Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.04.2005, Az.: 8 LA 319/04

Ausweisungsgrund; Ausweisungsschutz; Flüchtling; Flüchtlingsanerkennung; Verbrauch; Verbrauch eines Ausweisungsgrundes; Vertrauensschutz; Widerruf

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.04.2005
Aktenzeichen
8 LA 319/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 50642
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 08.10.2004 - AZ: 10 A 3058/04

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Dass die Ausländerbehörde einem als Flüchtling anerkannten Ausländer in Kenntnis der von ihm begangenen Straftaten eine Aufenthaltsbefugnis erteilt und verlängert hat, steht nach dem bestandskräftigen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung der Versagung einer neuen Aufenthaltsgenehmigung unter Berufung auf diese Straftaten als Ausweisungsgrund nicht entgegen, wenn der Ausländer zuvor aufgrund seiner Rechtsstellung als Flüchtling wegen dieser Straftaten weder ausgewiesen werden konnte noch ihm die Aufenthaltsbefugnis versagt werden durfte.

Gründe

1

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt erfolglos, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 VwGO nicht vorliegen.

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Das Verwaltungsgericht hat die vorrangig auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AuslG zugunsten des Klägers zu 1) gerichtete Klage abgewiesen. Gemäß § 35 Abs. 1 AuslG könne einem Ausländer, der seit acht Jahren eine Aufenthaltsbefugnis besitze, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn u. a. die in § 24 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 AuslG bezeichneten Voraussetzungen vorlägen. Gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG dürfe demnach kein Ausweisungsgrund gegeben sein. Ein solcher läge hier jedoch gemäß § 46 Nr. 2 AuslG vor. Der Kläger zu 1) sei mehrfach straffällig geworden, u. a. im November 2000 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden. Dadurch habe er nicht nur vereinzelte oder geringfügige Verstöße gegen Rechtsvorschriften im Sinne des § 46 Nr. 2 AuslG begangen. Auf diese Verstöße dürfe auch zurückgegriffen werden, obwohl die Beklagte dem Kläger zu 1) die Aufenthaltsbefugnis noch im November 2002 und damit nach seiner letzten Verurteilung vom Februar 2001 verlängert habe. Dieses Vorgehen sei allein dem Umstand geschuldet gewesen, dass der Kläger zu 1) im November 2002 noch Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG genossen habe. Diese Rechtsposition sei erst im Januar 2003 bestandskräftig widerrufen worden. Dadurch sei der Beklagten der Rückgriff auf die Straftaten als Ausweisungsgrund wieder eröffnet worden. Deshalb könne dem Kläger zu 1) weder eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 35 Abs. 1 AuslG noch eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 und 4 AuslG erteilt werden. Für seine aufenthaltsrechtliche Stellung sei es auch unerheblich, ob die Beklagte zu Recht der ihm im November 2002 erteilten Aufenthaltsbefugnis die auflösende Bedingung beigefügt habe, dass diese Aufenthaltsbefugnis mit "rechtskräftiger " Entscheidung über den Widerruf der Rechtsstellung gemäß § 51 (Abs. 1) AuslG erlösche. Ihm dürfe nunmehr schon wegen des Vorliegens eines Ausweisungsgrundes keine neue Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden, so dass er seine aufenthaltsrechtliche Rechtsposition selbst beim Erfolg dieses Anfechtungsantrages nicht verbessern könne. Für eine Klärung der Frage, ob der Aufenthaltsbefugnis vom November 2002 die angeführte auflösende Bedingung habe beigefügt werden dürfen, fehle dem Kläger zu 1) deshalb das erforderliche Rechtsschutzinteresse.

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Die dagegen angeführten Argumente verhelfen dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg.

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Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich aus der Begründung des Berufungszulassungsantrages nicht. Die Kläger vertreten die Ansicht, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht von einem sog. relativen Verwertungsverbot ausgegangen sei. Vielmehr bestehe ein uneingeschränktes Verwertungsverbot. Der Rückgriff auf die Straftaten des Klägers zu 1) als Ausweisungsgrund gemäß § 46 Nr. 2 AuslG sei verbraucht, weil die Beklagte als zuständige Ausländerbehörde die Aufenthaltsbefugnis des Klägers zu 1) in Kenntnis seiner Verurteilungen verlängert habe. Läge daher kein solcher Ausweisungsgrund vor, so seien die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 AuslG erfüllt mit der Folge, dass die Beklagte über den Antrag des Klägers zu 1) auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 35 Abs. 1 AuslG ermessensgerecht habe entscheiden müssen. An einer solchen Ermessensentscheidung mangele es.

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Die Kläger gehen jedoch fehl in ihrer Annahme, dass eine Ausländerbehörde, die in Kenntnis eines Ausweisungsgrundes dem Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt oder verlängert hat, ausnahmslos daran gehindert ist, wegen dieses Ausweisungsgrundes später die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung abzulehnen. Einen solchen Rechtssatz gibt es nicht. Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AuslG i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG kann eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn kein Ausweisungsgrund nach § 46 Nr. 2 AuslG vorliegt. Der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz des Vertrauensschutzes gebietet zwar eine einschränkende Auslegung dieser Voraussetzung. Danach liegt kein “Ausweisungsgrund“ (mehr) vor, wenn die Ausländerbehörde in Kenntnis dieses Ausweisungsgrundes dem Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt oder verlängert hat und der Ausländer deshalb darauf vertrauen darf, dass dieser Grund “verbraucht“ ist. Der aus einem solchen Verhalten der Ausländerbehörde folgende "Verbrauch eines Ausweisungsgrundes" gilt aber nicht ausnahmslos, sondern findet seine Grenzen in der Herleitung aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes. Der dem Ausländer durch das Verhalten der Ausländerbehörde vermittelte Schutz steht unter dem Vorbehalt, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.11.1999 - C 11/99 -, DVBl. 2000, 425 ff.). In der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung an den Ausländer kann daher nicht ein Vertrauensschutz begründender Verzicht auf eine Ausweisung gesehen werden, wenn eine solche aufenthaltsbeendende Maßnahme zurzeit der Entscheidung über die Aufenthaltsgenehmigung rechtlich gar nicht möglich war (vgl. BVerfG - Vorprüfungsausschuss -, Beschl. v. 19.8.1983 - 2 BvR 1284/83 -, NVwZ 1983, 667 f.; GK-AuslR, § 45, Rn. 736). Ein solcher, ausnahmsweise Vertrauensschutz nicht begründender Sachverhalt war vorliegend bei der Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis an den Kläger zu 1) gegeben.

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Dem Kläger zu 1) ist die Aufenthaltsbefugnis gemäß § 70 Abs. 1 AsylVfG a. F. wegen seiner Anerkennung als Flüchtling gemäß § 51 Abs. 1 AuslG gewährt worden. Kraft dieser Rechtsstellung besaß er gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AuslG besonderen Ausweisungsschutz. Er konnte nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche Gründe lagen gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1 AuslG vor. Die darin geregelten Voraussetzungen für eine Ausweisung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erfüllte der Kläger zu 1) nicht. So schwer wogen seine Straftaten nicht. Solange er als Flüchtling anerkannt war und deshalb besonderen Ausweisungsschutz gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AuslG genoss, konnte er daher wegen der Begehung der in Rede stehenden Straftaten nicht ausgewiesen werden. Ebenso wenig durfte ihm die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis versagt werden. Gemäß § 70 Abs. 2 AsylVfG a. F. hätte es dazu ebenfalls der hier fehlenden schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bedurft. Diesen Schutz genoss der Kläger zu 1) auch bei der letztmaligen Verlängerung seiner Aufenthaltsbefugnis im November 2002 noch, da seine Flüchtlingsanerkennung zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestandskräftig widerrufen worden war. War daher bis dahin weder seine Ausweisung noch die Versagung der Aufenthaltsbefugnis rechtlich möglich, so durfte die Ausländerbehörde nach dem seit Januar 2003 bestandkräftigen Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung und dem damit verbundenen Wegfall seines besonderen Schutzes grundsätzlich auf diese Straftaten als Ausweisungsgrund gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1, § 24 Abs. 1 Nr. 6 i. V. m. § 46 Nr. 2 AuslG zurückgreifen. Dass einem solchen Rückgriff andere Gründe, etwa der Zeitablauf seit der letzten Verurteilung im Jahr 2001, entgegenstehen, haben die Kläger nicht geltend gemacht und ist auch für das Gericht nicht ersichtlich. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der tragenden Erwägung des verwaltungsgerichtlichen Urteils bestehen daher nicht.

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Steht dem Kläger zu 1) wegen des Vorliegens eines Ausweisungsgrundes kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AuslG, § 104 Abs. 1 Satz 1 AufenthG oder auf Erteilung einer sonstigen Aufenthaltsgenehmigung zu, so kann dahinstehen, ob die ihm im November 2002 erteilte Aufenthaltsbefugnis durch Eintritt der auflösenden Bedingung - Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung - bereits am 3. Januar 2003 oder erst durch Fristablauf am 25. Mai 2003 unwirksam geworden ist. Auch im letztgenannten Fall würde sich seine Rechtsposition nicht verbessern. Für eine gerichtliche Klärung dieser Frage fehlt ihm somit das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Hiervon ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellung bestehen nicht und werden von den Klägern auch nicht dargelegt. Daher kommt es nicht mehr entscheidungserheblich auf die weitere von ihnen aufgeworfene Frage an, ob § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG, wonach die Aufenthaltsgenehmigung nur widerrufen werden kann, wenn die Flüchtlingsanerkennung erloschen oder unwirksam geworden ist, der Ausländerbehörde verbietet, eine Aufenthaltsgenehmigung mit der auflösenden Bedingung des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung zu versehen.

8

Die die Entscheidung tragende Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis für den Kläger zu 1) die von ihm begangenen Straftaten als Ausweisungsgrund gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1, § 24 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 46 Nr. 2 AuslG entgegenstehen und dass der Beklagten ein Rückgriff auf diesen Ausweisungsgrund nicht versagt ist, ist aus den angeführten Gründen zutreffend. Die Rechtssache weist insoweit weder die geltend gemachten besonderen rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf noch kommt ihr eine grundsätzliche Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu.