Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 21.02.2002, Az.: 3 A 186/01
Enkel; erzieherischer Bedarf; Großeltern; Jugendhilfe; Pflegegeld; Sorgerecht; unentgeltliche Pflege; Unterhaltspflicht; Vollzeitpflege; öffentliche Jugendhilfe
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 21.02.2002
- Aktenzeichen
- 3 A 186/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 42328
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 27 SGB 8
- § 39 SGB 8
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Anspruch auf Pflegegeld nach § 39 SGB VIII besteht nur als Annex zu Anspruch aus §§ 32, 33, 35a SGB VIII. Anspruch der das Enkelkind in Vollzeitpflege betreuenden Großeltern besteht nur, wenn die Großeltern die Betreuung nicht in Erfüllung der Unterhaltspflicht leisten und zur unentgeltlichen Pflege definitiv nicht bereit sind.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Die Kläger begehren ein Pflegegeld nach § 39 SGB VIII für das von ihnen betreute Enkelkind.
Die Kläger sind die Großeltern des am 28.04.1987 geborenen M. J., der seit dem 01.12.1997 in ihrem Haushalt lebt und ein Gymnasium besucht. Seit Januar 1999 haben die Kläger das Sorgerecht für M. Die Eltern von M. zahlten im streitgegenständlichen Zeitraum Unterhalt in Höhe von 434,85 DM und 284,15 DM monatlich; die Kläger erhielten das Kindergeld in Höhe von 270,00 DM.
Am 30.11.1999 stellten die Kläger einen Antrag auf die Gewährung von Pflegegeld. Mit Bescheid vom 02.10.2000 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab und führte zur Begründung aus, dass öffentliche, insbesondere wirtschaftliche Jugendhilfe ausscheide, wenn der erzieherische Bedarf eines Kindes dadurch gedeckt sei, dass die Großeltern in Übereinstimmung mit den Eltern die Pflege, Versorgung und Erziehung des Kindes leisten. Den Widerspruch der Kläger wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.05.2001 zurück.
Dagegen haben die Kläger am 15.06.2001 Klage erhoben und tragen zur Begründung im Wesentlichen vor, andere Großeltern bekämen auch ein Pflegegeld für die Pflege des Enkelkindes. Die Gewährung von Pflegegeld könne nicht davon abhängig gemacht werden, dass ein erhöhter erzieherischer Bedarf geltend gemacht und damit Nachteiliges über den Jugendlichen erklärt werde. Die Großmutter von M. habe wegen seiner Betreuung ihren Beruf aufgegeben, der Großvater sei nach einem Herzinfarkt erwerbsunfähig. Im Übrigen hätten sie M. nicht im Einvernehmen mit der Mutter übernommen.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte zu verpflichten, für die Pflege des Enkelsohnes M. J., geb. 28.04.1987, Pflegegeld nach § 39 SGB VIII zu bewilligen und den Bescheid der Beklagten vom 02.10.2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2001 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie wiederholt und vertieft die Gründe von Bescheid und Widerspruchsbescheid.
Der Rechtsstreit ist mit Beschluss vom 01.02.2002 der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig, aber nicht begründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Bewilligung von Pflegegeld nach § 39 SGB VIII für die Pflege ihres Enkels M. J.. Die die Bewilligung dieses Pflegegeldes ablehnenden angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten.
Nach § 39 SGB VIII, der die Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen regelt, ist auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen, wenn Hilfe nach den §§ 32-35 oder nach § 35a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2-4 SGB VIII gewährt wird. Der Anspruch auf die Gewährung des Pflegegeldes als Leistung zum Unterhalt des Jugendlichen ist bereits nach dem Wortlaut des § 39 Abs. 1 SGB VIII ein Anspruch, der nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit der Hilfe nach den §§ 32-35 oder § 35a SGB VIII geltend gemacht werden kann (BVerwG, E v. 12.09.1996 - 5 C 31/95 - recherchiert in Juris; VG Göttingen, E v. 07.04.1997 - 2 B 2036/97 -, recherchiert in Juris). Einschlägig wäre vorliegend die Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII. Die Kläger haben jedoch ausdrücklich keinen Antrag auf die Bewilligung einer Vollzeitpflege als Maßnahme nach §§ 27, 33 SGB VIII gestellt, in deren Rahmen die Beklagte auch zu prüfen hätte, ob nicht die Unterbringung in einer anderen Pflegefamilie dem Wohl des Kindes besser entspricht und für seine Entwicklung besser geeignet wäre, also eine Überprüfung der Pflege im Haushalt der Großeltern durch die Beklagte stattfinden könnte (vgl. OVG Lüneburg, E v. 28.10.1998 - 4 L 3289/98 -, recherchiert in Juris).
Aber auch im Rahmen der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege kann vorliegend ein Anspruch auf Pflegegeld nicht bejaht werden.
Dem Anspruch steht entgegen, dass der nach § 27 SGB VIII zur Gewährung von Hilfe von Erziehung notwendige erzieherische Bedarf nicht besteht. Gemäß § 27 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. In Fällen der vorliegenden Art, in denen ein Verwandter mit Zustimmung des - damaligen - Personensorgeberechtigten den erzieherischen Bedarf des Kindes bzw. Jugendlichen deckt, scheitert der Anspruch des Personensorgeberechtigten auf öffentliche Jugendhilfe am fehlenden Bedarf; Hilfe zur Erziehung ist nicht notwendig im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB VIII (BVerwG, E v. 12. September 1996, a.a.O.). Soweit es die Kläger als Großeltern von M. als ungerecht empfinden, dass ihrem Anspruch entgegengehalten wird, dass kein erzieherischer Bedarf besteht, wobei sie gerade durch ihre Tätigkeit den erzieherischen Bedarf abdecken, liegt dieser von den Großeltern empfundene Widerspruch im System von Sozialleistungen begründet, nach dem Sozialleistungen nur dann gewährt werden, wenn ein Bedarf nach diesen Leistungen tatsächlich besteht. Auf die Frage, ob bei dem Enkelsohn M. im Zeitpunkt der Aufnahme in die Familie der Großeltern erzieherischer Bedarf im Sinne des § 27 SGB VIII vorlag, kommt es für den jetzt geltend gemachten Anspruch nicht mehr an.
Nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege durch die Großeltern nur dann, wenn die Großeltern die Betreuung ihres Enkelkindes nicht in Erfüllung ihrer Unterhaltspflicht leisten und zur unentgeltlichen Pflege nicht bereit sind. In diesem Zusammenhang ist dann im Einzelfall zu prüfen, ob die Pflegepersonen ihre Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege des Kindes zurückziehen und das Pflegekind ernsthaft vor die Alternative stellen, für die Entlohnung der Pflegeperson zu sorgen oder auf die Betreuungsdienste verzichten zu müssen, oder ob die Großeltern lediglich deutlich gemacht haben, für die Pflege des Kindes eine Gegenleistung erhalten zu wollen. Zur Überzeugung des Gerichts ist vorliegend letzterer Fall gegeben; die Kläger haben nicht erklärt, zur weiteren unentgeltlichen Pflege definitiv nicht bereit zu sein und ohne Gewährung des Pflegegeldes die Pflege ihres Enkelsohnes aufgeben zu wollen.
Die den Anspruch auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege im Sinne der o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließende Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege ist allerdings nur dann anzunehmen, wenn die Großeltern nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der Lage sind, den notwendigen Unterhalt ihres Enkelkindes sicherzustellen oder wenn sein Bedarf mit eigenen Mitteln oder von anderen, besonders von den Eltern gedeckt wird. Unabhängig von der Frage des eigenen Einkommens der Kläger ist der notwendige Unterhalt von M. durch die Unterhaltsleistungen seiner Eltern und das Kindergeld gedeckt. Im streitgegenständlichen Zeitraum erhielt M. an Unterhaltsleistungen 434,85 DM vom Vater und 284,15 DM von der Mutter; an Kindergeld wurden 270,00 DM gezahlt. Diesem Betrag von 989,00 DM steht ein monatlicher Pauschalbetrag bei Vollzeitpflege für materielle Aufwendungen (RdErl. des MK v. 29.11.2000, Nds. MBl., 16) in Höhe von 890,00 DM gegenüber. Der Unterhalt und das Kindergeld decken deshalb den - zulässigerweise pauschal durch Erlass des Kultusministeriums festgesetzten (Nds. OVG, Urt. v. 10.03.1999 - 4 L 2667/98 -, FEVS 51, 80) - Bedarf ab. Der Anteil "Kosten der Erziehung" in Höhe von 371,00 DM monatlich in diesem Pauschalbetrag ist für die vorliegende Betrachtung nicht relevant, weil nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (E v. 28.10.1998, a.a.O.) für die Frage, ob eine freiwillige unentgeltliche Leistung der Großeltern oder eine Leistung im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht anzunehmen ist, lediglich darauf abzustellen ist, ob der notwendige Unterhalt des Enkelkindes durch die Eltern gedeckt wird.
Der Anspruch auf Bewilligung von Pflegegeld nach § 39 SGB VIII an die Kläger als das Enkelkind pflegende Großeltern scheitert also nicht nur daran, dass die Kläger das Pflegegeld nach § 39 SGB VIII unabhängig von einer Erziehung in Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII versuchen einzuklagen, wohingegen das Pflegegeld nach dem o.G. lediglich als Annex zu einer Erziehung in Vollzeitpflege gewährt werden kann, sondern der Anspruch scheitert auch daran, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege voraussetzt, dass die Großeltern nicht freiwillig oder im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht den notwendigen Bedarf des Enkelkindes sicherstellen.
Nach alledem ist die Klage mit der Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.