Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 04.01.1996, Az.: V 319/95
Änderung eines bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheids; Umsatzsteuer für Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 04.01.1996
- Aktenzeichen
- V 319/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 18709
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1996:0104.V319.95.0A
Rechtsgrundlagen
- § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d AO
- § 10 Abs. 1 S. 2 UStG
Fundstellen
- DStRE 1997, 119-120 (Volltext mit amtl. LS)
- EFG 1996, 521-522 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Bestandsk.v.USt-Besch. wegen Geldspielautomaten
Umsatzsteuer 1989-1991
In dem Rechtsstreit
hat der V. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung
in der Sitzung vom 4. Januar 1996,
an der mitgewirkt haben:
Vizepräsidentin des Finanzgerichts als Vorsitzende ...
Richter am Finanzgericht ... und ...
ehrenamtlicher Richter ... und ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 42.871 DM festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin unterhält und betreibt neben Unterhaltungsautomaten auch Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit. Der Beklagte setzte die Umsatzsteuer für die Streitjahre entsprechend der abgegebenen Umsatzsteuerjahreserklärungen bestandskräftig fest. Mit Schreiben vom 15. November 1994 reichte die Klägerin beim Beklagten berichtigte Steuererklärungen für die Streitjahre ein. Damit begehrte sie die Umsätze aus Geldspielautomaten unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 5. Mai 1994 (BStBl II 1994, 48) entgeltsmäßig auf den Kasseninhalt zu beschränken. Der Beklagte lehnte die Änderung der Steuerfestsetzungen unter Hinweis auf die Bestandskraft mit rechtsmittelfähigen Bescheid vom 13. Dezember 1994 ab. Die hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage begründet die Klägerin im wesentlich wie folgt: Verfahrensrechtlich sei das EUGH-Urteil C 208/90 vom 25. Juni 1991, Rechtssache Emmott, zu beachten. Danach bestehe eine gemeinschaftsrechtliche Fristenhemmung. Ein säumiger Mitgliedstaat könne sich bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie nicht auf die Verspätung einer Klage berufen, die ein Einzelner zum Schutz der ihm durch die Bestimmungen der Richtlinie verliehenen Rechte gegen den Staat erhoben habe. Die Grundsätze des Emmotturteils seien auch auf das Umsatzsteuerrecht anwendbar. Dies folge aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache BP SOUPERGAZ (C 62/93 vom 6. Juli 1995). In dieser Entscheidung habe der EUGH erstmals zu den verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Erstattung im Umsatzsteuerrecht Stellung genommen. Dort sei ausgeführt, daß Rechtspositionen des Marktbürgers nur in den Schranken der in den jeweils einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen durchgesetzt werden könnten, sofern diese Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für die Klagen, die den Schutz der dem Bürger unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenen Rechte gewährleisten sollen, nicht ungünstiger seien, als bei ähnlichen Klagen, die nur innerstaatliches Recht beträfen, und nicht so ausgestaltet seien, daß sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräume, praktisch unmöglich machte.
Im Streitfall liege ein Umsetzungsdefizit vor. Die unterschiedliche Beurteilung der Geldspielautomatenumsätze durch den Bundesfinanzhof einerseits und dem EUGH andererseits beruhe auf einer Abweichung der nationalen Vorschrift von der Richtlinienbestimmung. Aus der Vorabentscheidung des EUGH in der Rechtssache Glawe (C 38/93 vom 05.05.1994) folge, daß § 10 Abs. 1 UStG keine ordnungsgemäße Umsetzung der Bestimmung des Artikel 11 Teil A Abs. 1a der 6. EG-Richtlinie darstelle. Der EUGH habe dabei den Inhalt der Bemessungsgrundlage abweichend von der bisherigen nationalen Rechtsanwendung zu § 10 Abs. 1 UStG ausgelegt. Hieraus folge, daß der Entgeltsbegriff des § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG jedenfalls in Bezug auf Geldspielautomatenumsätze keine ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie darstelle. Während § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG das Entgelt aus der Warte des Leistungsempfängers definiere, bestimme die 6. EG-Richtlinie die Besteuerungsgrundlage aus der Warte des Leistenden. Die unterschiedlichen Ergebnisse, zu denen der EUGH einerseits und der BFH andererseits gelangt seien, seien nicht nur Folge einer Beurteilungsdifferenz, sondern zwingender Ausfluß der bereits im Ansatz nicht deckungsgleichen Standpunkte beider Bestimmungen. Selbst wenn man ein Umsetzungsdefizit verneinen wolle, ergebe sich, daß der nationale Gesetzgeber durch sein Verhalten einen Zustand der Unsicherheit geschaffen habe, in dem der einzelne Marktbürger nicht in die Lage versetzt gewesen sei, in vollem Umfang von seinen Rechten Kenntnis zu erlangen.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, den Umsatzsteuerbescheid 1989 vom 15. September 1993 insoweit zu ändern, als die Umsatzsteuer um 12.905,06 DM herabgesetzt wird, den Umsatzsteuerbescheid 1990 vom 15. September 1993 insoweit zu ändern, als die Umsatzsteuer um 13.687,07 DM herabgesetzt wird und den Umsatzsteuerbescheid 1991 vom 10. November 1993 insoweit zu ändern, als die Umsatzsteuer um 16.279,86 DM herabgesetzt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Dem Verpflichtungsbegehren der Klägerin stehe die Bestandskraft der Steuerfestsetzungen für die Streitjahre entgegen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte.
Dem Senat haben die beim Beklagten für die Klägerin geführten Umsatzsteuerakten zu Steuernummer vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Dem Verpflichtungsbegehren der Klägerin steht entgegen, daß die Steuerfestsetzungen für die Streitjahre bereits bestandskräftig waren, als sie deren Änderung beim Beklagten beantragte und es für Änderungen dieser Steuerfestsetzungen keine abgabenrechtliche Grundlagen gibt. Steuerbescheide sind nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 d Abgabenordnung (AO) nur dann änderbar, wenn dies gesetzlich zugelassen ist. Die hierfür in Betracht kommenden Normen der §§ 173-176 AO sind eindeutig nicht erfüllt. Hierüber besteht auch kein Streit.
Zwar entsprechen die bestandskräftigen Steuerfestsetzungen im Ergebnis nicht der Auslegung, die nach dem EUGH-Urteil vom 5. Mai 1994 C - 38/93, BStBl II 1994, 548 dem Art. 11 Teil A Abs. 1 a der 6. Richtlinie 77/388/EWG vom 17. Mai 1977 (6. EG-Richtl.) zukommt. Hiernach gehört bei Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit der gesetzlich zwingend festgelegte Teil der Gesamtheit der Spieleinsätze nicht zur Umsatzsteuerlichen Bemessungsgrundlage. Insoweit widerspricht die Auffassung des EUGH der bisherigen höchstrichterlichen nationalen Rechtsprechung (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 29. Januar 1987 V R 53/76, BStBl II 1987, 516), wonach eine Vervielfachung des Kasseninhalts zur Bestimmung des Entgelts deshalb geboten erschien, weil angenommen wurde, jedes in den Automaten eingeworfene Geldstück sei Entgelt.
Es kann dahinstehen, ob aufgrund der o.a. EUGH-Entscheidung angenommen werden könnte, die Bundesrepublik Deutschland habe durch die Regelung über die Bemessungsgrundlage in § 10 Abs. 1 UStG 1967, 1973, 1980 Art. 11 Teil A Abs. 1 a der 6. EG-Richtl. nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Nach der Rechtsprechung des EUGH (vgl. Urteil vom 23. Mai 1993 C - 193/91, BStBl II 1993, 812) kann sich ein einzelner auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber aller innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen. Nimmt man deshalb eine nicht ordnungsgemäße Umsetzung an, so könnte sich materiell-rechtlich die Herabsetzung der anzusetzenden Bemessungsgrundlage unmittelbar aus Art. 11 Teil A Abs. 1 a der 6. EG-Richtl. ergeben. Hiergegen stünde jedoch weiterhin die Bestandskraft der ursprünglichen Steuerfestsetzungen.
Eine Durchbrechung der Bestandskraft läßt sich - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch nicht aus dem EUGH-Urteil vom 25.07.1991 RS C - 208/90, EUGHE 1991, I - 4292 (Rechtssache Emmott) herleiten. Zwar hat der EUGH dort ausgeführt, solange ein Mitgliedstaat eine EG-Richtlinie nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt habe, könne sich der säumige Mitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie nicht auf die Verspätung einer Klage berufen, die ein einzelner zum Schutz der ihm durch die Bestimmungen der EG-Richtlinie verliehenen Rechte gegen ihn erhoben habe. Dieser Rechtssatz ist jedoch auf den Streitfall nicht anwendbar. Unter ausdrücklichem Hinweis auf die Rechtssache Emmott hat der EUGH seine Rechtsprechung für den Bereich der "Mehrwertsteuer" weiterentwickelt und im Urteil vom 06.07.1995 RS C - 62/93, IStR 1995, 385 (Rechtssache BP SOUPERGAZ) ausgeführt, ein Steuerpflichtiger könne mit Rückwirkung auf den Tag des Inkrafttretens der im Widerspruch zur 6. Richtl. stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Erstattung, der ohne Rechtsgrund gezahlten Mehrwertsteuer nach den in der staatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedsstaats festgelegten Verfahrensmodalitäten verlangen, sofern diese Modalitäten nicht ungünster seien als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, daß sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräume, praktisch unmöglich machten.
Hieraus folgt, daß die in der Abgabenordnung enthaltenen Regelungen über die Bestandskraft von Steuerfestsetzungen und deren Durchbrechung weiterhin Geltung haben. Die Klägerin hätte gegen die ursprünglichen Steuerfestsetzungen Rechtsmittel einlegen können und die vermeintlich mangelnde Umsetzung des Art. 11 Teil A Abs. 1 a der 6. EG-Richtl. geltend machen können. Mithin liegt insoweit auch keine Verfahrenssituation vor, die im Sinne des EUGH-Urteils in der Rechtssache BP SOUPERGAZ die Ausübung der Rechte aus der 6. EG-Richtl. praktisch unmöglich machen würde. Zu bedenken ist, daß die Klägerin als Unternehmer i.S.d. Umsatzsteuerrechts zur Selbstberechnung der Steuer verpflichtet ist (§ 18 Abs. 3 UStG). Dann aber ist zu verlangen, daß sie sich - ggf. unter Inanspruchnahme ihres steuerlichen Beraters - über die grundlegenden Vorschriften des nationalen und europäischen Umsatzsteuerrechts informiert, soweit dieses Recht für ihr Unternehmen relevant ist. Daß kein Fall "praktischer Unmöglichkeit" gegeben ist, zeigt die Prozeßgeschichte der vom EUGH entschiedenen Rechtssache Glawe. Eine Durchbrechung der Bestandskraft ist mithin gemeinschaftsrechtlich nicht geboten (vgl. auch Lohse in Umsatzsteuer-Rundschau 1995, 408).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.
Der Senat läßt wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zu.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert wird auf 42.871 DM festgesetzt.
Die Streitwertfestsetzung ergeht gemäß §§ 13 Abs. 2 und 25 Abs. 2 Gerichtskostengesetz.