Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 21.09.2022, Az.: 5 U 97/22

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
21.09.2022
Aktenzeichen
5 U 97/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 60408
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hildesheim - AZ: 3 O 30/22

Fundstellen

  • NJW-Spezial 2022, 715
  • NZV 2023, 180

Tenor:

  1. 1.

    Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf 5.000 € festgesetzt.

  2. 2.

    Es wird erwogen, die Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Der Beklagten wird Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zweier Wochen gegeben.

  3. 3.

    Die dem Kläger gesetzte Frist, auf die Berufung zu erwidern, wird aufgehoben.

Gründe

Die Rechtssache dürfte keine grundsätzliche Bedeutung haben und eine Entscheidung des Berufungsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich sein. Eine mündliche Verhandlung erscheint nicht geboten. Die Berufung hat nach vorläufiger Beurteilung aus folgenden Gründen auch keine Aussicht auf Erfolg:

Das Landgericht hat dem Kläger zu recht ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 5.000 € zuerkannt. Die dagegen vorgebrachten Einwendungen vermögen nicht zu überzeugen.

1. Der Kläger gehört zu dem von § 10 Abs. 3 Satz 1 StVG bestimmten Personenkreis. Das Landgericht hat nach dem Ergebnis der Anhörung des Klägers und der Vernehmung des Zeugen rechtsfehlerfrei festgestellt, dass zwischen der getöteten R. S. und dem Kläger ein besonderes persönliches Näheverhältnis im Sinne dieser Vorschrift bestand.

a) Nach § 286 Satz 1 ZPO entscheidet das erstinstanzliche Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder unwahr zu erachten ist. Nach der ZPO-Reform ist die Berufungsinstanz nicht mehr Wiederholung der erstinstanzlichen Tatsacheninstanz, sondern dient der Fehlerkontrolle und -beseitigung. Deshalb bestimmt § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, dass das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden ist, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachen begründen. Konkrete Anhaltspunkte im vorgenannten Sinn können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, wenn etwa die Beweiswürdigung nicht den von der Rechtsprechung zu § 286 ZPO entwickelten Grundsätzen genügt. Dies ist der Fall, wenn das Gericht die von einer Partei unter Beweis gestellten Behauptungen nicht berücksichtigt oder die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich ist oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Eine erneute Tatsachenfeststellung ist darüber hinaus geboten, wenn sich das Berufungsgericht aufgrund konkreter Anhaltspunkte von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht zu überzeugen vermag, weil es die durchgeführte Beweisaufnahme anders wertet (BGHZ 158, 269; 162, 313).

b) Gemessen daran ist die Beweiswürdigung des Landgerichts verfahrensfehlerfrei. Der Kläger hat glaubhaft und mit Details untermauert eine Liebesbeziehung zwischen ihm und der Getöteten dargestellt; die Beklagte nimmt ein solches auch nicht in Abrede. Auch die Frage, ob die Getötete tatsächlich gegen ihren ehemaligen Freund ein Gewaltschutzverfahren hat einleiten lassen, ist für die Entscheidung des Rechtsstreits ohne Belang.

Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es für den Grund des Anspruchs nicht maßgeblich darauf an, wie lang die Beziehung bestanden hat, wenn es sich um ein persönliches, besonderes Näheverhältnis handelt. Dieses setzt den Nachweis einer tatsächlich gelebten sozialen Beziehung voraus, deren Intensität derjenigen entspricht, die in den in § 844 Abs. 3 S 2 BGB aufgeführten Fällen typischerweise besteht; dies kann etwa bei Partnern einer ehe- oder lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaft, Verlobten, Stief- und Pflegekindern sowie Geschwistern der Fall sein (vgl BT-Drs 18/11397, 13, 15; Wilhelmi in: Erman BGB, Kommentar, § 844 Ersatzansprüche Dritter bei Tötung Rn. 20).

Die Dauer der persönlichen Nähebeziehung wirkt sich gegebenenfalls bei der Höhe der "angemessenen Entschädigung" aus. Eine Beziehung von besonderer persönlicher Nähe hat das Landgericht zutreffend festgestellt, der Senat tritt den dortigen Erwägungen bei.

Aus den Angaben des persönlich angehörten Klägers und den Aussagen seines als Zeugen vernommenen Vaters ergeben sich keine Widersprüche dergestalt, dass an den Feststellungen des Landgerichts zu zweifeln wäre. Aus den Divergenzen in diesen Angaben hinsichtlich des Datums, zu dem der Kläger und seine damalige Freundin "zusammenkamen", ist nicht auf eine unrichtige Angabe des Klägers oder seines Vaters zu schließen. Der Kläger wohnte zwar in einem Haus mit dem Zeugen, jedoch in unterschiedlichen, voneinander getrennten Wohnungen. Es liegt daher nahe, dass der erwachsene Sohn seinen Vater nicht zeitnah über Einzelheiten seiner Liebesbeziehung unterrichtet. Und es erscheint nachvollziehbar, dass der Vater eine besondere Beziehung zwischen dem späteren Paar bereits zu einer Zeit wahrnahm, als diese sich erst häufiger trafen und nach eigenem Verständnis noch nicht "zusammen waren". Demgemäß bekundete der Vater ein bereits mehrjähriges "umeinander Herumgeschwänzel". Diese Darstellung hat der Kläger insoweit bestätigt, als er von einem Kennenlernen schon vor 3-4 Jahren sprach und regelmäßigen Treffen, zunächst noch in Begleitung ihres damaligen Freundes.

Die Angaben der Freundin auf "Facebook" sind nicht geeignet, die Überzeugung zu erschüttern. Eine solche Angabe genießt nicht die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit. Es gibt vielerlei Gründe, die die Freundin bewogen haben könnten, in ihr Profil dieses Datum aufzunehmen.

Der Annahme eines persönlichen und besonderen Näheverhältnis steht auch nicht entgegen, dass die Freundin noch nicht "mit Sack und Pack" bei dem Kläger eingezogen ist. Es handelt sich um eine im Todeszeitpunkt 20-jährige, die sich noch in der Ausbildung befand, und die nach einer vorangegangenen, von ihr beendeten Beziehung wieder bei ihrer Mutter und dem Stiefvater wohnte. Warum es gegen eine besondere und persönliche Nähe spricht, wenn die Freundin nicht sofort ihr ganzes Hab und Gut zu dem Kläger verbringt, hat sich dem Senat nicht erschlossen.

Auch die vergleichsweise kurze Dauer der Liebesbeziehung steht einem Anspruch nicht entgegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich das Paar schon längere Zeit kannte.

2. Hinsichtlich der Höhe der Entschädigung ist die Entscheidung des Landgerichts ebenfalls nicht zu beanstanden. Auch der Senat entnimmt der Begründung des Regierungsentwurfs Anhaltspunkte dafür, dass als "Richtschnur" 10.000 € anzusetzen sind (Wilhelmi, a.a.O.).

Die erst kurze Beziehung hat das Landgericht durch einen hälftigen Abschlag von diesem "Richtwert" zutreffend berücksichtigt. Der Senat tritt auch dieser Einschätzung bei. Der Umstand, dass das Landgericht Tübingen (Urteil vom 17. Mai 2019, Az 3 O 108/18) einem hinterbliebenen Bruder ebenfalls 5.000 € zusprach, macht die zugesprochene Höhe der Entschädigung für den Kläger nicht "unangemessen". In dem von dem Landgericht Tübingen zu entscheidenden Fall handelte es sich um einen Bruder, der räumlich entfernt lebte und einmal pro Woche Kontakt zu seinem "Lieblingsbruder" hielt, auch unternahm man gemeinsame Motorradausflüge. Warum eine innige Liebesbeziehung demgegenüber "weniger wert" sein soll, ist weder dargetan noch ersichtlich. Eine "Binnengerechtigkeit" wird innerhalb der einzelnen Hinterbliebenen-Fälle kaum herzustellen sein, denn die tatsächliche Höhe einer "angemessenen Entschädigung" hängt von einer Vielzahl von Faktoren (verwandtschaftliche Beziehung, Dauer des Kontakts, Gefühl der Verbundenheit, Zahl der Treffen o.Ä.) ab, die sich einer genauen "Bemessung" entziehen.

Der Senat tritt der Erwägung des Landgerichts bei, dass trotz der kurzen Dauer die besondere persönliche Nähe des Klägers zu der Getöteten eine Entschädigung von 5.000 € rechtfertigt.