Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 22.09.2010, Az.: 12 A 5737/09
Aufenthaltserlaubnis; Bleiberechtsregelung; Täuschung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 22.09.2010
- Aktenzeichen
- 12 A 5737/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 41094
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2010:0922.12A5737.09.0A
Rechtsgrundlagen
- 104a I AufenthG
- 104a I 1 AufenthG
- 104a V AufenthG
- 104a VI AufenthG
- 23 I AufenthG
Amtlicher Leitsatz
- 1..
Die Ersterteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG nach dem 31.12.2009 ist auch dann nicht möglich, wenn der entsprechende Antrag rechtzeitig bei der Ausländerbehörde gestellt worden ist. Statt dessen kann in diesen Fällen für die Zukunft eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG erteilt werden, wenn spätestens zum Stichtag am 31.12.2009 alle Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 AufenthG vorgelegen haben und zusätzlich zum Zeitpunkt der Entscheidung alle Verlängerungsvoraussetzungen - die Grundvoraussetzungen des § 104a Abs. 1 AufenthG und die speziellen Anforderungen des § 104a Abs. 5 und 6 AufenthG bzw. der Bleiberechtsregelung 2009 - (weiterhin) vorliegen.
- 2..
Eine vorsätzliche Täuschung über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände gemäß § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG liegt nur vor, wenn dem Ausländer die Unrichtigkeit seiner Angaben und deren aufenthaltsrechtliche Relevanz bewusst waren
Tenor:
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
Die Kläger begehren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.
Der Kläger zu 1) wurde am 14.03.1975 in Sarajewo in Bosnien geboren und ist dem Volk der Roma zugehörig.
Gemeinsam mit Herrn D. E., Frau F. E. und zwei (vermeintlichen) Geschwistern reiste er im Oktober 1991 unter den Personalien G. E., geboren am 14.03.1975 in Decan im Kosovo, erstmals in das Bundesgebiet ein. Ein Asylverfahren der vermeintlichen Familie, in dem Herr D. E. angab, aus dem Kosovo zu stammen und dort politisch verfolgt worden zu sein, blieb ohne Erfolg. Während der Rest der Familie E. in Bremen und Umland wohnte, lebte der Kläger zu 1) seit 1994 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seinen drei in Deutschland geborenen Kindern - den Klägern zu 2) bis 4) - in Hannover. Die Familie wurde nach Abschluss des Asylverfahrens fortlaufend geduldet.
Im Jahr 2002 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger zu 1) im Kosovo nicht registriert war. Nach Rücksprache mit dem Landkreis Verden, der für einen Teil der Familie E. zuständig war, fragte die Beklagte bei der Deutschen Botschaft in Sarajewo an, ob die Familie in Bosnien gemeldet gewesen sei. Dies bestätigte die Botschaft für fünf Familienmitglieder, allerdings nicht für den Kläger zu 1) (unter den damals bekannten Personalien).
Unter dem 08.05.2007 beantragte der Kläger zu 1) für sich und seine Kinder die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Bleiberechtsregelung 2006. In diesem Zusammenhang legte er im Jahr 2009 eine Geburtsurkunde und einen bosnischen Pass vor, die seinen richtigen Namen und seinen richtigen Geburtsort ausweisen. Dazu trug der Kläger zu 1) durch seinen Bevollmächtigten vor, er sei von seinem vermeintlichen Vater D. E. - einem Onkel - selbst über seine Identität getäuscht worden. Dieser habe sich als sein Vater ausgegeben. Er habe sich sofort offenbart, als ihm im Rahmen des Verwaltungsverfahrens bei Ermittlungen seiner Lebensgefährtin in Bosnien die Wahrheit bekannt geworden sei.
Mit Bescheid vom 08.10.2009 lehnte die Beklagte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Der Kläger zu 1) habe über seine Identität und Herkunft sowie über seinen letzten Aufenthaltsort in Ex-Jugoslawien getäuscht und damit den Ausschlussgrund des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG verwirklicht. Dabei sei der Aufenthaltsort im Fall von Ex-Jugoslawien von besonderer Bedeutung. Als Roma habe der Kläger zu 1) nach Bosnien, nicht aber in den Kosovo zurückgeführt werden können. Bezüglich der Kinder gelte der Grundsatz der Familieneinheit. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach einer anderen Vorschrift komme nicht in Betracht.
Am 13.11.2009 haben die Kläger Klage erhoben. Ergänzend tragen sie vor, der Kläger zu 1) selbst sei das Opfer einer Täuschung gewesen. Er habe erst durch die Recherchen seiner Lebensgefährtin die Wahrheit erfahren. Mit der Familie E. gebe es keinen Kontakt mehr; dieser sei nach einer Aussprache abgerissen.
Nachdem die Kläger zu 2) bis 4) die Klage zurückgenommen haben, beantragt der Kläger zu 1),
den Bescheid der Beklagten vom 08.10.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich im Wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Das Gericht hat den Kläger zu 1) persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen H. E. und I. J.. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Soweit die Kläger zu 2) bis 4) ihre Klage zurückgenommen haben, wird das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt.
Die zulässige Klage im Übrigen ist unbegründet.
Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger zu 1) die begehrte Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erteilen. Der Kläger zu 1) hat keinen entsprechenden Anspruch.
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104a Abs. 1 AufenthG steht entgegen, dass der gesetzliche Ersterteilungszeitraum bis zum 31.12.2009 (§ 104a Abs. 5 Satz 1 AufenthG) mittlerweile abgelaufen ist.
Auch ein Anspruch gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG i.V. mit § 104a Abs. 5 und 6 AufenthG bzw. i.V. mit der Bleiberechtsregelung 2009 (RdErl. des Nieders. Ministeriums für Inneres, Sport und Integration vom 11.12.2009 - 42.12-12230/1-8 (§23)) besteht nicht. Dabei geht das Gericht zwar davon aus, dass eine Ersterteilung nach den oben genannten Vorschriften über die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG für die Zukunft ausnahmsweise dann möglich ist, wenn der Ausländer rechtzeitig vor dem 31.12.2009 eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis beantragt hat. Denn es darf nicht zum materiellen Anspruchsverlust führen, wenn über einen rechtzeitig gestellten Antrag nicht vor dem 31.12.2009 abschließend entschieden worden ist. Allerdings darf der Ausländer nicht besser stehen, als ein Ausländer, der einen Aufenthaltstitel gemäß § 104a AufenthG erhalten hat, der über den 31.12.2009 hinaus nur bei Fortbestehen der Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 AufenthG (§ 8 Abs. 1 AufenthG) und bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 104a Abs. 5 und 6 AufenthG bzw. der Bleiberechtsregelung 2009 verlängert wird. Eine Ersterteilung nach dem 31.12.2009 - auch aufgrund gerichtlicher Entscheidung - für die Zukunft kommt daher nur in Betracht, wenn spätestens zum Stichtag am 31.12.2009 alle Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 AufenthG vorgelegen haben und zusätzlich zum Zeitpunkt der Entscheidung alle Verlängerungsvoraussetzungen - die Grundvoraussetzungen des § 104a Abs. 1 AufenthG und die speziellen Anforderungen des § 104a Abs. 5 und 6 AufenthG bzw. der Bleiberechtsregelung 2009 - (weiterhin) vorliegen. Das ist hier nicht der Fall.
Schon zum Stichtag am 31.12.2009 und auch heute stand und steht der Ausschlussgrund des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis entgegen. Nach der vorgenannten Vorschrift darf eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104a Abs. 1 AufenthG nur einem Ausländer erteilt werden, der die Ausländerbehörde nicht vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht oder behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht vorsätzlich hinausgezögert oder behindert hat. Eine Täuschung liegt vor, wenn der Ausländer bei der Ausländerbehörde eine irrige Vorstellung über tatsächliche Umstände hervorruft. Dabei muss sich die Täuschung auf aufenthaltsrechtlich relevante Umstände beziehen, also auf Umstände, die im konkreten Fall - und nicht bloß abstrakt - geeignet gewesen sind, ausländerrechtliche Konsequenzen auszulösen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 104a, Rn. 41 <Loseblatt, Stand der Bearbeitung: Mai 2010>). Nicht erforderlich ist nach dem Wortlaut hingegen, dass die Täuschung aufenthaltsverlängernd gewirkt hat, also ein Wirkungszusammenhang zwischen Täuschungshandlung und weiterem Verbleib im Bundesgebiet besteht (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 08.07.2010 - 2 LA 278/09, juris, m.w.N.). Die Täuschung muss schließlich vorsätzlich erfolgen. Dem Ausländer muss bewusst sein, dass die von ihm gemachten Angaben zu bestimmten Tatsachen falsch sind. Dem Wortlaut der Vorschrift zufolge muss sich der Vorsatz weiter auf die aufenthaltsrechtliche Relevanz der Falschangaben beziehen. Vorsätzlich handelt ein Ausländer mithin nur, wenn ihm vor Augen steht, dass seine Angaben für sein weiteres aufenthaltsrechtliches Schicksal von Bedeutung sein können. Davon ausgehend ist das Gericht der Überzeugung, dass der Kläger zu 1) die Beklagte über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht hat.
Eine Täuschung über einen aufenthaltsrechtlich relevanten Umstand ist in der falschen Angabe des Klägers zu 1) zu seinem Geburtsort zu sehen. Obwohl er - wie ihm nach seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung stets bekannt war - in Sarajewo/Bosnien geboren ist, hat er bis in das Jahr 2009 hinein gegenüber der Beklagten - und nicht bloß gegenüber dem Bundesamt - stets angegeben, in Decan/Kosovo geboren zu sein. Er hat die Duldungen mit diesem Geburtsort unterschrieben, eine entsprechende Roma-Bescheinigung vom 10.07.2000 vorgelegt und auch den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom 08.05.2007 entsprechend gestellt. Bei dem Geburtsort handelt es sich im konkreten Fall um einen aufenthaltsrechtlich relevanten Umstand. Korrekte Angaben zum Geburtsort sind unerlässlich, damit die Ausländerbehörde gegebenenfalls Passersatzpapiere beantragen kann. Eine Täuschung darüber ist daher grundsätzlich und so auch in diesem Fall aufenthaltsrechtlich bedeutsam. Hinzu kommt, dass die konkrete Herkunft bei Roma im Fall Ex-Jugoslawiens von besonderer Bedeutung ist. Nach dem Jahr 2000 waren Rückführungen in alle Landesteile bzw. Staaten mit Ausnahme des Kosovo möglich. Nur für Roma aus dem Kosovo herrschte bis zum Inkrafttreten der Bleiberechtsregelung ein Abschiebestopp. Die Falschangaben hat der Kläger zu 1) schließlich vorsätzlich und im Bewusstsein ihrer aufenthaltsrechtlichen Relevanz getätigt. Denn seinen eigenen Angaben zufolge ist er von seinem vermeintlichen Vater verpflichtet worden, stets den falschen Geburtsort zu nennen, damit er und seine vermeintliche Familie nicht abgeschoben werden können. Damit stand dem Kläger zu 1) der Zusammenhang zwischen der Falschangabe und einer möglichen Abschiebung klar vor Augen.
Soweit der Kläger zu 1) vorbringt, sein vermeintlicher Vater habe ihn unter Androhung von Gewalt gezwungen, den falschen Geburtsort zu nennen, führt das im Ergebnis zu keiner anderen rechtlichen Bewertung. Eine unter Zwang vorgenommene Täuschungshandlung mag zwar dann nicht unredlich und in teleologischer Reduktion des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG nicht tatbestandsmäßig sein, wenn sich der Ausländer in einem Nötigungsnotstand in entsprechender Anwendung der §§ 34, 35 StGB befunden hat. Davon vermag das Gericht hier aber jedenfalls von dem Zeitpunkt an, in dem der Kläger zu 1) räumlich getrennt von dem vermeintlichen Vater in Hannover gelebt hat, nicht (mehr) auszugehen. Der Kläger zu 1) hat sich demgegenüber erst im Jahr 2009 offenbart, als die Täuschung aufgrund der mittlerweile erlangten Geburtsurkunde und des Passes nicht mehr aufrechtzuerhalten war, ohne die Chance auf einen Aufenthaltstitel von vornherein einzubüßen.
Darauf, ob der Kläger zu 1) darüber hinaus über seinen Namen und seinen letzten Aufenthaltsort in Ex-Jugoslawien im Rechtssinne getäuscht hat, kommt es unter diesen Voraussetzungen nicht mehr an.
Der Kläger zu 1) hat keinen Anspruch auf die Erteilung einer sonstigen Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht insoweit gemäß § 117 Abs. 5 VwGO auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Bescheides Bezug.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.