Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.09.2003, Az.: 7 OA 134/03
Auffangstreitwert; Bevölkerungsgrößenfaktor; Dosenpfand; Einsatzwert; Einwegverpackung; Insellösung; Pauschalierung; Streitwert; Verpackungsordnung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 09.09.2003
- Aktenzeichen
- 7 OA 134/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48193
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 22.05.2003 - AZ: 11 A 2129/03
Rechtsgrundlagen
- § 13 Abs 1 S 1 GKG
- VerpackV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Der Senat schließt sich den in dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Januar 2003 - 7 C 31.02 - angesetzten Einsatzwerten an. Eine Ermäßigung jener Werte in Relation zu der Bevölkerungszahl Niedersachsens kommt nicht in Betracht.
Gründe
I. Die Klägerinnen begehren eine Herabsetzung, der Prozessbevollmächtigte des Beklagten eine Erhöhung des vom Verwaltungsgericht festgesetzten Streitwertes.
Von den 36 klagenden Unternehmen sind 23 kleinere, mittelständische Brauereien und Hersteller von Erfrischungsgetränken, 9 sind überregional operierende (Groß-)Brauereien und Erfrischungsgetränkehersteller, 2 Klägerinnen stellen Getränke-Einwegverpackungen her und 2 Klägerinnen sind überregional vertretene Einzelhandelsfilialisten. Sie wandten sich gegen den Vollzug der Verpackungsverordnung - VerpackV - im Land Niedersachsen. Ähnliche Klageverfahren strengten die meisten der Klägerinnen auch in anderen Bundesländern an. Nachdem sie in dem Nordrhein-Westfalen betreffenden Verfahren letztlich vor dem Bundesverwaltungsgericht unterlegen waren (Urt. v. 16.01.2003 - 7 C 31.02 -) und es parallel dazu das Bundesverfassungsgericht abgelehnt hatte, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, mit dem der Vollzug der VerpackV ausgesetzt werden sollte (Beschl. v. 27.12.2002 - 1 BvR 2351/02 -), nahmen die Klägerinnen ihre Klage zurück.
Das Verwaltungsgericht stellte das Verfahren ein und setzte mit dem angefochtenen Beschluss den Streitwert auf 28.550.000 EUR fest. Es orientierte sich dabei an der Streitwertentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 16.01.2003 - 7 C 31.02 -), das für jede mittelständische Brauerei 100.000 EUR, für jede der Großbrauereien 250.000 EUR, für die Verpackungsmittelhersteller je 2.000.000 EUR und für jede der Einzelhandelsketten 10.000.000 EUR in Ansatz gebracht hatte. An diesen Werten hat das Bundesverwaltungsgericht sowohl auf die Gegenvorstellungen der Klägerin zu 27) und des Prozessbevollmächtigten des beklagten Landes (Beschl. v. 12.08.2003 - 7 KSt 7.03-) als auch im Parallelverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (7 VR 1.02) nach Gegenvorstellung des Prozessbevollmächtigten des dortigen Antragsgegners (Beschl. v. 09.04.2003 - 7 KSt 4.03 -) festgehalten.
Die Klägerinnen begründen ihre Beschwerde damit, dass wegen der geringeren Bevölkerungszahl Niedersachsens die vom Bundesverwaltungsgericht eingesetzten Werte um mindestens 50 % zu ermäßigen seien.
Für die Klägerin zu 22) müsse die neuere Entwicklung dahingehend berücksichtigt werden, dass diese nicht mehr die flächendeckende Anschaffung von Rücknahmeautomaten beabsichtige, sondern anders (z.B. mit sog. Insellösungen) auf die Pfandpflicht für Einweggebinde reagieren werde.
Die Klägerin zu 27) macht geltend, sie sei in Niedersachsen nicht mit Filialen vertreten. Das Interesse, künftig auch in Niedersachsen Filialen betreiben zu können, in denen sie für Getränke-Einwegverpackungen Pfand nicht erheben müsse, sei mit dem Auffangstreitwert gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG zu bewerten. Zudem seien ihre Angaben zu den Investitionskosten in dem beim VG Düsseldorf anhängig gewesenen Verfahren irrig gewesen - die in jenem Verfahren abgegebene Rechnung sei fiktiv in dem Sinne gewesen, dass sie ein theoretisches Höchstmaß an Investitionen beschrieben habe. Darüber hinaus sei ihr wirtschaftliches Interesse nicht mit dem der an Umsatz etwa zehnmal größeren Klägerin zu 22) zu vergleichen, so dass eine Gleichbehandlung innerhalb einer Gruppe "Einzelhandelsfilialisten" ungerechtfertigt sei. Bei der Gruppenbildung durch das OVG Nordrhein-Westfalen und das Bundesverwaltungsgericht sei nicht berücksichtigt worden, dass die Verpackungsmittelhersteller wie auch die Brauereien existenzbedrohende Umsatzrückgänge hinzunehmen hätten, während bei ihr nur 4 % des Gesamtumsatzes betroffen seien.
Die Prozessbevollmächtigten des Beklagten begründen ihre im eigenen Namen erhobene Anschlussbeschwerde im wesentlichen damit, dass die Übernahme der vom Bundesverwaltungsgericht in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes festgesetzten Streitwerte dazu führt, dass diese im Eilverfahren höher als in der Hauptsache seien, die Einsatzwerte in einem Hauptsacheverfahren demnach zu erhöhen seien.
II. Die Beschwerden sind unbegründet, die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG ist nicht zu beanstanden.
Die Klägerinnen begehren mit der Verknüpfung der (pauschalierten) Einsatzwerte des Bundesverwaltungsgerichts einerseits und einem Bevölkerungsgrößenfaktor andererseits eine doppelte Ermäßigung, denn sie lassen außer Acht, dass das Bundesverwaltungsgericht die vom VG Düsseldorf eingesetzten Werte stark gesenkt hat, ohne dabei mit einem Bevölkerungsgrößenfaktor zu rechnen. Dies zeigt sich besonders an dem von den Klägerinnen vorgelegten Beschluss des VG Düsseldorf - 17 K 1907/02 -, das selbst unter Einrechnung eines Bevölkerungsgrößenfaktors für die Klägerin zu 1) allein einen Streitwert angenommen hat, der nahezu viermal so hoch ist wie der vom Bundesverwaltungsgericht und dem folgend in diesem Verfahren eingesetzte Wert. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar auf die vom OVG Nordrhein-Westfalen eingesetzten Werte verwiesen. Diese nehmen - entgegen dem Vortrag der Klägerinnen - auf die Berechnungen des VG Düsseldorf aber nicht Bezug, so dass nicht ersichtlich ist, inwieweit die vom VG Düsseldorf "ermittelten" Werte Grundlage der Schätzung durch das OVG Nordrhein-Westfalen geworden sein sollen. Hinzu kommt, dass das VG Düsseldorf Werte keinesfalls ermittelt, sondern unterstellt hat, dass der Marktanteil der Klägerinnen in allen Bundesländern jeweils gleich hoch ist, dass die Umsatzeinbuße mit 17,5 % anzusetzen sei und dass der eingebüßte Marktanteil mit 10 % der angenommenen Umsatzeinbuße zu Grunde zu legen sei. Es liegt auf der Hand, dass nach einem Rechengang mit mindestens zwei Schätzwerten nicht von einem "ermittelten" Ergebnis gesprochen werden kann.
Entgegen der Ansicht der Klägerinnen ist nach § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG ein gerade auf die Bevölkerungszahl Niedersachsens bezogener Maßstab nicht "zwingend geboten". Eine Pauschalierung bringt es - wie jede Schätzung - mit sich, dass im Einzelfall die Bedeutung der Sache nicht genau getroffen wird. So enthält der Streitwertkatalog der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Fülle von Pauschalen zu verschiedenen Rechtsgebieten; diese werden angewandt, ohne durch Hinzunahme bestimmter Faktoren Zu- oder Abschläge vorzunehmen. Hintergrund ist - neben gleichmäßiger Rechtsanwendung -, dass es untunlich ist, Ermittlungen allein der Streitwertfestsetzung wegen anzustellen. Das Interesse der Klägerinnen lässt sich eben nicht genau berechnen, zumal das Rechtsschutzziel der Klägerinnen Auswirkungen weit in die Zukunft hätte haben sollen einschließlich der Möglichkeit, den Marktanteil an Einweg-Gebinden weiter zu erhöhen. Dem können sie nicht entgegenhalten, dass mittelbare Auswirkungen oder Fernziele nicht in die Streitwertberechnung einfließen dürfen. Dies ist zwar grundsätzlich und vor allem für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen zutreffend, die Klägerinnen haben sich indes nicht auf eine Anfechtung beschränkt, sondern darüber hinaus hilfsweise Feststellungsklage erhoben. Die grundsätzliche Klärung eines Rechtsverhältnisses reicht indes weiter in die Zukunft als die Prüfung eines konkreten Verwaltungsakts. Die Klägerinnen haben gegen eine Pauschalierung der Streitwerte Einwendungen auch nicht erhoben, wo eine genauere, individuelle Schätzung des jeweiligen Interesses gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG zu erheblich höheren Streitwerten - wie in fast allen Fällen vom VG Düsseldorf festgesetzt - geführt hätte.
Gerade bei den Brauereien unter den Klägerinnen, die ihre Erzeugnisse überwiegend nur regional vertreiben, dürfte ein einwohnergrößenbezogener Maßstab zu schiefen Ergebnissen in einzelnen Bundesländern führen.
Die Einwohnerzahl ist auch deshalb kein zwingend zu beachtendes Kriterium, weil sie zum einen unterstellt, dass die Nutzung von Einweggebinden in der Bevölkerung gleichmäßig verbreitet ist. Zum anderen berücksichtigt sie nicht, dass Niedersachsen das zweitgrößte Flächenland ist - in Nordrhein-Westfalen, das die Klägerinnen in ihrer Argumentation als Bezugspunkt gewählt haben, leben etwa dreimal so viele Menschen auf einem Quadratkilometer. Dies bedeutet vor allem für den Handel, dass durchschnittlich weniger Einwohner pro Filiale versorgt werden als dort, weil die Geschäfte nicht in beliebiger Entfernung zur Kundschaft angesiedelt werden können. Für die (zumindest im Zeitpunkt der Klageerhebung für notwendig gehaltenen) Investitionen in ein Rücknahmesystem ist es jedoch unerheblich, ob in eine Filiale täglich 100 oder 1.000 Getränkedosen zurückgebracht werden, außerdem dürften zur Entsorgung zurückgegebener Einweggebinde größere Entfernungen zurückzulegen und deshalb pro Dose insgesamt höhere Aufwendungen notwendig sein.
Die Klägerin zu 22) kann mit der Beschwerde nicht geltend machen, dass sie nunmehr nicht mehr beabsichtige, flächendeckend in ihren Filialen Rücknahmeautomaten aufzustellen. Maßgeblich für den Streitwert ist das Interesse zum Zeitpunkt der Klageerhebung (§ 15 GKG). Unternehmerische Entscheidungen, die erst aufgrund des negativen Prozessausgangs getroffen werden, bleiben außer Betracht.
Der von der Klägerin zu 27) angestellte Vergleich der Positionen des Streitwertkataloges, die bei einem Bezug auf eine Investitionssumme lediglich einen geringen Prozentsatz als Streitwert annehmen, mit dem hier festzusetzenden Streitwert überzeugt nicht. Während der Investor, dem eine Genehmigung versagt wird, zunächst das Ziel hat, durch seine (erheblichen) Investitionen Gewinn zu erwirtschaften, ging es den Klägerinnen darum, eine Investition (Einrichtung eines Rücknahmesystems) gerade deshalb zu vermeiden, weil sie grundsätzlich nicht geeignet ist, sich zu amortisieren. Es handelt sich entgegen der Ansicht der Klägerin zu 27) also tatsächlich um Mehrkosten, da das Pfand - sofern der Käufer das Einweggebinde zurückgibt - für ihn kostenneutral ist. Insofern ist der seitens des Beklagten angestellte Vergleich mit belastenden Nebenbestimmungen (Ziff. 1.1.2) oder Ordnungsverfügungen im Bereich des Abfallrechts (Ziff. 1.1.4 des Streitwertkataloges) naheliegender.
Auch die seitens der Klägerin zu 27) wegen Irrtums erklärte Anfechtung der gegenüber dem Gericht gemachten Angaben über Investitionskosten rechtfertigt eine Ermäßigung des Streitwertes nicht. Der Senat lässt offen, ob es sich insoweit nicht um einen sog. internen Kalkulationsirrtum handelt, der nicht zur Anfechtung berechtigt (vgl. BGH, Urt. v. 07.07.1998 - X ZR 17-97 -, BGHZ 139, 177 (180 f.)), denn die Klägerin zu 27), die ihr wirtschaftliches Interesse im wahrsten Sinn des Wortes "hochgerechnet" hat, hat damit letztlich ihr Interesse an der Entscheidung zu jenem Zeitpunkt begründet. Wenn sie tatsächlich zu keinem Zeitpunkt angenommen hätte, jede der Filialen mit zwei Rücknahmeautomaten auszurüsten, hätte sie derlei angesichts ihrer prozessualen Sorgfaltspflicht nicht vorgetragen. Da die Gerichte in der Regel von der sorgfältigen Erfüllung prozessualer Pflichten (zumal der anwaltlich vertretenen) Prozessbeteiligten ausgehen, ist das Verwaltungsgericht zutreffend von erheblichen Kosten für jeden Einzelhandelsfilialisten ausgegangen. Dies gilt auch, soweit die Klägerin zu 27) entgegen dem ursprünglichen Vortrag (vgl. Antrag 2b im Schriftsatz vom 07. August 2002, S. 8: "(...) in ihren Verkaufsstellen im Land Niedersachsen (...) auch ab 01. Januar 2003 (...)") nunmehr darauf verweist, in Niedersachsen Verkaufsstellen nicht zu betreiben. Dies kann nur so verstanden werden, dass die Klägerin bei einer künftigen Ausweitung ihres Geschäftes nach Niedersachsen, dem zweitgrößten Flächenland, zusätzliche Investitionen für ein Rücknahmesystem in erheblicher Größenordnung vermeiden wollte. Auf die genaue Höhe der notwendigen Investitionen kommt es indes nicht an, da die Kosten einschließlich Umsatz- und Gewinnrückgang, Finanzierungs- und Wartungskosten vom Bundesverwaltungsgericht und Verwaltungsgericht nur pauschaliert berücksichtigt wurden (vgl. insoweit noch einmal ausdrücklich BVerwG, Beschl. v. 12.08.2003 - 7 KSt 7.03 -). Der Gedanke der Pauschalierung gebietet demgemäß auch nicht Abschläge nach Vergleich der derzeitigen Umsatzzahlen verschiedener Klägerinnen oder Anteilen der notwendigen Investitionen am Gesamtumsatz oder eine Abschlag wegen fehlender Existenzgefährdung.
Auch die Anschlussbeschwerde ist unbegründet. Der Prozessbevollmächtigte des Beklagten kann schon deshalb nicht von Einsatzwerten des in der Parallelsache anhängig gemachten Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes auf die Angemessenheit höherer Einsatzwerte im hier anhängig gewesenen Hauptsacheverfahren schließen, weil der Senat in ständiger Rechtsprechung in Streitsachen der vorliegenden Art den Streitwert in Eilverfahren nicht vermindert, weil § 20 Abs. 3 GKG für Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 123 VwGO uneingeschränkt auf § 13 Abs. 1 GKG verweist und der gegenüber dem Hauptsacheverfahren möglicherweise geringeren Bedeutung der erstrebten vorläufigen Regelung durch die geringeren Gebührensätze des Kostenverzeichnisses der Anlage 1 zu § 11 GKG (lfd. Nrn. 2110 ff.) Rechnung getragen wird.