Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 26.02.2002, Az.: 5 A 111/01

Altarzneimittel; Arzneimittel; Etikettierung; freier Warenverkehr; Gemeinschaftsrecht; Hinweispflicht; Humanarzneimittel; Nachzulassung; Nachzulassungsstau; Nachzulassungsverfahren; Packungsbeilage; ungeprüfte Arznei; Verkehrsverbot; Warnhinweis; Übergangsvorschrift

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
26.02.2002
Aktenzeichen
5 A 111/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 42338
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.

2. Der Europäische Gerichtshof wird um eine Vorabentscheidung zu folgender Frage gebeten:

Ist die Richtlinie 92/27/EWG des Rates vom 31. März 1992 über die Etikettierung und die Packungsbeilage von Humanarzneimitteln (ABl Nr. L 113/8 vom 30.4.1992) in Verbindung mit der Richtlinie 65/65 EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (ABl vom 9.2.1965, Seite 369/65) und der zweiten Richtlinie 75/319 EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (ABl vom 9.6.1975, Nr. L 147/13) hilfsweise der Grundsatz des freien Warenverkehrs (Art. 28 EG-Vertrag konsolidierte Fassung) dahin auszulegen, dass Gemeinschaftsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach bei sogenannten Altarzneimitteln, die seit langem im Verkehr, aber noch im Nachzulassungsverfahren sind, auf der - im Übrigen Gemeinschaftsrecht entsprechenden - Packungsbeilage folgender Hinweis aufgenommen werden muss:

"Dieses Arzneimittel ist nach den gesetzlichen Übergangsvorschriften im Verkehr. Die behördliche Prüfung auf pharmazeutische Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ist noch nicht abgeschlossen."

Gründe

1

Die Klägerin ist ein pharmazeutisches Unternehmen, das u.a. die Arzneimittel

2

E. Kapseln, E. forte Dragees,

3

E. N Tabletten, E. N Lösung,

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R. Tabletten, R. Lösung, R. plus Dragees, S. forte Beruhigungsdragees und

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V. Depot Dragees

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in den Verkehr bringt. Diese Arzneimittel - sogenannte Altarzneimittel - sind bisher nach dem Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. Dezember 1998 (BGBl. I, Seite 3586), u.a. geändert durch das 10. Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 4. Juli 2000 (BGBl. I, Seite 1002) noch nicht nachzugelassen worden. Entsprechende Verfahren laufen vor der zuständigen Bundesoberbehörde, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit Sitz in Bonn.

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Die Klägerin ist der Ansicht, sie sei entgegen § 109 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 AMG i.d.F. des 10. Änderungsgesetzes (a.a.O.) nicht verpflichtet, ab 1.8.2001 in die Packungsbeilage der vorgenannten Arzneimittel den Hinweis aufzunehmen: "Dieses Arzneimittel ist nach den gesetzlichen Übergangsvorschriften im Verkehr. Die behördliche Prüfung auf pharmazeutische Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ist noch nicht abgeschlossen."

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Die genannte Regelung des § 109 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 AMG sei mit der Richtlinie 92/27 EWG DES RATES vom 31. März 1992 über die Etikettierung und die Packungsbeilage von Humanarzneimitteln (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 113/8 vom 30.4.92) nicht zu vereinbaren und deshalb unwirksam. Die Bestimmung führe zu einem Vertriebsverbot, wie es von der EG-Richtlinie gerade nicht gewollt sei.

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Der Durchschnittspatient habe keine Kenntnisse von der Bedeutung der Detailbegriffe "Pharmazeutische Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit." Durch den verlangten Hinweis werde der Eindruck erweckt, dass es sich hierbei um ein ungeprüftes Arzneimittel handele. Dies wiederum führe bei dem Verbraucher zu dem Ergebnis, dass er dem Arzneimittel mit einer gewissen Skepsis gegenübertrete. Welcher Verbraucher werde schon gerne Arzneimittel einnehmen, die noch nicht geprüft seien. Dem Hinweis sei nicht zu entnehmen, dass es sich um ein lange bewährtes Arzneimittel handele. Die Unsinnigkeit und Irreführung des Hinweises ergebe sich auch daraus, dass vom pharmazeutischen Unternehmer nicht zu verantworten sei, ob ein Arzneimittel bereits die Nachzulassung erfolgreich durchschritten habe; dies werde vielmehr im willkürlichen Auswahlverfahren durch die zuständige Bundesoberbehörde für Arzneimittel entschieden. So seien Fälle denkbar, dass ein Arzneimittel bereits die Nachzulassung (oder eine Neuzulassung) erreicht habe, während ein wirkstoffidentisches Arzneimittel sich noch in der Nachzulassung befinde. Ein und derselbe Wirkstoff sei somit einmal mit dem hier streitigen Hinweis zu versehen, das mit Glück behaftete Konkurrenzpräparat jedoch nicht. Dies belege in schöner Deutlichkeit, dass es sich hier um einen unsinnigen, mehr der Verwirrung dienenden Hinweis handele. Beispielhaft werde auf nachfolgende Fälle verwiesen:

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E. =Jarsin 300 100 Dragees N 3; Zul.-Nr. 37039.00.00
E.N Lösung =Echinacea Ratiopharm Liquid; Zul.-Nr. 6029885.00.00
S.forte.dragees = Baldrian Dispert Nacht; Zul.-Nr. 6114264.00.00
R.=Cimicifuga ratiopharm, Zul.-Nr. 38876.00.00.
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Der Nachzulassungsstau sei einzig und allein von dem Gesetzgeber und der zuständigen Bundesoberbehörde zu vertreten. Ein derartiger Organisationsmangel könne aber nicht zu Lasten des Unternehmers gehen. So sei das 10. Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes v. 04. Juli 2000 (a.a.O.) z.B. auf die "mit Gründen versehene Stellungnahme" der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 21.10.1998, gerichtet an die Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 169 des EG-Vertrages betreffend die Richtlinie 65/65 EWG des Rates zurückzuführen. In dieser Stellungnahme rügte die Kommission die nach dem deutschen Arzneimittelgesetz getroffene Regelung bezüglich der Nachzulassung von Altarzneimitteln als Verstoß gegen die Richtlinie des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (65/65 EWG) i.V.m. der zweiten Richtlinie des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (75/319 EWG). Die Klägerin ist der Ansicht, dass, selbst wenn nach dem Gemeinschaftsrecht die erwähnten Arzneimittel spätestens seit 21. Mai 1990 hätten nachzugelassen worden sein müssen, um in Verkehr gebracht werden zu dürfen, dieses Versäumnis, welches allein die Bundesrepublik Deutschland zu vertreten habe, nicht den diskriminierenden in § 109 AMG vorgesehenen Hinweis rechtfertige. Hinzu komme, dass sich die erwähnten wirksamen Präparate nunmehr seit Jahrzehnten ohne den Hinweis problemlos im Verkehr befunden hätten. Einen gesundheitsrelevanten Anlass für diesen Hinweis gebe es nicht. Die einzige Lösung hinsichtlich der nicht geprüften Arzneimittel wäre, dass der Gesetzgeber und die zuständige Bundesoberbehörde endlich den ihnen obliegenden Pflichten nachkommen und die Nachzulassung nunmehr zügig bearbeiten. Diese Säumnis könne aber nicht durch derartige Hinweise auf den pharmazeutischen Unternehmer abgewälzt werden.

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Die beanstandete Regelung verstoße auch gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs (Art. 28 ff EG-Vertrag - konsolidierte Fassung), weil sie zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen nicht gerechtfertigt sei.

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Demgegenüber ist die Beklagte der Ansicht, die umstrittene Regelung verstoße nicht gegen Gemeinschaftsrecht:

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Die Richtlinie 92/27 EWG vom 31. März 1992 sei auf noch im Nachzulassungsverfahren befindliche (Alt-) Arzneimittel nicht anwendbar. Im Übrigen fordere die Richtlinie 65/65 EWG i.V.m. der Richtlinie 75/319 EWG, dass seit dem Stichtag 21.5.1990 für sämtliche auf dem Markt befindlichen Arzneimittel Genehmigungen für das Inverkehrbringen gemäß Artikel 3 der Richtlinie 65/65 EWG ausgestellt sein müssten, anderenfalls sie nicht mehr in den Verkehr gebracht werden dürften. Streng genommen gelte dies bis zu einem erfolgreich durchgeführten Genehmigungsverfahren nach wie vor, so dass mit dem Hinweis auf die gesetzlichen Übergangsvorschriften in der Packungsbeilage letztlich sogar ein milderes Mittel zur Anwendung gekommen sei. Es handele sich auch nicht um eine Diffamierung, sondern vielmehr solle für den Verbraucher Transparenz über den gegenwärtigen Status des Arzneimittels hergestellt werden; gerade diese Transparenz sei wesentlich für eine umfassende gesundheitliche Aufklärung.

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Das Gericht hält nach dem bisherigen Sach- und Streitstand eine Vorabentscheidung des EUGH über die gestellte Frage zum Erlass seines Urteils für erforderlich