Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 06.09.2022, Az.: 19 UF 92/22
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 06.09.2022
- Aktenzeichen
- 19 UF 92/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 55882
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Verden - 30.05.2022 - AZ: 5 F 96/22
- AG Verden - 29.06.2021 - AZ: 5 F 144/21
In der Familiensache
betreffend den Umgang mit
A. H., geboren am 11. September 2013,
Verfahrensbeistand:
Rechtsanwalt D. K.,
Beschwerdeführer,
weitere Beteiligte:
1. Amtspfleger: Landkreis V., Fachdienst Jugend und Familie, Amtsvormundschaften/Amtspflegschaften,
...
Antragsgegner, Beschwerdeführer und Beschwerdegegner,
2. S. H.-R., ...,
Antragsteller, Beschwerdegegner und Beschwerdeführer,
3. N. H., ...,
Antragstellerin, Beschwerdegegnerin und Beschwerdeführerin,
Verfahrensbevollmächtigte zu 2 und 3:
Rechtsanwältin A. Z.,
4. Landkreis V., Fachdienst Jugend und Familie, ASD, ...,
hat der 19. Zivilsenat - Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts
Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. G., den
Richter am Oberlandesgericht V. und die Richterin am Oberlandesgericht C.
am 6. September 2022 beschlossen:
Tenor:
- I.
Auf die Beschwerden des Amtspflegers und des Verfahrensbeistandes und unter Zurückweisung der Beschwerde der Kindeseltern wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Verden (Aller) vom 30. Mai 2022 geändert.
Die Umgangsregelung in dem Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Verden (Aller) vom 29. Juni 2021 (Az.: 5 F 144/21 UG) wird dahingehend abgeändert, dass der Umgang der Kindeseltern mit dem Kind A. H., geboren am 11. September 2013, bis zum 1. September 2024 ausgesetzt wird.
Bei einer schuldhaften Zuwiderhandlung gegen den Umgangsausschluss kann Ordnungsgeld bis zur Höhe von 25.000 € und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft gegenüber dem jeweils verpflichteten Elternteil angeordnet werden (§ 89 Abs. 1 und 3 FamFG), worauf hier von Gesetzes wegen (§ 89 Abs. 2 FamFG) hingewiesen wird.
- II.
Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt.
- III.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Beteiligten zu 2. und 3. sind die Eltern des hier betroffenen Kindes A. H., geboren am 11. September 2013. A. lebt seit dem 13. April 2019 in der Pflegefamilie S..
Das Amtsgericht Verden hat in dem Verfahren 5 F 86/19 mit Beschluss vom 4.April 2019 im Wege der einstweiligen Anordnung den Kindeseltern die elterliche Sorge für A. in den Bereichen der Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge sowie des Rechts, öffentliche Hilfen zu beantragen, entzogen und auf das Jugendamt des Landkreises V. als Pfleger übertragen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Kindeseltern hat der Senat durch Beschluss vom 26. Juni 2019 (19 UF 91/19) zurückgewiesen.
In dem Umgangsverfahren 5 F 144/21 UG hat das Amtsgericht -Familiengericht- Verden (Aller) den Umgang der Kindeseltern mit A. zuletzt durch Beschluss vom 29. Juni 2021 geregelt. Danach haben die Kindeseltern das Recht zum Umgang mit A. an jedem ersten Dienstag im Monat von 16:00 Uhr bis 17:00 Uhr. Der Umgang findet in Begleitung von Frau A. O. vom Verein S. e.V. an einem von der Umgangsbegleiterin zu bestimmenden Ort statt.
In dem hier vorliegenden Verfahren begehren die Kindeseltern mit ihrem am 22. März 2022 bei dem Amtsgericht eingegangenen Antrag eine Ausweitung der Umgangskontakte dahingehend, dass A. berechtigt sein soll, wöchentliche mehrstündige Umgangskontakte mit ihren Eltern und ihrem Bruder C. im Haushalt der Kindeseltern wahrzunehmen.
Unter dem 11. April 2022 teilte der Amtspfleger mit, dass eine Traumatherapie für A. als notwendig angesehen werde. Ak. zeige soziale Auffälligkeiten in der Pflegefamilie, z. B. Lügen, Entwenden von Dingen. In der therapeutischen Praxis G. S. habe A. sich beim Ersttermin schnell geöffnet. Die Therapeutin habe mitgeteilt, dass bei A. eine so genannte Traumafolgestörung indiziert werden könne. Sofern eine Therapie stattfinden solle, müsse der Umgang zu den Eltern aufgrund der ständigen Retraumatisierung komplett unterbunden werden.
Das Jugendamt berichtete unter dem 12. April 2022. Die Umgangsbegleiterin habe mitgeteilt, dass A. während der Umgänge häufig in Loyalitätskonflikte gebracht werde. Der Lebensmittelpunkt des Kindes in der Pflegefamilie werde hinterfragt. Anlässlich eines Umgangskontaktes habe die Kindesmutter A. ins Ohr geflüstert, dass die Familie um sie kämpfe und sie zurück in den elterlichen Haushalt hole. Im Übrigen habe die Umgangsbegleiterin mitgeteilt, dass die Umgänge von den leiblichen Eltern altersentsprechend gestaltet würden. A. werde aber zwischen den Wünschen und Erwartungen der Erwachsenen hin und her gerissen. Die Auffälligkeiten von A. hätten stark zugenommen. Sie reagiere in der Schule oft unangemessen und zickig gegenüber Mitschülerinnen. Es falle ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie habe eine massive Wut, die sie auch an Gegenständen auslasse. Gegenüber der Therapeutin habe A. berichtet, dass sie oft Angst gehabt habe und auch geschlagen worden sei. Frau S. empfehle eine Traumatherapie. Die Traumatherapie könne jedoch nur durchgeführt werden, wenn das Kind in Sicherheit sei und nicht durch Kontakte retraumatisiert werde.
Der Verfahrensbeistand teilte unter dem 16. Mai 2022 mit, dass die Traumatherapie am 26. April 2022 begonnen habe. Aus Sicht der Therapeutin sei es für die Dauer der Traumatherapie erforderlich, dass keine Kontakte zur Herkunftsfamilie stattfinden. Der Verfahrensbeistand berichtete, dass A. ihm eine Situation geschildert habe, bei der die Kindesmutter mit ihr im Bad alleine gewesen sei und zu ihr gesagt habe, dass sie für mehr Umgang kämpfen und A. zurückholen würde. Der Verfahrensbeistand hat sich dafür ausgesprochen, die Umgangskontakte für die Dauer der Traumatherapie auszusetzen.
Das Amtsgericht hat A. in Anwesenheit des zuvor bestellten Verfahrensbeistandes am 19. April 2022 persönlich angehört (Bl. 37). Die Kindeseltern, das Jugendamt, der Amtspfleger und der Verfahrensbeistand sind am 17. Mai 2022 persönlich angehört worden.
Durch den angefochtenen Beschluss vom 30. Mai 2022 hat das Amtsgericht -Familiengericht-Verden (Aller) die Umgangsregelung aus dem Beschluss vom 29. Juni 2021 aufrechterhalten mit der Maßgabe, dass die Umgangsbegleitung nunmehr von Frau S. vom Verein S. e.V. wahrgenommen wird. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass die Eltern weiterhin das Recht auf Umgang mit A. an jedem ersten Dienstag im Monat von 16:00 Uhr bis 17:00 Uhr in begleiteter Form haben. Den Antrag der Kindeseltern auf häufigere Umgangskontakte sowie den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Amtsgericht zurückgewiesen. Die Anregung des Jugendamtes und Verfahrensbeistandes auf Umgangsausschluss hat das Amtsgericht ebenfalls zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Amtsgericht ausgeführt, dass den Kindeseltern ein Recht auf Umgang nach § 1684 Abs. 1 BGB zustehe. Ein Ausschlussgrund nach § 1684 Abs. 4 BGB sei nicht ersichtlich. Die Beeinflussungsversuche der Kindesmutter und die offen nach außen getragene Ablehnung der Pflegemutter könnten weiterhin durch die Begleitung der Umgänge unterbunden werden. Diese Umstände seien bereits der Grund dafür gewesen, dass eine Umgangsbegleitung in dem Beschluss vom 29. Juni 2021 angeordnet worden sei. Es sei die Kernaufgabe der Umgangsbegleiterin, die Beeinflussungsversuche zu unterbinden. Gegen einen Umgangsausschluss spreche auch, dass A. deutlich geäußert habe, ihre Eltern auch weiterhin sehen zu wollen. Die anstehende Traumatherapie rechtfertige auch keinen Umgangsausschluss. Es sei nicht ersichtlich, wodurch konkret die Umgänge zu einer Retraumatisierung führen sollen, zumal diese auch weiterhin nur begleitet und in zeitlich sehr begrenztem Umfang stattfinden. Nach Angaben des Amtspflegers würde die Traumatherapie ein bis zwei Jahre benötigen. Unter Beachtung des Kindeswohls und Berücksichtigung des Elterngrundrechts sei es nicht angebracht, den Umgang der Eltern für eine so lange Zeit auszusetzen. Eine Ausweitung des Umgangs komme aber auch nicht in Betracht.
Dagegen wenden sich der Amtspfleger, der Verfahrensbeistand und die Kindeseltern mit ihrer jeweiligen Beschwerde.
Der Pfleger macht geltend, dass die angefochtene Entscheidung eine akute Kindeswohlgefährdung außer Betracht lasse und legt den psychotherapeutischen Kurzbefund der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Dipl.- Heilpädagogin G. S. vom 2. Juni 2022 vor. Die Pflegemutter und die Lehrerin von A. würden im zeitlichen Zusammenhang mit den begleiteten Umgängen körperliche Symptome (Husten, Übelkeit, Kopfschmerzen) und verhaltensauffällige Symptome (Konzentrationsschwierigkeiten, Wut und Zerstörungsimpulse, provokantes Verhalten, Stimmungsschwankungen und Verlustängste) bemerken. A. habe bei Frau S. geschildert, dass sie von ihrer Mutter ausgehende erhebliche körperliche Gewalt (Messerangriff) gegen ihren Vater erlebt habe. Infolge des Erlebten würde A. ihre Mutter als bedrohlich, unberechenbar und gewaltbereit wahrnehmen. Das äußere sich auch in Albträumen mit Todesgefahr und Bewältigungsinhalten, die A. nach ihrem Bekunden durchlebe, und dem bildhaften Aufleben früherer Gewalterfahrungen in ihrem Kopf. Frau S. habe eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, die eine Traumatherapie dringend erforderlich mache. Die Umgangskontakte würden jedes Mal zu einer Konfrontation mit den Erfahrungen führen, die in einem direkten zeitlichen Zusammenhang ihre Ängste aufleben ließen und sich negativ auf ihre seelische und körperliche Entwicklung auswirkten, sodass die therapeutische Aufarbeitung der traumatisierenden Erfahrungen erheblich beeinträchtigt sei. Diese negativen Auswirkungen würden unabhängig davon entstehen, ob der Umgang begleitet oder unbegleitet erfolge. Die Retraumatisierung erfolge durch die bloße Konfrontation mit der Kindesmutter, ohne dass dazu ein weiteres Einwirken durch die Mutter erforderlich sei. Von A. könne keine bewusste Entscheidung gegen den Kontakt zu ihren Eltern verlangt werden.
Der Verfahrensbeistand nimmt Bezug auf die Beschwerdebegründung des Pflegers und schließt sich den Ausführungen an. Er verweist ebenfalls auf den psychotherapeutischen Kurzbefund und meint, dass die Aussetzung des Umgangs zur Durchführung der Therapie zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung erforderlich sei.
Die Kindeseltern verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung. Darüber hinaus begehren sie mit ihrer eigenen Beschwerde eine Ausweitung der Umgangskontakte dahingehend, dass die Begleitung entfällt. Sie tragen vor, dass A. nicht behandlungsbedürftig erkrankt sei. Aus dem Gutachten der Sachverständigen D. aus dem Jahre 2020 würden sich keine Hinweise auf eine Traumatisierung oder Schädigung von A. ergeben. Die Kindeseltern befürchten, dass der Amtspfleger auf das Kind einwirke und eine behandlungsbedürftige Erkrankung konstruiere. Sie meinen, dass das Kindeswohl in der Obhut des Amtspflegers im Hinblick auf die Verweigerung des Umgangs mit den Kindeseltern und durch die anstehende Traumatherapie gefährdet sei. A. habe bis zur Stellung des Antrages auf Umgangserweiterung eine unproblematische Entwicklung genommen. In den Hilfeplänen sei nicht die Notwendigkeit aufgenommen worden, das Kind behandeln zu lassen. Die Kindeseltern meinen, dass A. sich in einem Loyalitätskonflikt befinde, weil die Pflegemutter seit Jahren jede Kommunikation mit den Kindeseltern ablehne. Sie tragen vor, dass sie ihrerseits weder das Kind beeinflussen noch die Pflegemutter ablehnen würden. Sie sind der Auffassung, dass ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zur Frage der Traumatisierung und Behandlungsbedürftigkeit des Kindes A. und zu der Frage, wie die Umgänge angesichts der Entwicklung des Kindes auszugestalten seien und ob der Umgang mit den Kindeseltern aus medizinischer Sicht auszuschließen sei, einzuholen sei.
Unter dem 29. Juni 2022 haben die Kindeseltern bei dem Amtsgericht Verden einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der ihnen die Gesundheitssorge für A. übertragen wird, gestellt, mit dem Ziel, die angestrebte Traumatherapie zu verhindern.
Der Senat hat durch Beschluss vom 30. Juni 2022 die Vollziehung der erstinstanzlichen Entscheidung ausgesetzt und im Wege der einstweiligen Anordnung die Umgangsregelung in dem Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Verden (Aller) vom 29. Juni 2021 (Az.: 5 F 144/21 UG) vorläufig geändert und den Umgang der Kindeseltern mit A. für die Zeit bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens ausgeschlossen.
Der Verfahrensbeistand berichtete unter dem 12. Juli 2022, nachdem er A. am 10. Juli 2022 in der Pflegestelle aufgesucht hatte. A. sei es wichtig gewesen mitzuteilen, dass sie weiterhin bei N. leben wolle. Sie habe sich dahingehend geäußert, dass es nicht so schlimm sei, wenn kein Umgang mit den Eltern stattfinde. Der Verfahrensbeistand meint, dass A. das Begehren der Kindesmutter nach Rückführung und Umgangsausweitung als Bedrohung empfinde, dass sie dies aber nicht äußern könne. Sie könne aber mittlerweile äußern, dass sie nicht zurückwolle.
Das Jugendamt berichtete unter dem 25. Juli 2022, dass sich die familiäre Situation in der Pflegefamilie entspannt habe. A. habe sich in den letzten Wochen positiv entwickelt. A. sei ausgeglichener und ihre schulischen Leistungen hätten sich verbessert.
Am 3. August 2022 meldete sich die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin S. telefonisch bei der Berichterstatterin. Auf den Vermerk vom 8. August 2022, der den Beteiligten zur Kenntnisnahme übersandt wurde, wird Bezug genommen.
Der Senat hat A., die Kindeseltern, den Amtspfleger, den Verfahrensbeistand und das Jugendamt persönlich angehört. Die Therapeutin S. ist als sachverständige Zeugin vernommen worden. Auf das Protokoll vom 18. August 2022 wird verwiesen.
II.
Die gemäß § 58 FamFG statthaften und auch im Übrigen zulässigen Beschwerden des Amtspflegers und des Verfahrensbeistandes führen zu einer Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Hingegen bleibt der zulässigen, insbesondere fristgerecht eingelegten Beschwerde der Kindeseltern in der Sache der Erfolg versagt.
Gemäß §§ 1696 Abs. 1, 2 BGB in Verbindung mit § 1684 Abs. 4 Satz 1, 2 BGB ist eine Abänderung der bisherigen Umgangsregelung, mit der eine Umgangsbegleitung angeordnet wurde, aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen erforderlich, denn die Gefährdung des körperlichen, geistigen und seelischen Wohls von A. kann nur durch eine vollständige und längerfristige Aussetzung der Umgangskontakte mit ihren Eltern abgewendet werden.
Im Grundsatz hat das Kind nach § 1684 Abs. 1 BGB das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil und jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. Das Umgangsrecht der Eltern steht unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Eine Einschränkung des grundrechtlich geschützten Umgangsrechts kommt nur in Betracht, wenn dies nach den Umständen des Einzelfalls zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung erforderlich ist (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30. Juli 2014 - 1 BvR 1530/14 -, juris). Dementsprechend kann das Umgangsrecht gemäß § 1684 Abs. 4 Satz 1, 2 BGB für längere Zeit oder auf Dauer eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, wenn andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre. Eine Gefährdung des Kindeswohls setzt einen bereits eingetretenen Schaden des Kindes oder eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr voraus, dass sich für die weitere Entwicklung des Kindes eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 28. Februar 2012 - 1 BvR 3116/11 -, BVerfGK 19, 295-306, Rn. 21). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Nach dem psychotherapeutischen Kurzbefund der Dipl.-Heilpäd. (FH) G. S. vom 2. Juni 2022 ist A. ein hochtraumatisiertes Kind. Sie zeige alle Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung: unkontrollierte Impulsdurchbrüche, dissoziatives Abspalten und Wegdriften, Flashbacks, motorische und geistige Unruhe, Schreckhaftigkeit, depressives und aggressives Rückzugsverhalten, Kompensationsverhalten und psychosomatische Symptome. Eine Traumatherapie sei dringend indiziert. Eine Traumatherapie sei nur durchführbar, wenn A. keinen Kontakt zur Herkunftsfamilie habe. Jeder Kontakt mit ihrer Familie in der Zeit der traumatherapeutisch orientierten Psychotherapie sei lebensgefährlich. Ohne eine weitere Behandlung sei die weitere Entwicklung von A. ebenfalls gefährdet. Das Jugendamt und der Verfahrensbeistand stimmen dieser Einschätzung uneingeschränkt zu. Der Senat schließt sich dieser Einschätzung nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme und nach dem persönlichen Eindruck von A. in ihrer Anhörung an.
Die Dipl.-Heilpädagogin S. berichtete, dass sie seit dem 4. April 2022 insgesamt 14 Termine mit A. durchgeführt habe. Sie hat überzeugend geschildert, dass sie selbst gemerkt habe, wie A. weggedriftet sei. A. habe von ihren Eltern berichtet, dass sie Schlimmes erlebt habe. A. habe erzählt, dass sie Blut gesehen habe und dass sie davon träume. Sie träume davon jede Nacht und wache auch schweißgebadet auf. Angst sei ein wesentliches Thema. Im Gespräch sei eine Unsicherheit bemerkbar gewesen, was passieren würde, wenn A. doch zurück in den elterlichen Haushalt müsse. Es seien viele Symptome aufgetreten, die eine posttraumatische Belastungsstörung nahelegen würden, wobei die sachverständige Zeugin Flashbacks, Dissoziationen, Alpträume und kompensierende Verhaltensweisen benannte. Die Verhaltensmuster seien jetzt schon pathologisch. A. habe kein Gefühl mehr dafür, was sie tue. Es gebe Dinge, die einfach geschehen würden. Hier würden frühere Mangelerfahrungen zum Ausdruck kommen.
Nach alledem ist A. dringend behandlungsbedürftig. Mit dem Amtspfleger und dem Verfahrensbeistand ist der Senat davon überzeugt, dass A. zu ihrer weiteren Entwicklung auf die Durchführung der Traumatherapie angewiesen ist und dass das körperliche, geistige und seelische Wohl von A. durch weitere - begleitete oder unbegleitete - Umgangskontakte mit den Kindeseltern, die der Traumatherapie entgegenstehen, gefährdet ist. Die sachverständige Zeugin S. hat hierzu überzeugend erläutert, dass eine Traumatherapie erforderlich sei, damit A. Sicherheit erlange, eine Beziehung zu sich selbst herstelle und um Selbstvertrauen zu entwickeln. Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass sie zukünftig selbst süchtig, missbraucht oder Opfer werde.
Anders als die Kindeseltern meinen, ergeben sich bereits aus dem Gutachten der Sachverständigen D. aus dem Jahre 2020 Hinweise auf eine Traumatisierung oder Schädigung von A.. Die Dipl.-Psych. B. D. hat in dem Verfahren 83 F 114/19 des Amtsgerichts Achim ihr Gutachten vom 2. Februar 2020 betreffend A. H. und ihres Bruders C. H., geboren am 27. Oktober 2007 vorgelegt. Die Sachverständige hatte A. im Haushalt der Pflegemutter, im Haushalt der Kindeseltern und in ihrer Fachpraxis jeweils einzeln exploriert. Darüber hinaus hatte sie Gespräche und Telefonate mit der Pflegemutter geführt und mit der Klassenlehrerin von A. telefoniert. Schließlich fanden Spiel- und Interaktionsbeobachtungen statt. Die Sachverständige beschrieb A. in ihrer körperlichen, kognitiven und emotionalen Entwicklung als altersgerecht. Einen besonderen Förderbedarf stellte die Sachverständige nicht fest. Ihr Sozialverhalten habe sich seit ihrer Unterbringung in der Pflegefamilie deutlich verbessert. A. sei offener geworden und in Kontakt mit anderen Kindern gekommen. Vor dem Hintergrund ihrer erlebten häuslichen Situation erschien es nach Einschätzung der Sachverständigen fraglich, ob eine gezeigte Fröhlichkeit im Haushalt der Kindesmutter tatsächlich A. Erleben wiederspiegelte oder ob es sich um eine Abwehr- bzw. Schutzhaltung handelte, um beim Gegenüber keine aggressiven Impulse auszulösen. Bezüglich ihrer emotionalen Befindlichkeit stellte die Sachverständige Unterschiede in Abhängigkeit des Untersuchungsortes und des -themas fest. Im Haushalt der Kindeseltern sei sie sichtbar motorisch unruhig und angespannt gewesen. Bei Thematisierung ihrer Familie habe sie eine deutlich abwehrende Haltung eingenommen. Im Zusammensein mit der Pflegemutter habe sie sich lebendig und mitteilungsfreudig verhalten. Über einen Loyalitätskonflikt hinaus, der A. situativ belaste und der durch Kontakte mit den Kindeseltern oder durch deren Thematisierung bei ihr aktiviert werde, sei A. als zufrieden und fröhlich wahrgenommen worden. A. Beziehung zur Kindesmutter habe sich während der Untersuchung freundlich verhalten dargestellt. Hinweise auf eine tiefergehende Beziehung seien nicht erhoben worden. Das gelte ähnlich für den Vater. Die Kindesmutter habe A. nicht durchgängig als stabile empathische Mutter zur Verfügung gestanden.
Vor diesem Hintergrund ist es gut nachvollziehbar, dass die abwehrende Haltung von A. bei Thematisierung ihrer Familie rund zwei Jahre später weiter zugenommen hat. In diesem Zusammenhang ist auch der von A. in ihrer persönlichen Anhörung durch den Senat erklärte Kindeswille zu berücksichtigen, wonach sie ihre Eltern nicht treffen möchte. Der Amtspfleger berichtete zudem, dass sein Gespräch mit A. regelmäßig zu Ende gegangen sei, wenn er von den Kindeseltern gesprochen habe. Gleichsam reagierte A. in ihrer persönlichen Anhörung durch den Senat auf Fragen zu ihren Wutanfällen gegenüber Freundinnen und zu den Kontakten mit ihren Eltern. Sie begann jeweils zu antworten, blickte dann nach rechts unten und verstummte.
Im Übrigen steht A. nach der insoweit übereinstimmenden Einschätzung aller Beteiligten unter einem erheblichen Loyalitätskonflikt. Die sachverständige Zeugin S. hat dazu ausgeführt, dass A. unter Druck stehe und Entlastung brauche. Sie befinde sich in einem massiven Loyalitätskonflikt. Die Sachverständige D. hatte bereits in ihrem familienpsychologischen Gutachten vom 2. Februar 2020 einen Loyalitätskonflikt von A. beschrieben und ausgeführt, dass künftige Entwicklungserfordernisse von A. in erster Linie auf korrigierende Beziehungserfahrungen abzielen müssten. A. benötige ein stabiles und verlässliches Umfeld mit empathischen, sie haltenden und lenkenden Bezugspersonen, in dem sie emotionale Wärme, Struktur und Schutz genauso erlebt wie Anregungen und altersangemessene Freiheiten. Sie müsse die Erfahrung des Kind-sein-könnens unbelastet von den Bedürfnissen und dem Konflikt der Erwachsenen machen können, um sich so ihren Entwicklungsaufgaben altersgerecht stellen zu können. Diese Ausführungen korrespondieren wiederum mit den Angaben der sachverständigen Zeugin S., die erklärte, dass A. ganz viel Unberechenbarkeit und Gewalt erlebt habe und 100%ige Sicherheit benötige, da sie das Grundgefühl von Geborgenheit und Sicherheit bis heute noch nicht erlebt habe. Ausgehend von diesen im Kern übereinstimmenden fachlichen Einschätzungen führen weitere Umgangskontakte auf dem Boden des bestehenden Loyalitätskonflikts gegenwärtig zu einer Kindeswohlgefährdung.
Die mit Schriftsatz vom 16. August 2022 vorgelegten Nachweise über negative Atemalkoholtests der Kindesmutter aus Anlass der Umgangskontakte mit ihrem Sohn C. H. rechtfertigen keine abweichende Beurteilung. Zu Gunsten der Kindesmutter kann unterstellt werden, dass sie derzeit keinen Alkohol konsumiert und auch bei weiteren Umgangskontakten mit A. keinen Alkohol konsumieren würde. Die gegenwärtige Kindeswohlgefährdung resultiert nicht aus etwaigen aktuellen Schwierigkeiten der Kindeseltern, sondern beruht maßgeblich auf den Schädigungen von A. in der Vergangenheit und ihren Entwicklungserfordernissen für die Zukunft.
Anders als die Kindeseltern meinen, bedarf es zur Feststellung der Kindeswohlgefährdung hier auch nicht der zusätzlichen Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Der Umfang der vom Familiengericht gemäß § 26 FamFG zu fordernden Ermittlungen richtet sich wesentlich nach den materiell-rechtlichen Anforderungen der zu treffenden Entscheidung und ist anhand des konkreten Einzelfalls zu beurteilen. Deshalb muss das Gericht insbesondere die zur Verfügung stehenden Aufklärungs- und Prüfungsmöglichkeiten hinsichtlich entscheidungserheblicher Tatsachen ausschöpfen und sein Verfahren so gestalten, dass es möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen kann (vgl. Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 22. September 2015 - 10 UF 105/15 -, Rn. 34, juris). Dabei sind die Fachgerichte nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen, wenn sie anderweitig über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 12. Dezember 2007 - 1 BvR 2697/07 -, juris; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18. Januar 2006 - 1 BvR 526/04 -, Rn. 18, juris).
Dem Senat steht mit dem familienpsychologischen Gutachten der Dipl.-Psych. D. vom 2. Februar 2020, dem psychotherapeutischen Kurzbefund der Dipl.-Heilpäd. (FH) G. S. vom 2. Juni 2022 sowie den Angaben der Therapeutin in ihrer Vernehmung als sachverständige Zeugin vom 18. August 2022 eine hinreichend sichere Entscheidungsgrundlage zur Verfügung. Von der Einholung eines Sachverständigengutachtens sind insoweit keine weiteren entscheidungserheblichen Erkenntnisse zu erwarten.
Nach alledem war der Umgang der Kindeseltern mit A. für die Dauer von zwei Jahren bis zum 1. September 2024 auszusetzen. Bei der Festsetzung der Frist hat sich der Senat von den telefonischen Angaben der sachverständigen Zeugin leiten lassen. Danach ist die voraussichtliche Dauer der Traumatherapie nicht absehbar. Die Traumatherapie wird nach Einschätzung der Therapeutin aber auf keinen Fall in zwei Jahren abgeschlossen sein.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs.1 und 3, 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswertes für das Beschwerdeverfahren folgt aus §§ 40, 45 Abs.1 Nr. 2 FamGKG.