Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.06.2016, Az.: 11 LA 261/15

Befristung des Einreiseverbots und Aufenthaltsverbots als Voraussetzung für die Verkürzung der Frist und Aufhebung des Einreiseverbots

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.06.2016
Aktenzeichen
11 LA 261/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 19629
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2016:0630.11LA261.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 13.10.2015

Fundstellen

  • AUAS 2016, 183-186
  • DÖV 2016, 832
  • InfAuslR 2016, 331-333
  • NVwZ-RR 2016, 759

Amtlicher Leitsatz

Sowohl die Verkürzung der Frist als auch die vollständige Aufhebung des Einreise und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG setzen eine bestehende Befristung des Einreise und Aufenthaltsverbots voraus.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 13. Kammer - vom 13. Oktober 2015 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Zulassungsverfahren auf 10.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Der Kläger begehrt zum einen die Aufhebung des aus seiner bestandskräftig verfügten Ausweisung resultierenden Einreise- und Aufenthaltsverbots, hilfsweise die Sperrwirkung der Ausweisung mit sofortiger Wirkung ohne Ausreise, weiter hilfsweise die Sperrwirkung auf einen kürzeren Zeitraum als fünf Jahre zu befristen. Zum anderen erstrebt er die Verpflichtung des Beklagten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, hilfsweise aus anderen Gründen, zu erteilen, ganz hilfsweise, den Beklagten zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Kläger, ein 1970 in seinem Heimatland geborener libanesischer Staatsangehöriger, reiste 1992 in das Bundesgebiet ein und stellte mehrfach erfolglos Asylanträge. Wegen fehlender Reisedokumente wurde er in der Folgezeit bis heute geduldet. Er ist geschieden und hat volljährige Kinder.

Nachdem der Kläger wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden war, wies der Beklagte ihn mit bestandskräftigem Bescheid vom 31. Januar 2002 aus dem Bundesgebiet aus, ohne seinerzeit eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung auszusprechen. In der Folgezeit wurde der Kläger erneut mehrfach straffällig: 2006 wurde er wegen Versicherungsbetruges und 2014 wegen gemeinschaftlicher Steuerhinterziehung jeweils zu einer Geldstrafe verurteilt.

Mit Bescheid vom 28. August 2014 befristete der Beklagte die Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre beginnend mit der Ausreise und lehnte den zugleich gestellten Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ab. Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Urteil abgewiesen.

Die gegen dieses Urteil vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (dazu 1.), der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (dazu 2.) sowie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (dazu 3.) liegen nicht vor. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen des Klägers im Zulassungsantrag (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt daher keine Zulassung der Berufung.

1. Dem Kläger ist es mit der Begründung seines Zulassungsantrages nicht gelungen, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO aufzuzeigen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinn liegen dann vor, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 -, , Rdnr. 11 m. w. N.). Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Bescheides des Beklagten vom 28. August 2014 im Wesentlichen ausgeführt, die ausgesprochene Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre sei rechtmäßig. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs führe nicht dazu, dass die Wirkungen der bereits 2002 erfolgten Ausweisung automatisch erloschen seien. Ein atypischer Fall liege nicht vor, sodass eine sofortige Befristung ohne Ausreise nicht in Betracht komme. Die Dauer der Sperrwirkung sei rechtsfehlerfrei unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festgesetzt worden. Abgesehen davon, dass sich der Kläger auch nach seiner Inhaftierung nicht gesetzeskonform verhalten habe, habe er sich bis heute nicht ernsthaft und mit Nachdruck um Passpapiere seines Heimatlandes bemüht, obwohl ihm dies möglich und zumutbar sei. Die durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 am 1. August 2015 in Kraft getretene Vorschrift des § 11 Abs. 4 AufenthG rechtfertige nicht ein anderes Ergebnis. Diese Vorschrift setze eine bestandskräftige Befristungsentscheidung voraus, woran es hier fehle. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG scheitere an dem Ausschlussgrund des § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG, da der Kläger zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses fehlender Passpapiere nicht erfülle.

Das Zulassungsvorbringen des Klägers hiergegen verhilft dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg.

a) Entgegen der Darstellung des Klägers sind die dem Urteil zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen nicht deshalb unvollständig, weil das Gericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hat.

Der Kläger bemängelt in diesem Zusammenhang ohne Erfolg, der Beklagte habe ihm außer der wiederholten Übersendung von Anträgen zur Ausstellung von Passersatzpapieren keine konkreten Hinweise zur Passbeschaffung und zur Mitwirkung erteilt und seine, des Klägers, Bemühungen seien ausreichend gewesen. Der Beklagte und ihm folgend das Verwaltungsgericht haben dem Kläger vorgehalten, trotz mehrfacher Aufforderung seitens des Beklagten keine tatsächlichen ernsthaften Bemühungen um die Ausstellung von Rückreisedokumenten nachgewiesen zu haben. Hierfür sei es nicht zwingend notwendig, die Identität mittels Dokumenten nachzuweisen, es müssten aber bei der Antragstellung bei der libanesischen Botschaft glaubhafte Angaben gemacht und eine Erklärung über die freiwillige Rückkehr abgegeben werden. Hierzu verhält sich der Kläger in der Begründung seines Zulassungsantrages nicht näher. Sein Vorwurf, der Beklagte sei seinerseits seiner Hinweis- und Anstoßpflicht nicht hinreichend nachgekommen, ist unberechtigt. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, der Beklagte habe den Kläger ausweislich des Verwaltungsvorgangs in den Jahren 2005, 2009 und 2010 konkret zur Mitwirkung aufgefordert. Unter dem 4. Mai 2005 hat der Beklagte den Kläger aufgefordert, eine Vertrauensperson im Libanon mittels notarieller Beurkundung und Beglaubigung der Vollmacht durch das Landgericht und die Botschaft zu beauftragen, Nachweise über die eigene Staatsangehörigkeit zu beschaffen, und diese Bemühungen ihm, dem Beklagten, gegenüber nachzuweisen. An diese Mitwirkungspflichten wurde der Kläger mit Schreiben des Beklagten vom 4. März 2009 an seinen seinerzeitigen Verfahrensbevollmächtigten und anlässlich einer persönlichen Vorsprache am 2. Februar 2010 nochmals erinnert. Im Rahmen der letztgenannten Vorsprache erklärte der Kläger zudem, er habe bisher nichts unternommen, um Papiere aus dem Libanon zu bekommen. Und schließlich forderte der Beklagte den Kläger über seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten unter dem 8. August 2013 und 2. Oktober 2013 erfolglos auf, die übersandten Passersatzpapieranträge ausgefüllt und unterschrieben zurückzusenden.

b) Die Einwände des Klägers gegen die rechtlichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts rechtfertigen ebenfalls nicht die Annahme ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung.

Der Kläger wendet sich gegen den von dem Verwaltungsgericht aufgestellten Rechtssatz, die Vorschrift des § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG setze auch in der Alternative der vollständigen Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots eine bereits bestandskräftige Befristungsentscheidung voraus. Zudem meint er unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 19.9.2013 - C-297/12, <Filev und Osmani>, NJW 2014, 527, ) zu der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie), dass zumindest das dem Beklagten eingeräumte Ermessen hinsichtlich der Entscheidung über die Aufhebung eines bisher unbefristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots auf Null reduziert sei, wenn, wie in seinem Fall, die Ausweisung vor dem 26. November 2006 verfügt worden sei.

Hinsichtlich der ersten Frage schließt sich der Senat der Auffassung des Verwaltungsgerichts an. Sowohl die Verkürzung der Frist als auch die vollständige Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG in der Fassung, die diese Vorschrift durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) gefunden hat, setzt eine bestehende Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots voraus. Entgegen der Auffassung des Klägers ist nicht nur für die Verkürzung der Frist deren Bestehen Voraussetzung. Auch im Falle der Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots muss zuvor eine Befristungsentscheidung ergangen sein. Die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots tritt dann an die Stelle der Befristung der Sperrwirkung auf Null (Bauer in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 11 AufenthG, Rdnr. 51). Für eine solche Auslegung spricht auch die Gesetzesbegründung, in der zu beiden Fallvarianten von "Änderungen der Frist" die Rede ist (BT-Drs. 18/4097, Seite 36).

Auf die von dem Kläger aufgeworfene zweite Frage kommt es nicht entscheidungserheblich an. Die Ausweisung als solche ist keine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie (vgl. hierzu im Einzelnen VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 7.12.2011 - 11 S 897/11 -, , Rdnr. 80 ff., Urt. v. 10.2.2012 - 11 S 1361/11 -, NVwZ-RR 2012, 492, , Rdnr. 83 ff., und Beschl. v. 15.10.2013 - 11 S 2114/13 -, InfAuslR 2014, 140, , Rdnr. 6 ff.; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 11 AufenthG, Rdnr. 17 m.w.N.). Aber selbst im gegenteiligen Fall wäre im vorliegenden Fall ein Verstoß gegen die Rückführungsrichtlinie nicht ersichtlich. Die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsentscheidung des Beklagten ist vorliegend nicht streitgegenständlich und seit dem Jahr 2002 bestandskräftig. Daher kann sie als solche nicht mehr später ergangenem Recht unterworfen werden. Gleiches gilt für das hieraus folgende Einreise- und Aufenthaltsverbot. Anders als in dem vom Kläger in Bezug genommenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. September 2013 bestand im vorliegenden Fall bei Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie noch kein unbefristet fortdauerndes Einreiseverbot, weil der Kläger das Bundesgebiet aufgrund der Ausweisung und Abschiebungsandrohung noch nicht verlassen hatte. Ein Ablauf der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kommt daher nach der Rückführungsrichtlinie nicht in Betracht (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 15.10.2013 - 11 S 2114/13 -, , Rdnr. 7). Entgegen der Ansicht des Klägers kann deshalb die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. September 2013 die Ausländerbehörde nicht binden.

2. Die Berufung kann aus den vorstehenden Gründen unter 1. nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zugelassen werden.

3. Eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO kommt ebenfalls nicht in Betracht. Die von dem Kläger als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Fragen,

"Ist § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG (n. F.) in der Alternative der Aufhebung auf Fälle einer bereits bestehenden Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots beschränkt?"

und

"Wenn nicht: Ist, insbesondere unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH vom 19.9.2013 - C-297/12 -, das Ermessen über die Aufhebung eines bislang unbefristeten Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf Null reduziert, wenn die Ausweisung vor dem 26.11.2006 verfügt wurde?"

lassen sich nach dem oben Gesagten ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten bzw. sind bereits nicht entscheidungserheblich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).