Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.03.2002, Az.: L 1 RA 126/01
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 21.03.2002
- Aktenzeichen
- L 1 RA 126/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 41571
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - AZ: S 14 RA 47/00
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Anspruch auf abschlaglose Zahlung der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit besteht nur, wenn eine individualrechtliche Kündigung oder Aufhebung des Arbeitsvertrages oder aber ein kollektivrechtlicher Beendigungstatbestand vor dem Stichtag des 14. Februar 1996 vorliegt, der konkret und auf einzelne Mitarbeiter bezogen ist.
- 2.
Die Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB VI aF greift nicht ein, wenn eine kollektivvertragliche Regelung zwar vor dem Stichtag, aber mit der Maßgabe geschlossen wird, einzelnen Mitarbeitern gegenüber die Kündigung noch gesondert auszusprechen (und dabei die Möglichkeiten einer Weiterbeschäftigung zu prüfen).
- 3.
Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber Vertrauensschutz nach § 237 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB VI aF nur bis zum Stichtag 14.Februar 1996 zugebilligt hat.
In dem Rechtsstreit
A.,
Kläger und Berufungskläger,
Prozessbevollmächtigte(r):
Assessor B.,
gegen
die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte,
Ruhrstraße 2, 10709 Berlin,
Beklagte und Berufungsbeklagte,
hat der 1. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen ohne mündliche Verhandlung
am 21. März 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. C.,
den Richter am Landessozialgericht D.,
den Richter am Landessozialgericht E.
sowie die ehrenamtlichen Richter F. und G.
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit des Klägers in voller Höhe zu leisten ist oder aber mit abgesenktem Zugangsfaktor.
Der im September 1938 geborene Kläger war seit dem 1. Dezember 1973 Beschäftigter der Firma H. (im folgenden: Arbeitgeber).
Mitte der 90er Jahre geriet der Arbeitgeber unter zunehmenden Konkurrenzdruck und beabsichtigte u.a., zur Konsolidierung Personal abzubauen. Am 22. Januar 1996 schlossen die Geschäftsleitung und der Gesamt-Betriebsrat eine mit "Betriebsvereinbarung/Interessenausgleich/Sozialplan" überschriebene Vereinbarung. Dieser zur Folge sollten allgemeine Strukturmaßnahmen wie die
Produktionsstättenzusammenfassung bzw. -verlagerung und der Einsatz neuer EDV-Techniken mit dem Abbau personeller Überhänge einher gehen. Auszugsweise hieß in der Vereinbarung:
"2. Angebot eines anderen Arbeitsplatzes
1.
Mitarbeitern, deren Arbeitsplatz aufgrund einer personellen Einzelmaßnahme entfällt, wird - sofern vorhanden - ein gleichwertiger Arbeitsplatz angeboten.
2. Wird einem Mitarbeiter entsprechend den vorstehenden Bestimmungen ein anderer Arbeitsplatz angeboten, so ist die neue Arbeitsaufgabe genau zu beschreiben und der Verdienst zu erläutern.
3. Die Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz soll, sofern sie nicht aufgrund des Versetzungsvorbehaltes im Arbeitsvertrag ohne Zustimmung des Mitarbeiters erfolgen kann, im Einvernehmen mit dem Mitarbeiter vorgenommen werden. Ist der Mitarbeiter mit der geplanten Versetzung nicht einverstanden, so wird erforderlichenfalls eine Änderungskündigung ausgesprochen.
1. Beendigung des Arbeitsverhältnisses
1. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses soll erst ausgesprochen werden, wenn alle in Ziff. 2 angeführten Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind.
2. Die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter, deren Arbeitsplatz infolge von personellen Anpassungsmaßnahmen fortfällt und die nicht gemäß Ziff. 2 weiterbeschäftigt werden, werden unter Einhaltung der gesetzlichen, tariflichen oder vereinbarten Kündigungsfristen zum jeweils erforderlichen Zeitpunkt gekündigt.
3. Der Betriebsrat stimmt den vorwendigen Maßnahmen im dargestellten Umfang zu. Anhörungen nach § 102 BetrVG bleiben grundsätzlich vorbehalten."
Am 25. April 1996 schloss der Kläger mit seinem Arbeitgeber unter Bezugnahme auf die Vereinbarung vom 22. Januar 1996 einen "Abwicklungsvertrag", dem zufolge das Arbeitsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen unter Einhaltung der Kündigungsfrist zum 31. Dezember 1996 - unter Zahlung einer Abfindung in Höhe von 72.740,-- DM - endete.
Nach zwischenzeitlicher Arbeitslosigkeit stellte der Kläger am 6. April 1999 bei der Beklagten den Antrag, ihm vorzeitige Altersrente wegen Arbeitslosigkeit zu gewähren. Die Rente sollte am 1. September 1999 beginnen. In einer Anlage zum Rentenantrag stellte die Beklagte Fragen im Hinblick auf die zwischenzeitlich vom Gesetzgeber eingeführten Rentenabschläge bei Inanspruchnahme von Altersrente vor dem vollendeten 65. Lebensjahr. Die zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gestellte Frage beantwortete der Kläger dahingehend, die zu Grunde liegende Kündigung, Vereinbarung bzw. Befristung sei vor dem 14. Februar 1996 erfolgt, d.h. vor dem Stichtag für die letztmalige Zubilligung von Vertrauensschutz.
Die Beklagte, die den Rentenantrag in ihrem Bescheid vom 25. August 1999 grundsätzlich entsprach und für die Zeit ab dem 1. September 1999 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit gewährte, folgte der Angabe des Klägers nicht. Erst der nach dem Stichtag abgeschlossene Vertrag vom 25. April 1996 habe zu einer Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses geführt. In der Anlage 6 zum Bewilligungsbescheid vom 25. August 1999 minderte die Beklagte den Zugangsfaktor um 10 x 0,003, so dass sich - angesichts der vorzeitigen Inanspruchnahme für 10 Kalendermonate - ein Zugangsfaktor von 0,970 (anstatt 1,000) ergab.
Der Kläger erhob Widerspruch mit der Begründung, aus dem Abwicklungsvertrag gehe hervor, dass der Arbeitgeber ihm bereits im Januar 1996 mitgeteilt habe, das Arbeitsverhältnis werde mit Ablauf des Jahres 1996 enden. Die Beklagte wies den Widerspruch durch den Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1999 zurück. Entgegen der Auffassung des Klägers seien die arbeitsvertraglichen Beziehungen erst am 25. April 1996 beendet worden. Der Sozialplan vom 22. Januar 1996 stelle noch keine konkrete und verbindliche Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten dar.
Mit seiner zum Sozialgericht (SG) Hannover erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das SG Hannover hat die Klage an das örtlich zuständige SG Lüneburg verwiesen. Das SG Lüneburg hat die Klage durch das Urteil vom 24. April 2001 als unbegründet abgewiesen. Es hat ausgeführt, der Sozialplan habe für alle Arbeitnehmer gegolten, die am 18. Januar 1996 in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis gestanden hätten. Es seien darin lediglich generelle Regelungen für die von Seiten der Firmenleitung notwendig erachteten personellen Anpassungsmaßnahmen getroffen worden. Vorrangiges Ziel der Vereinbarungen sei nicht die Kündigung der Arbeitsverhältnisse, sondern die Umsetzung von Mitarbeitern gewesen. Auch habe der Sozialplan keine zeitlichen Vorgaben enthalten, innerhalb derer bestimmte personelle Maßnahmen zu treffen gewesen seien.
Gegen das am 22. Mai 2001 zugestellte Urteil richtet sich die am 30. Mai 2001 eingegangene Berufung. Diese begründet der Kläger ergänzend damit, die gesetzliche Grundlage für die Anhebung der Altersgrenzen und die Einführung der Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente, § 237 Sozialgesetzbuch (SGB VI), verstoße gegen Verfassungsnormen.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 24. April 2001 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 25. August 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 1999 zu ändern,
2. die Beklagte zu verurteilen, die ihm gewährte Altersrente wegen Arbeitslosigkeit mit dem Zugangsfaktor 1,000 (statt 0,970) neu zu berechnen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide als zutreffend und bezieht sich zur Begründung ergänzend auf das Urteil des SG Lüneburg.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Rentenakte der Beklagten Bezug genommen. Die Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand von Beratung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten zuvor mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt hatten, §§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die gemäß den §§ 143 f. SGG statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.
Weder das Urteil des SG noch die Bescheide der Beklagten sind zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anwendung der zur abschlaglosen Zahlung führenden Vertrauensschutzregelung bei der ihm gezahlten Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift liegen nicht vor.
Nach § 38 SGB VI (i.d.F. vom 23. Juli 1996, Bundesgesetzblatt I Seite 2078) hatten Versicherte u.a. dann einen Anspruch auf Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, wenn sie - wie der Kläger - das 60. Lebensjahr vollendet hatten, innerhalb der letzten 1 1/2 Jahre vor Beginn der Rente insgesamt 52 Wochen arbeitslos waren, die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt und gegenüber dem Rentenversicherungsträger erklärt hatten, die vorzeitige Rente wegen Alters beziehen zu wollen. Die Altersgrenze von 60 Jahren wurde nach § 41 SGB VI (i.d.F. des Gesetzes zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand vom 23. Juli 1996, Bundesgesetzblatt I Seite 1078, sowie i.d.F. vom 25. September 1996, Bundesgesetzblatt I Seite 1461) sukzessive angehoben, wenn der Versicherte - wie wiederum hier der Kläger - nach dem 31. Dezember 1936 geboren war (die §§ 38, 41 Abs. 1 bis 3 wurden mit Wirkung vom 1. Januar 2000 durch das Gesetz vom 16. Dezember 1997, Bundesgesetzblatt I Seite 2998, Art. I Nrn. 16 und 17 aufgehoben). Der Anlage 19 zum SGB VI ("Anhebung der Altersgrenze bei Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit") entsprechend war die Altersgrenze für einen im September 1938 geborenen Versicherten wie den Kläger um 21 Monate anzuheben. Sie lag damit bei 61 Jahren und 9 Monaten. Indem der Kläger die Rente bereits für die Zeit ab einem Lebensalter von 60 Jahren und 11 Monaten beantragte, nahm er einen nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI um 10 x 0,003 = 0,03 abgesenkten Zugangsfaktor in Kauf.
Nur unter den Voraussetzungen des § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr 1 b SGB VI (jetzt: § 237 Abs 4 Satz 1 Nr 1b SGB VI) wäre beim Kläger als einem vor 1941 geborenen Versicherten die Altersgrenze von 60 Jahren nicht angehoben worden. Es hätte dann das Arbeitsverhältnis aufgrund einer Kündigung oder Vereinbarung, die vor dem 14. Februar 1996 erfolgt war, für eine Zeit nach dem 13. Februar 1996 beendet worden sein müssen. Letzteres ist tatsächlich nicht der Fall. Die Auffassung des Klägers im Schriftsatz vom 2. September 1999 zur Widerspruchsbegründung, dem Abwicklungsvertrag folgend sei ihm bereits mit der Vereinbarung vom 22. Januar 1996 mitgeteilt worden, sein Arbeitsverhältnis ende mit Ablauf des Jahres 1996, ist unzutreffend. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Vereinbarung vom 22. Januar 1996, eine auf die einzelnen Arbeitsverträge unmittelbar einwirkende Regelung, §§ 77 Abs. 4, 112 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), enthielt gerade keinen konkreten und auf einzelne Mitarbeiter bezogenen Beendigungstatbestand. Vielmehr hatte eine Kündigung gesondert zu ergehen, Punkt 5.1 der Vereinbarung. Diese Kündigung hatte zudem erst dann zu ergehen, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, den Mitarbeiter auf einem gleichwertigen anderen Arbeitsplatz zu beschäftigen. Darüber hinaus und zusätzlich gegen einen schon vorliegenden Beendigungstatbestand sprechend enthielt die Vereinbarung die Maßgabe, bei Unmöglichkeit einer Weiterbeschäftigung - in dem dann erst folgenden Schritt - "unter Einhaltung der gesetzlichen, tariflichen oder vereinbarten Kündigungsfristen zum jeweils erforderlichen Zeitpunkt zu kündigen".
Der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) folgend hätte es allerdings auch genügt, wenn bis zum 13. Februar 1996 ein einseitiger - vom Arbeitnehmer gestellter - Antrag auf einvernehmliche Aufhebung des Arbeitsverhältnisses oder auf Abschluss eines Abwicklungsvertrages vorgelegen hätte. In einem derartigen Fall wäre der Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage gewesen, sich ausreichend auf die künftige Rechtsänderung einzustellen, also auf die Anhebung der Altersgrenze und die damit einhergehende Absenkung des Zugangsfaktors bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente (vgl. zum Ganzen BSG-Urteil vom 30. Oktober 2001, Az: B 4 RA 10/00 R). Der Abwicklungsvertrag vom 25. April 1996 ist hier jedoch nicht aufgrund eines bereits vor dem 14. Februar 1996 vorliegenden Antrages, vielmehr erst autonom und lediglich als Folge der Vereinbarung vom 22. Januar 1996 geschlossen worden. Damit fehlt auch jeglicher Anhaltspunkt für eine dem Kläger günstige Entscheidung auf der Basis der erweiternden Auslegung des BSG.
Schließlich ist die Vorschrift des § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst b SGB VI a.F. recht- und verfassungsmäßig, namentlich gilt dies auch für die darin festgesetzte Zeitgrenze des 14. Februar 1996. Es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine begünstigende Regelung für diejenigen Versicherten, die aufgrund der Neuregelung des § 41 SGB VI bei zeitlich unveränderter Renteninanspruchnahme Kürzungen im Zahlbetrag hinnehmen mussten. Der 14. Februar 1996 ist ein sachgerecht gewählter Stichtag, weil damals das Bundeskabinett die Einführung der gesetzlichen Regelung zur Korrektur der Frühverrentungspraxis beschlossen hat (Gesetze vom 27. Juli und 25. September 1996; Niesel in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Band I, § 41 SGB VI Rdnr. 3; vgl. auch die Ausführungen des BSG a.a.O. zum Gesetzeszweck).
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Es hat kein gesetzlicher Grund gemäß § 160 Abs. 2 SGG vorgelegen, die Revision zuzulassen.