Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 22.09.2010, Az.: 14 U 63/10
Haftung; Einsteigen; Aussteigen; Fahrzeugtür
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 22.09.2010
- Aktenzeichen
- 14 U 63/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 47935
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG - 24.03.2010 - AZ: 3 O 82/09
Rechtsgrundlagen
- § 14 StVO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Sorgfaltsanforderungen des § 14 Abs. 1 StVO gelten für die gesamte Dauer des Ein- oder Aussteigevorgangs, also für alle Vorgänge, die in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang damit stehen, wobei der Vorgang des Ein- oder Aussteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtür und dem Verlassen der Fahrbahn beendet ist.
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 24. März 2010 abgeändert und insgesamt neu gefasst wie folgt:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 3.298,13 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19. März 2009 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Auf die Widerklage werden der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner verurteilt, an den Beklagten zu 2 1.356,49 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5. Mai 2009 zu zahlen und den Beklagten zu 2 von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 186,24 € freizustellen.
Auf die Widerklage wird darüber hinaus die Drittwiderbeklagte allein verurteilt, an den Beklagten zu 2 weitere 1.356,49 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5. Mai 2009 zu zahlen und den Beklagten zu 2 von weiteren außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 86,63 € freizustellen.
Im Übrigen wird die Widerklage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz werden wie folgt verteilt:
Die Gerichtskosten tragen der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner zu 14 %, darüber hinaus der Kläger allein zu 35 %, die Beklagten zu 1 bis 3 als Gesamtschuldner zu 35 % und im Übrigen zu 16 % der Beklagte zu 2 allein.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen zu 34 % die Beklagten zu 1 bis 3 als Gesamtschuldner, zu 17 % der Beklagten zu 2 allein und im Übrigen - zu 49 % - der Kläger selbst.
Die außergerichtlichen Kosten der Drittwiderbeklagten tragen zu 54 % der Beklagte zu 2, im Übrigen - zu 46 % - die Drittwiderbeklagte selbst.
Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2 tragen zu 14 % der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner, darüber hinaus der Kläger zu weiteren 35 % allein und im Übrigen - zu 51 % - der Beklagte zu 2 selbst.
Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1 und 3 tragen zu 50 % der Kläger und im Übrigen - zu 50 % - die Beklagten zu 1 und 3 selbst.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden wie folgt verteilt:
Die Gerichtskosten tragen der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner zu 11 %, darüber hinaus der Kläger zu 28 % und die Drittwiderbeklagte zu 22 % allein, die Beklagten zu 1 bis 3 als Gesamtschuldner zu 28 % und im Übrigen zu 11 % der Beklagte zu 2 allein.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen zu 35 % die Beklagten zu 1 bis 3 als Gesamtschuldner, zu 15 % der Beklagte zu 2 allein und im Übrigen - zu 50 % - der Kläger selbst.
Die außergerichtlichen Kosten der Drittwiderbeklagten tragen zu 25 % die Beklagten zu 1 bis 3 als Gesamtschuldner, im Übrigen - zu 75 % - die Drittwiderbeklagte selbst.
Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2 tragen zu 11 % der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner, darüber hinaus zu weiteren 27 % der Kläger und zu weiteren 23 % die Drittwiderbeklagte allein, im Übrigen - zu 39 % - der Beklagte zu 2 selbst.
Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1 und 3 tragen zu 50 % der Kläger, im Übrigen - zu 50 % - die Beklagten zu 1 und 3 selbst.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
(gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO):
Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.
1. Zur Haftungsverteilung:
a) Gegen die Beklagte zu 1 spricht nicht nur der Beweis des ersten Anscheins, dass sie die ihr gemäß § 14 Abs. 1 StVO obliegenden Sorgfaltspflichten missachtet hat. Ein Pflichtverstoß ist vielmehr bewiesen (§ 286 ZPO). Die Beklagte zu 1 hat selbst angegeben, die linke hintere Fahrertür geöffnet gelassen zu haben, nachdem sie ihrer Tochter beim Einsteigen geholfen hatte. Dabei ragte die Tür auf jeden Fall in die Fahrbahn, auf der dann der Kläger heranfuhr, hinein. Dieser Zustand hat mindestens 2 bis 3, nach Einschätzung der Beklagten zu 1 sogar 5 Minuten angehalten.
Nach der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 6. Oktober 2009 - VI ZR 316/08, NZV 2010, 24, Rdnr. 11) gilt die Sorgfaltsanforderung des § 14 Abs. 1 StVO für die gesamte Dauer des Ein- oder Aussteigevorgangs, also für alle Vorgänge, die in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang damit stehen, wobei der Vorgang des Ein- oder Aussteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtür und dem Verlassen der Fahrbahn beendet ist. Die Fahrzeugtür war hier unstreitig nicht geschlossen und die Beklagte zu 1 befand sich bei dem Pkw. Damit ist ihr ein Verstoß gegen § 14 Abs. 1 StVO vorzuwerfen.
b) Die Haftung des Klägers richtet sich primär (anders als vom Landgericht angenommen) nach § 6 StVO. Der Kläger fuhr an dem parkenden Pkw der Beklagten vorbei. Die Rechtsprechung verlangt auch beim Vorbeifahren an haltenden Fahrzeugen einen ausreichenden Seitenabstand, dessen Größe sich nach den Umständen richtet. Er darf zwar geringer sein als der beim Überholen und bei der Begegnung regelmäßig verlangte Mindestabstand von 1 m. Ein Seitenabstand von weniger als 1 m soll aber dann zu gering sein, wenn auf dem Seitenstreifen neben der Fahrbahn ein Pkw mit geöffneter Fahrzeugtür steht und jederzeit mit einem weiteren Öffnen der Tür gerechnet werden muss oder in der geöffneten Fahrzeugtür eine Person steht (vgl. dazu Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 6 StVO Rdnr. 6 m. w. N. aus der Rechtsprechung).
Nach den Feststellungen des Sachverständigen T., an denen zu zweifeln der Senat keinen Anlass hat und die vom Kläger mit der Berufung auch nicht angegriffen werden, ist der Kläger mit einem Sicherheitsabstand zwischen der linken Fahrzeugseite des VW Golf und der rechten Seite des Opel Corsa mit etwa 70 cm vorbeigefahren. Der maximale Abstand soll bei 75 cm gelegen haben (S. 12 des Gutachtens T.). Nach den Würdigungen des Sachverständigen soll die linke hintere Tür „in der Tendenz“ bereits vollständig geöffnet gewesen sein, als der Kläger mit ihr kollidierte. Die maximale Öffnungsweite der linken hinteren Tür gibt der Sachverständige mit ca. 85 cm an (S. 13 des Gutachtens). Unter Berücksichtigung dieser Abstandsverhältnisse ist der Kläger deutlich zu weit rechts gefahren. Der Sachverständige kommt deshalb auch zu einer Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens durch den Kläger, wenn er einen Sicherheitsabstand von 1 m eingehalten hätte, wobei dieser Abstand für den Kläger gefahrlos hätte eingehalten werden können. Dass der Kläger die geöffnete Tür nicht hat wahrnehmen können, behauptet er selbst nicht und ist auch nicht festzustellen; sie war schon geraume Zeit offen, und die Sicht war unbeeinträchtigt.
c) Auch bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge folgt der Senat dem Landgericht nicht, sondern hält eine Schadensteilung (50 : 50) für angemessen. Ein völliger Wegfall der Haftung der Beklagten zu 1 erscheint unvertretbar. Der BGH hat in einem etwa vergleichbaren Fall (NZV 2010, 24 [BGH 06.10.2009 - VI ZR 316/08], Rdnr. 9 und 14) eine hälftige Schadensteilung revisionsrechtlich nicht beanstandet. Sowohl diese Entscheidung als auch die umfangreich bei Grüneberg (10. Aufl., Rdnr. 301 f.) erwähnten Entscheidungen zeigen aber, dass eine einseitige Haftung des Klägers nicht zu vertreten und eine Schadensteilung sachgerecht ist. Für die Quotierung sind dabei diese Gesichtspunkte maßgeblich:
aa) Die linke Tür ragte nach den insoweit übereinstimmenden Bekundungen aller Zeugen und auch der Darstellung der Beklagten zu 1 in die Fahrbahn hinein. Dieser Zustand hielt längere Zeit an. Die Beklagten zu 1 hätte ihren Pkw weiter rechts hätte parken können (wie aus den Bekundungen der Zeugen Bergeest folgt). In diesem Fall wäre der Pkw insgesamt vom rechten Fahrbahnrand weiter entfernt gewesen und die Tür hätte weniger oder überhaupt nicht in die Fahrbahn hineingeragt. Der Beklagten zu 1 ist außerdem vorzuwerfen, dass sie die Tür unnötig offen ließ (sie war nicht im Türbereich tätig).
bb) Andererseits ist bei der Haftung des Klägers zu berücksichtigen, dass er ohne Grund den gebotenen Sicherheitsabstand zu einem am rechten Fahrbahnrand gut sichtbar haltenden Pkw nicht eingehalten zu hat. Dies folgt aus den Feststellungen des Sachverständigen T. Trotz der nicht ungefährlichen Situation hätte der Kläger den Unfall vermeiden können, ohne dabei gefährlich in die Mitte der Straße und damit zu nah an den entgegenkommenden Lkw zu geraten. Auch in Anbetracht der bereits längere Zeit offen stehenden Tür ist nicht verständlich, warum er nicht mit einem etwas größeren Abstand an dem Fahrzeug vorbeigefahren ist. Dies spricht dafür, dass der Kläger unaufmerksam war.
Dass die Tür sich plötzlich so weit öffnete, dass sie in den Fahrbahnbereich des Klägers hineinragte, ist nach den Zeugenaussagen und den Erwägungen des Sachverständigen nicht festzustellen. Im Übrigen würde dieser Gesichtspunkt im Ergebnis nichts ändern: Denn dann müsste zu Gunsten der Beklagten angenommen werden, dass die Tür zunächst tatsächlich nicht in den Fahrbahnbereich hineinragte und somit keine anhaltende Gefährdung gegeben war. Diese Situation würde also beide Parteien etwas entlasten, nicht nur den Kläger.
cc) Der Senat hält deshalb eine hälftige Schadensteilung für richtig. Der Beklagten ist mehr als nur die einfache Betriebsgefahr ihres Pkw anzulasten. Sie trägt ein nicht unerhebliches Mitverschulden an dem Unfall. Bei sorgfaltsgerechtem Verhalten hätte sie die Tür schließen müssen. Dann wäre es nicht zu der Kollision gekommen. Demgegenüber hätte auch der Kläger den Unfall ohne weiteres vermeiden können, wenn er mittig auf der Straße gefahren wäre.
2. Zur Höhe:
a) Die Kläger haben einen Schaden von 6.596,26 € eingeklagt. Die Beklagten haben insoweit das Vorliegen einer Wertminderung und auch deren Höhe bestritten. Das Landgericht hat diesen Punkt nicht weiter verfolgt, auch weil es die Klage insgesamt abgewiesen hat. Die Ansicht der Beklagten, „bei der heute üblichen perfekten Art und Weise der Wiederherstellung eines Fahrzeugs“ sei eine Wertminderung zu verneinen, teilt der Senat in Anbetracht des Schadensbildes und des Fahrzeugalters nicht. Der Senat hält (§ 287 ZPO) die vom Kläger angegebene Wertminderung für zutreffend. Es handelt sich um ein im Unfallzeitpunkt gerade ein Jahr altes Fahrzeug mit einer Laufleistung von 6.807 km. Angesichts der erheblichen Schäden, die Reparaturkosten von knapp 5.000 € veranlassen, erscheint ein Wertverlust von lediglich 950 € ohne weiteres sachgerecht.
Die Klage ist demnach zur Hälfte gerechtfertigt, d. h. in Höhe von 3.298,13 €.
b) Bei der Widerklage folgt der Senat mit dem Landgericht den Berechnungen des Sachverständigen T. Von den vom Landgericht damit (nur aufgrund der anderen Quote) zugesprochenen 2.712,98 € kann der Beklagte zu 2 lediglich die Hälfte durchsetzen, das sind 1.356,49 €. In Bezug auf die Drittwiderbeklagte verbleibt es jedoch bei dem Ausspruch des Landgerichts, weil die Berufung der Drittwiderbeklagten unzulässig gewesen ist (wie im Senatsbeschluss vom 2. Juli 2010 im Einzelnen dargelegt).
3. Die Zinsen rechtfertigen sich aus §§ 288, 291 BGB (wie LGU 9).
4. Der mit der Widerklage geltend gemachte Anspruch auf Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten war (nur) für den Kläger entsprechend herabzusetzen.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 1 ZPO und hinsichtlich der unzulässigen Berufung der Drittwiderbeklagten aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, weil es an den dafür erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen (gemäß § 543 Abs. 2 ZPO) fehlt.