Bescheid vom 19. August 1999 teilte die Pflegekasse bei der AOK der Klägerin mit, dass nach dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung bei ihr die Voraussetzungen der Pflegestufe III vorlägen. Man zahle ab dem 22. April 1999 an ihr Pflegeheim 75 % des Heimentgeltes. Sofern das Heimentgelt 3.733,33 DM übersteige, leiste man den pauschalen monatlichen Höchstbetrag von 2.800,00 DM.

5

Eine Kopie dieses Bescheides wurde dem Beklagten mit Kurzbrief vom 1. September 1999 zur Kenntnisnahme zugeleitet und ging dort am 3. September 1999 ein.

6

Mit Bescheid vom 7. September 1999 gab der Beklagte der Klägerin bekannt, dass ihre Einstufung durch die Pflegekasse in die Pflegestufe III für die Zeit ab dem 22. April 1999 bedeute, dass die Heimkosten für die Zeit ab dem 3. September 1999 (Bekanntwerden) entsprechend der Pflegestufe III abgerechnet würden. Die Heimkosten würden sich wie folgt zusammensetzen:

7
Hotelkostenanteil täglich41,21 DM
Pflegekostenanteil täglich145,75 DM
Investitionskosten monatlich384,60 DM.
8

Eine Rechtsbehelfsbelehrung war diesem Bescheid nicht beigegeben.

9

Am 12. Juli 2000 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 7. September 1999 und beantragte, die Leistungen für die Hilfe zur Pflege in Heimen entsprechend der Pflegestufe III bereits ab dem 22. April 1999 zu gewähren. Zur Begründung führte sie aus, diese Leistungen seien nicht erst ab dem Bekanntwerden (der Schwerstpflegebedürftigkeit), sondern ab dem im Bescheid der Pflegekasse genannten Datum für die Höherstufung geschuldet. Im Übrigen sei dem Beklagten bereits bekannt gewesen, dass die Voraussetzungen für die erhöhten Leistungen vorlägen.

10

Mit Widerspruchsbescheid vom 6. November 2000 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Zur Begründung berief er sich darauf, dass nach § 5 BSHG die Sozialhilfe einsetze, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt werde, dass die Voraussetzungen für ihre Gewährung vorlägen. Sozialhilfe sei danach nicht für Zeiträume vor dem Bekanntwerden dieser Voraussetzungen zu leisten und werde der Klägerin nur für den gegenwärtigen Bedarf gewährt. Weder der Betreuer der Klägerin noch das H.-E.-Stift hätten mitgeteilt, dass für die Klägerin ein Höherstufungsantrag bei der zuständigen Pflegekasse gestellt worden sei, so dass ihm, dem Beklagten, erst am 3. September 1999 durch die Zusendung des Bescheides der Pflegekasse bekannt geworden sei, dass man die Klägerin in die Pflegestufe III eingestuft habe. Daher erfolge die Kostenübernahme aus Sozialhilfemitteln in dem angegriffenen Bescheid erst ab diesem Datum. Zwar sei in § 68a BSHG eine Bindungswirkung geregelt, die sich auf die Einstufung in eine Pflegestufe beziehe, diese Bindungswirkung betreffe aber lediglich die Beurteilung der Tatsachen, die der Einstufung zugrunde lägen, und habe mit der in § 5 BSHG als Voraussetzung der für die Gewährung von Sozialhilfe geregelten Kenntniserlangung nichts zu tun. Im Übrigen habe die Pflegekasse erst mit Bescheid vom 19. August 1999 die Voraussetzungen für die Gewährung der Pflegestufe III festgestellt. Daraus folge, dass die Einrichtung des H.-E.-Stiftes zumindest bis zu diesem Zeitpunkt ihre Pflege auf der Basis der Pflegestufe II erbracht haben werde. Diese Leistung sei der Einrichtung entsprechend vergütet worden. Der Bedarf der Klägerin sei gedeckt gewesen.

11

Am 5. Dezember 2000 hat die Klägerin den Verwaltungsrechtsweg beschritten.

12

Das Verwaltungsgericht hat durch Auslegung den Streitgegenstand des Prozesses dahingehend bestimmt, dass die Klägerin begehre, den Beklagten unter entsprechender Änderung seines Bescheides vom 7. September 1999 und Aufhebung seines Widerspruchsbescheides vom 6. November 2000 zu verpflichten, ihr für den Zeitraum vom 22. April 1999 bis zum 2. September 1999 weitere Hilfe zur Pflege in Höhe von 5.372,23 DM zu gewähren. Es hat der Klage durch das angefochtene Urteil vom 9. Juli 2001 in Höhe von 5.273,23 DM stattgegeben und zur Begründung dieser Entscheidung ausgeführt: Entgegen dem Vorbringen des Beklagten sei zu unterstellen, dass das Heim der Klägerin gegenüber die Pflegeleistungen erbracht habe, die ihr Gesundheitszustand erfordert habe und die durch den entsprechenden Einstufungsbescheid der Pflegeversicherung rückwirkend als erforderlich festgestellt worden seien. Deshalb sei für den streitigen Zeitraum von einem Bedarf der Klägerin an den geforderten höheren Leistungen der Hilfe zur Pflege auszugehen. Dem entsprechenden Anspruch der Klägerin stehe die Vorschrift des § 5 Abs. 1 BSHG nicht entgegen, weil sie durch die speziellere Norm des § 68a BSHG verdrängt werde. Auf ein solches Verhältnis der Spezialität zwischen beiden Vorschriften sei zu schließen, wenn man sich vergegenwärtige, dass die von dem Beklagten vermisste frühzeitige Information über den Höherstufungsantrag überflüssig sei, weil sie weder eine rechtliche Verpflichtung noch Möglichkeit des Trägers der Sozialhilfe begründet hätte, seine Leistungen im Hinblick auf einen gesteigerten Bedarf der Klägerin zu erhöhen. Vielmehr hätte der Beklagte, selbst wenn er eine entsprechende Mitteilung erhalten hätte, die Entscheidung der Pflegekasse über den Antrag auf Höherstufung abwarten müssen.

13

Mit Beschluss vom 27. August 2001 -- 12 LA 2648/01 -- hat der Senat auf Antrag des Beklagten wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen.

14

Zwischen den Beteiligten ist mittlerweile unstreitig geworden, dass die Klägerin in dem streitbefangenen Zeitraum vom 22. April 1999 bis einschließlich 2. September 1999 eine der Pflegestufe III im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 3 des Elften Buches Sozialgesetzbuch -- SGB XI -- entsprechende Pflege erhalten hat.

15

Zur Begründung seiner Berufung macht der Beklagte geltend: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts greife die Bindungswirkung des § 68a BSHG nicht ein, soweit eine Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit mit Rückwirkung und damit nach Maßgabe des § 5 BSHG für vergangene Zeitabschnitte erfolge. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen sei vielmehr davon auszugehen, dass es nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zwecksetzung des § 68a BSHG keinen Anhalt dafür gebe, dass der Gesetzgeber mit der durch die Norm angeordneten Bindungswirkung den das Sozialhilferecht prägenden und von dem Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung hervorgehobenen Grundsatz, dass die Sozialhilfe dazu diene, eine gegenwärtige Notlage zu beheben, bei der Gewährung der Hilfe zur Pflege zugunsten einer § 5 BSHG zuwiderlaufenden "rückwirkenden" Bewilligung habe durchbrechen wollen. Der somit anwendbare § 5 BSHG lasse jedoch im vorliegenden Falle eine weitergehende Hilfegewährung für den streitbefangenen Zeitraum nicht zu, weil er, der Beklagte, Kenntnis von dem erhöhten Bedarf der Klägerin erst mit dem Eingang der Mitteilung der Pflegekasse über die rückwirkende Höherstufung am 3. September 1999 erlangt habe. § 5 BSHG fordere eine inhaltlich qualifizierte Kenntnis. Hierfür reiche es nicht aus, dass er, der Beklagte, bereits vorher infolge der sozialhilferechtlichen Betreuung der Klägerin gewusst habe, dass diese (schwer) pflegebedürftig und eine Verbesserung ihres Pflegezustandes nicht zu erwarten gewesen sei. Das Urteil des Verwaltungsgerichts erweise sich auch nicht auf der Grundlage des § 16 Abs. 2 Satz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch -- SGB I -- als richtig, weil die Klägerin bei der Pflegekasse einen Antrag auf Sozialhilfe nicht gestellt habe, die Pflegekasse weder über das Einkommensverhältnisse noch die Vermögenslage der Klägerin informiert gewesen sei und die genannte Vorschrift ohnehin nicht bezwecke, dass die Sozialhilfe schon einsetze, sobald irgendeiner Behörde die Voraussetzungen für die Hilfegewährung bekannt würden. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin den Heimvertrag auf der Grundlage eines Pflegesatzes der Pflegestufe II abgeschlossen habe. Die rückwirkenden Berücksichtigung der Höherstufung komme auch deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin dem Heim eine Leistung nicht zu vergüten habe, die vertraglich nicht geschuldet gewesen sei.

16

Der Beklagte beantragt,

17

das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 09.07.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen;

18

hilfsweise die Revision zuzulassen.

19

Die Klägerin beantragt,

20

die Berufung zurückzuweisen;

21

hilfsweise die Revision zuzulassen.

22

Sie tritt dem Beklagten wie folgt entgegen: Die mit der Klage geltend gemachte Forderung von 5.372,23 DM sei die Summe der für den streitbefangenen Zeitraum aufaddierten Differenzen zwischen den täglichen pflegebedingten Entgelten der Stufen II und III. Nach § 4 Abs. 3, Abs. 6 Satz 6 und Abs. 7 des in Ablichtung überreichten Heimvertrages vom 18. April 1999 schulde sie der Pflegeeinrichtung diesen Mehrbetrag an Vergütung für die in dem streitbefangenen Zeitraum über die Pflegestufe II hinaus erbrachte intensivere Pflege. Der Beklagte sei folglich auch für die Zeit vom 22. April bis 2. September 1999 verpflichtet, in die Berechnung der Hilfe zur Pflege statt des pflegebedingten Entgelts für die Stufe II von 105,26 DM je Tag dasjenige für die Stufe III von 145,75 DM je Tag einzustellen. Diese Verpflichtung ergebe sich aus § 68a BSHG, der eine Bindungswirkung der Entscheidung der Pflegekasse für den Sozialhilfeträger auch hinsichtlich des Zeitpunkts der Höherstufung anordne. Der Begriff "Ausmaß" der Pflegebedürftigkeit umfasse nämlich unter anderem deren zeitliche Erstreckung. Es sei widersprüchlich, dass der Beklagte allein die ihm günstigen Folgen der nachträglichen Höherstufung berücksichtige, indem er die rückwirkend gewährten Leistungen der Pflegekasse in seine Berechnungen der Hilfe zur Pflege einstelle, nicht aber bereit sei, für den streitbefangenen Zeitraum die durch die gesteigerte Pflegebedürftigkeit bedingte Bedarfserhöhung als solche anzuerkennen. Davon abgesehen sei ihre, der Klägerin, gesteigerte Bedürftigkeit dem Beklagten bereits deshalb vor der Übersendung des Bescheides der Pflegekasse im Sinne von § 5 BSHG bekannt gewesen, weil er ihr seit langem Hilfe zur Pflege gewährt habe. Er könne sich daher nicht darauf berufen, erstmals durch einen offiziellen Akt Kenntnis von ihrer Pflegebedürftigkeit gemäß Pflegestufe III erhalten haben zu wollen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts erweise sich ferner bereits auf der Grundlage des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I als richtig, weil die Pflegekasse über ihren, der Klägerin, gesteigerten sozialhilferechtlichen Bedarf informiert gewesen sei. Im Übrigen habe die Pflegekasse sie nicht darauf aufmerksam gemacht, dass sie zur Vermeidung von Rechtsnachteilen auch den Beklagten von ihrem Antrag auf Höherstufung hätte unterrichten müssen. Sollte eine solche Unterrichtung tatsächlich erforderlich gewesen sein, habe die Pflegekasse einen rechtlich gebotenen Hinweis verabsäumt. Dieses Versäumnis sei dem Träger der Sozialhilfe zuzurechnen und hieran anknüpfend im Rahmen des § 5 BSHG jedenfalls von einem auf den gesteigerten sozialhilferechtlichen Bedarf bezogenen "Kennenmüssen" des Beklagten auszugehen, das positiver Kenntnis gleichstehe.

23

Unter dem 20. September 2001 hat die Allgemeine Ortskrankenkasse im Wege einer von dem Senat eingeholten amtlichen Auskunft mitgeteilt, dass sie über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Klägerin weder als Pflegekasse noch als Krankenkasse regelmäßig informiert gewesen sei und auch nicht, als der Antrag auf Höherstufung der Klägerin in die Pflegestufe III gestellt worden sei. Es sei ihr, der AOK, zudem nicht bekannt gewesen, dass die Klägerin zur Zeit des Antrages auf Höherstufung Hilfe zur Pflege gemäß § 68 BSHG bezogen habe. Die Klägerin sei bei der AOK als Rentnerin versichert und nicht als freiwillig versicherte Person.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten (Beiakte "A") verwiesen.

Entscheidungsgründe

25

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet, der Klägerin für den streitbefangenen Zeitraum weitere Hilfe zur Pflege in Höhe des Differenzbetrages zwischen den den Pflegestufen II und III zugeordneten pflegebedingten Entgelten zu gewähren. Ein Anspruch der Klägerin auf eine solche Hilfe besteht nicht.

26

Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf eine rückwirkende Bewilligung lässt sich nicht aus der in § 68a des Bundessozialhilfegesetzes -- BSHG -- geregelten Bindungswirkung herleiten, weil diese Bindungswirkung nicht eingreift, soweit die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit mit Rückwirkung und damit nach Maßgabe des § 5 BSHG für vergangene Zeitabschnitte erfolgt (so auch: OVG NW, Urt. v. 5. 12. 2000 -- 22 A 5487/99 --, FEVS 52, 320 (321 m.w.N.) und Schellhorn, in: Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl. 1997, RdNr. 4 zu § 68a). Gemäß § 68a BSHG ist die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch auch der Entscheidung im Rahmen der Hilfe zur Pflege zugrunde zu legen, soweit sie auf Tatsachen beruht, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist der in dieser Vorschrift enthaltene Begriff des "Ausmaß(es) der Pflegebedürftigkeit" einer extensiven Interpretation nicht zugänglich. Er wird vielmehr allein durch die drei Pflegestufen des Elften Buches Sozialgesetzbuch -- SGB XI -- definiert (BVerwG, Urt. v. 15. 6. 2000 -- 5 C 34.99 -- FEVS 51, 529 (530)). Der Beklagte hebt zu Recht hervor, dass es nach Wortlaut ("Ausmaß"), Entstehungsgeschichte und Zwecksetzung des § 68a BSHG keinen Anhalt dafür gibt, dass der Gesetzgeber mit der darin angeordneten Bindungswirkung den das Sozialhilferecht prägenden und von dem Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung hervorgehobenen Grundsatz, dass die Sozialhilfe dazu diene, eine gegenwärtige Notlage zu beheben, bei der Gewährung der Hilfe zur Pflege zu Gunsten einer § 5 BSHG zuwiderlaufenden "rückwirkenden" Bewilligung durchbrechen wollte. Weder hat nämlich das "Ausmaß der Pflegebedürftigkeit" vom Wortsinn her etwas mit der zeitlichen Rückwirkung einer feststellenden Entscheidung zu tun, noch verfolgte der Gesetzgeber die Absicht, mit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung die Hilfe zur Pflege nach den §§ 68 ff. BSHG insgesamt in ein "Folgerecht" der Sozialversicherung umzuwandeln, oder gebietet es das Ziel der Sozialhilfe, eine gegenwärtige Notlage tatsächlich wirkungsvoll zu beseitigen, der Entscheidung der Pflegekasse rückwirkende Bindung zuzumessen (vgl. hierzu im Einzelnen: OVG NW, Urt. v. 5. 12. 2000, a.a.O., S. 321 ff.). Auch kann dem Argumentum ad absurdum des Verwaltungsgerichts nicht gefolgt werden, es müsse schon deshalb unerheblich sein, ob und wann vor einer Höherstufungsentscheidung der Pflegekasse der Träger der Sozialhilfe von dem gesteigerten Bedarf der Pflegebedürftigen Kenntnis erlangt habe, weil er durch die Bindungswirkung der dieser Höherstufung vorausgegangenen Entscheidung der Kasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit gehindert gewesen wäre, unmittelbar an solche Kenntnis anknüpfend, erhöhte Hilfe zur Pflege zu gewähren. Diese Gedankenführung ist nämlich in ihrem Ausgangspunkt unrichtig. Sie vernachlässigt, dass § 68a BSHG Entscheidungen der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit für Entscheidungen im Rahmen der Hilfe zur Pflege Bindungswirkung nur insoweit beilegt, als sie auf Tatsachen beruhen, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Wie die Gesetzesmaterialien (Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 21. Oktober 1993, BT-Drucks. 12/5952, S. 57, linke Spalte) erhellen, soll mit dieser Regelung sichergestellt werden, dass eine Bindungswirkung nur eintritt, soweit aufgrund gleicher Leistungsvoraussetzungen zu entscheiden war (Tatsachenidentität). Eine solche Tatsachenidentität ist jedoch nicht mehr vollständig gegeben, wenn zu den von der Pflegekasse im Rahmen einer vorausgegangenen Entscheidung über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit bereits gewürdigten Tatsachen erhebliche weitere Tatsachen hinzugetreten sind, die das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nunmehr in einem anderen Licht erscheinen lassen und vor denen der Träger der Sozialhilfe im Hinblick auf das Gebot, eine gegenwärtige Notlage tatsächlich wirkungsvoll zu beseitigen, die Augen nicht verschließen darf. Dabei kann im vorliegenden Zusammenhang dahinstehen, ob das Hinzutreten neuer Tatsachen die Bindungswirkung gänzlich entfallen lässt (so wohl: Oestreicher/Schelter/Kunz, BSHG, Stand: 1. Juli 2001, RdNr. 1 zu § 68a) oder der Träger der Sozialhilfe Veränderungen der Pflegebedürftigkeit lediglich dann zum Anlass eigener Prüfungen und einer Vorleistung nehmen kann, wenn die Pflegekasse ihrerseits nicht umgehend entscheidet (vgl. Krahmer, in: LPK-BSHG, 5. Aufl. 1998, Rdnr. 7 zu § 68a; Lachwitz, in: Fichtner (Hrsg.), BSHG, 1. Aufl. 1999, RdNrn. 5 und 6 zu § 68a; Oestreicher/Schelter/Kunz, a.a.O., Rdnr. 2 zu § 68a; Schellhorn, a.a.O., RdNr. 9 zu § 68a). Jedenfalls ist nämlich die These des Verwaltungsgerichts nicht zutreffend, der Träger der Sozialhilfe sei schlechthin gehindert, einer ihm vermittelten Kenntnis von einem gesteigerten Bedarf an Hilfe zur Pflege schon vor dem Ergehen einer Höherstufungsentscheidung der Pflegekasse durch die Erhöhung seiner eigenen Leistungen Rechnung zu tragen.

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§ 5 Abs. 1 BSHG, der demnach von der Bindungswirkung des § 68a BSHG unberührt bleibt, steht der der Klägerin in erster Instanz zugesprochenen weitergehenden Hilfe entgegen, weil der Beklagte im streitbefangenen Zeitraum keine Kenntnis vom Vorliegen der Voraussetzungen für die begehrte gesteigerte Leistungsgewährung hatte. § 5 Abs. 1 BSHG bestimmt, dass die Sozialhilfe einsetzt, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Die insoweit verlangte Kenntnis muss inhaltlich qualifiziert sein und sich sowohl auf das Vorliegen eines bestimmten Bedarfstatbestandes beziehen als auch darauf, dass sich die Hilfebedürftige nicht selbst helfen kann oder die Hilfe nicht von dritter Seite erhält (OVG NW, Urt. v. 5. 12. 2000, a.a.O., S. 323). Eine solche Kenntnis wird zwar nicht schon dadurch begründet, dass die Entstehung eines bestimmten Bedarfs unter bestimmten, der Behörde bekannten Umständen üblich ist. Bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 BSHG ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass ein Träger der Sozialhilfe, der Hilfe zur Pflege gewährt und den Leidenszustand der Pflegebedürftigen kennt, den Hilfefall in gesteigertem Maße im Blick zu behalten hat. Er kann deshalb im Einzelfall sogar gehalten sein, regelmäßig und in angemessenen Abständen von sich aus zu prüfen, ob sich der Zustand der Betroffenen verschlechtert hat und deshalb die bislang gewährte Hilfe nicht mehr ausreicht (OVG Lüneburg, Urt. v. 12. 3. 1986 -- 4 A 176/84 --, FEVS 36, 329 (331)). Eine derartige Pflicht zur Nachschau besteht jedoch nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte zureichenden Anlass hierfür bieten, etwa weil der Sozialhilfeträger aufgrund einer ärztlichen Prognose weiß, dass eine schon absehbare ständige Verschlechterung für den weiteren Verlauf der Erkrankung der Hilfebedürftigen kennzeichnend sein wird. Die Notwendigkeit weiterer Hilfe zu erahnen, wird dem Träger der Sozialhilfe dagegen nicht angesonnen (BVerwG, Beschl. v. 21. 4. 1997 -- BVerwG 5 PKH 2.97 --, Buchholz 436.0 § 5 BSHG Nr. 15 und Beschl. v. 9. 11. 1976 -- BVerwG V B 080.76 --, DÖV 1977, 334). Im vorliegenden Falle lag dem Beklagten eine ärztliche Prognose nicht vor, der entnommen werden konnte, dass eine schon absehbare ständige Verschlechterung für den künftigen Verlauf der Erkrankung der Hilfebedürftigen kennzeichnend sein werde. Vielmehr meint die Klägerin, der Beklagte sei über ihren gesteigerten Bedarf bereits deshalb qualifiziert in Kenntnis gesetzt gewesen, weil ihm dem Grunde nach bekannt gewesen sei, dass sie pflegebedürftig sei und eine Besserung ihres Zustandes nicht zu erwarten stehe. Dies reichte indessen nicht aus, die erforderliche qualifizierte Kenntnis zu vermitteln.

28

§ 5 BSHG ist auch nicht deshalb genüge getan, weil sich der Beklagte nach § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG die zeitlich frühere Kenntnis der AOK H -- Pflegekasse -- über das Vorliegen einer erhöhten Pflegebedürftigkeit der Klägerin zurechnen lassen müsste. Dem Träger der Sozialhilfe kann nämlich nach der genannten Vorschrift die Kenntnis eines Dritten nur zugerechnet werden, wenn dieser Dritte selbst ein Träger der Sozialhilfe oder eine Gemeinde ist. Beides trifft jedoch auf die AOK nicht zu.

29

Die Voraussetzungen für das Einsetzen der Sozialhilfe sind auch nicht erfüllt, weil § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I zugunsten der Klägerin eingriffe; denn das ist nicht der Fall. Hierbei kann im Einzelnen offen bleiben, wie die Bestimmung des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I nach der Einfügung des § 5 Abs. 2 BSHG in das Bundessozialhilfegesetz im Recht der Sozialhilfe auszulegen ist (vgl. hierzu Senat, Beschl. v. 21.12.1999 -- 12 L 3780/99 -- im Anschluss an die Rechtsprechung des 4. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, zuletzt: Urt. v. 11.7.2001 -- 4 L 2755/99 --). Auch nach der vom 4. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vertretenen Auffassung würde nämlich der Klägerin ein § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I gestützter Anspruch nicht zustehen; denn jedenfalls müssen dem zunächst angegangenen Träger die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Hilfesuchenden bekannt sein (vgl. Senat, Beschl. v. 21.12.1999 -- 12 L 3780/99 --). Dies ist hier unstreitig aber nicht der Fall gewesen.

30

Es kann schließlich auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Beklagte Unzulänglichkeiten der Beratung der Klägerin durch die zuständige Pflegekasse zurechnen lassen müsse und daran anknüpfend so zu behandeln sei, als habe er die erforderliche qualifizierte Kenntnis von den Voraussetzungen für die Gewährung von erhöhter Hilfe zur Pflege bereits zu dem Zeitpunkt gehabt, zu dem er über sie verfügt hätte, wären der Klägerin die von ihr vermissten weitergehenden Hinweise seitens der AOK gegeben worden. Etwaige Versäumnisse der Pflegekasse sind dem Beklagten nämlich nicht zuzurechnen, weil die Kasse die Pflegebedürftigen nicht im Namen oder Auftrag des Trägers der Sozialhilfe, sondern in eigener Verantwortung als Pflegekasse berät. Unzureichende Hinweise von ihrer Seite könnten daher allenfalls zu Ansprüchen der Klägerin gegen die AOK führen.

31

Da das Verwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet hat, eine nicht geschuldete Leistung zu erbringen, ist das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die demnach unbegründete Klage abzuweisen.

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Die Kostenentscheidung fußt auf den §§ 154 Abs. 1 und 188 Satz 2 VwGO.

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Die Nebenentscheidungen im Übrigen beruhen auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11 ZPO.

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Die Revision wird gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen.