Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.07.2008, Az.: 5 LA 231/08
Begründung eines Anspruchs auf Rücknahme bei einer von Anfang an rechtswidrig verfügten Teilzeitbeschäftigung bei Lehrern; Schlechthin unerträglich erscheinende Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts als Voraussetzung eines Rücknahmeanspruchs; Ermessensreduzierung bei einem offensichtlich rechtswidrigen Bescheid zum Erlasszeitpunkt
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 22.07.2008
- Aktenzeichen
- 5 LA 231/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 23594
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2008:0722.5LA231.08.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Lüneburg - 03.05.2004 - AZ: 1 A 390/00
- nachfolgend
- OVG Niedersachsen - 13.01.2009 - AZ: 5 LB 312/08
- BVerwG - 23.09.2009 - AZ: BVerwG 2 B 35.09
- BVerwG - 24.02.2011 - AZ: BVerwG 2 C 50.09
Rechtsgrundlagen
- § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG
- § 51 Abs. 5 VwVfG
Amtlicher Leitsatz
Orientierungssatz:
Einstellungsteilzeit bei Lehrern; zum Anspruch auf Rücknahme der Teilzeitbeschäftigungsverfügung
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem die Beklagte u. a. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend macht, hat Erfolg.
Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458<1459>). Die Richtigkeitszweifel müssen sich allerdings auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (Nds. OVG, Beschl. v. 30.4.2008 - 5 LA 200/07 -; BVerwG, Beschl. v. 10. 3. 2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, DVBl. 2004, 838<839>).
Vorliegend hat die Beklagte die entscheidungserhebliche Feststellung des Verwaltungsgerichts, es bestehe ein Anspruch der Klägerin auf Rücknahme der verfügten Teilzeitbeschäftigung mit Bescheid vom 22. Januar 1999 unter Aufhebung des Bescheides vom 6. September 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2000, weil das Festhalten der Beklagten an der Bestandskraft des Bescheides vom 22. Januar 1999 für die Klägerin schlechthin unerträglich sei und daher das über § 51 Abs. 5 VwVfG i. V. m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eröffnete Rücknahmeermessen sich auf einen Anspruch auf Rücknahme dieses Bescheides verdichtet habe, durch ihre Darlegungen im Berufungszulassungsantrag mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt.
Das über § 1 Abs. 1 NVwVfG, § 51 Abs. 5 VwVfG i. V. m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eröffnete Rücknahmeermessen belegt, dass ein zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führender Rechtsverstoß nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die Rücknahme und einen darauf zielenden Anspruch bildet (vgl.: BVerwG, Urt. v. 20.3.2008 - BVerwG 1 C 33.07 -, zitiert nach [...] Langtext, Rn. 12). Allein der Umstand also, dass sich die vorliegend verfügte Teilzeitbeschäftigung - im Nachhinein - wegen Verstoßes gegen hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums als von Anfang an rechtswidrig erweist (vgl. dazu: BVerfG, Beschl. v. 19.9.2007 - 2 BvF 3/02 -, NVwZ 2007, 1396 ff.), vermag für sich gesehen einen Anspruch auf Rücknahme nicht zu begründen. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Facetten des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander, sofern dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist (vgl. nur: BVerwG, Urt. v. 20.3.2008 - BVerwG 1 C 33.07 -, zitiert nach [...] Langtext, Rn. 12 m. w. N.).
Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit - hiervon ist auch das Verwaltungsgericht ausgegangen - besteht aber ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" erscheint, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (std. Rspr.; vgl. dazu nur: BVerwG, Beschl. v. 15.3.2005 - 3 B 86.04 -, Buchholz 451.90 Sonstiges Europäisches Recht Nr. 200 = DÖV 2005, 651 m. w. N.). Das Festhalten an einem solchen Verwaltungsakt ist immer dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Urt. v. 20.3.2008 - BVerwG 1 C 33.07 -, zitiert nach [...] Langtext, Rn. 12 - 14 m. N.).
Anhand dieses Maßstabes bestehen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils, in dem das Verwaltungsgericht eine Reduzierung des Rücknahmeermessens vor allem mit der offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 22. Januar 1999 begründet hat. Nach Auffassung des Senats erweist sich indes der Bescheid nicht deshalb als offensichtlich rechtswidrig, weil das Bundesverwaltungsgerichtmit Urteil vom 2. März 2000 (- BVerwG 2 C 1.99 -, BVerwGE 110, 363) sowie nachfolgend mit Beschluss vom 18. Juni 2002 (- BVerwG 2 B 12.02 -, Buchholz 237.6 § 80c NdsLBG Nr. 1) und auch der beschließende Senat mit Urteil vom 13. Dezember 2001 (- 5 LB 2723/01 -, OVGE MüLü 49, 322 ff. = NordÖR 2002, 134 ff.) entschieden haben, dass eine Teilzeitbeschäftigung gegen den Willen des neu eingestellten Beamten rechtswidrig ist. Denn für die Beurteilung der offensichtlichen Rechtswidrigkeit als ein das Rücknahmeermessen reduzierender Umstand ist - wie schon ausgeführt wurde - nicht auf die Verhältnisse in dem Zeitpunkt abzustellen, in dem die Rechtswidrigkeit offensichtlich geworden ist, sondern auf den Zeitpunkt des Bescheides, der zurückgenommen werden soll. Nur wenn zum Erlasszeitpunkt der Bescheid bereits offensichtlich rechtswidrig gewesen ist, kommt nach der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung aus diesem Grunde eine Ermessensreduzierung in Betracht. Der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts schließt sich der Senat an, da nur bei einer schon zum Erlasszeitpunkt gegebenen offensichtlichen Rechtswidrigkeit eine Durchbrechung des Prinzips der Rechtssicherheit und ein Vorrang des Gebots der materiellen Gerechtigkeit als gerechtfertigt angesehen werden kann. Dementsprechend können die zur Klärung der Rechtslage führenden und vom Verwaltungsgericht genannten Entscheidungen nicht die Annahme einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides vom 22. Januar 1999 stützen, da sie in zeitlicher Hinsicht nachfolgend ergangen sind. Dies gilt auch für das vom Verwaltungsgericht angeführte Urteil des Senats vom 27. November 2001 (- 5 LB 1309/01 -, NordÖR 2002, 307 ff. = NdsRpfl. 2002, 301 ff.), das schon deshalb nicht die verwaltungsgerichtliche Auffassung stützen kann, weil es sich mit der Zusicherung der Übernahme in das Beamtenverhältnis im Rahmen einer arbeitsvertraglichen Nebenabrede beschäftigt. Die Beklagte hat in ihrer Begründungsschrift zutreffend darauf hingewiesen, dass die Rechtswidrigkeit einer Teilzeitbeschäftigung gegen den Willen des neu eingestellten Beamten aus arbeitsmarktpolitischen Gründen zum damaligen Zeitpunkt nicht hinreichend geklärt war.
Soweit sich das Verwaltungsgericht des Weiteren auf die vor dem streitgegenständlichen Bescheid ergangenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zur obligatorischen Teilzeitbeschäftigung neu eingestellter Beamter stützt (vgl. BVerwG, Urt. v. 6.7.1989 - BVerwG 2 C 52.87 -, BVerwGE 82, 196 ff.;Beschl. v. 4.3.1992 - BVerwG 2 B 18.92 -, Buchholz 232 § 72a BBG Nr. 2 =DVBl. 1992, 917 f.), geht es selbst davon aus, dass diese Entscheidungen nicht für die Annahme einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 22. Januar 1999 ausreichen.
Ob allein wegen des vom Verwaltungsgericht ebenfalls angenommenen widersprüchlichen Verhaltens der Beklagten, wegen des Verstoßes gegen Art. 3 GG und unter Fürsorgegesichtspunkten eine Reduzierung des Rücknahmeermessens gegeben ist, bleibt der Klärung im Berufungsverfahren vorbehalten. Das Verwaltungsgericht hat diese Gesichtspunkte lediglich ergänzend zu der von ihm als gegeben erachteten offensichtlichen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides angeführt, um seine Auffassung zu bekräftigen.
Ebenso ist dem Berufungsverfahren die Klärung der Frage vorzubehalten, ob dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere, für einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 22. Januar 1999 sprechende Wertung zu entnehmen ist. Diese Frage ist nicht im Einzelnen, sondern nur allgemein unter Hinweis auf die Fürsorgepflicht der Beklagten vom Verwaltungsgericht erörtert und nicht zum Gegenstand des Zulassungsverfahrens gemacht worden. Es ist im Rahmen des Zulassungsverfahrens nicht ersichtlich, dass sich aus Gründen des Fachrechts das angefochtene Urteil als richtig erweist und daher der Zulassungsantrag abzuweisen wäre.
Da die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorliegen, kann dahingestellt bleiben, ob die weiter geltend gemachten Zulassungsgründe der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache ( § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) oder der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) vorliegen.
Das Zulassungsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar ( § 152 Abs. 1 VwGO).