Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.09.2003, Az.: 12 ME 396/03
Belehrungspflicht; Eingriffsstufe; Entziehung; Fahrerlaubnis; Fahrerlaubnisentziehung; Hemmung; Hinweispflicht; Ordnungswidrigkeit; Punktereduzierung; Tilgung; Verkehrszentralregister
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 16.09.2003
- Aktenzeichen
- 12 ME 396/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48597
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 12.08.2003 - AZ: 6 B 310/03
Rechtsgrundlagen
- § 4 Abs 3 S 1 Nr 1 StVG
- § 4 Abs 3 S 1 Nr 2 StVG
- § 4 Abs 3 S 1 Nr 3 StVG
- § 29 StVG
- § 28 StVG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Eintragung der Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Behörde hemmt die Tilgung vorangegangener Ordnungswidrigkeiten im Verkehrszentralregister.
2. Eine Hinweis- und Belehrungspflicht nach § 4 Abs. 3 Nr. 1 und 2 StVG besteht nur beim Erreichen der Eingriffsstufe, nicht aber bei zwischenzeitlichen Punktereduzierungen, die nicht zu einem Verlassen der Eingriffsstufe geführt haben.
Gründe
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem es die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Fahrerlaubnisentziehung abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag zu Recht abgelehnt, da der Widerspruch gegen die angefochtene Verfügung vom 14. Juli 2003 voraussichtlich keinen Erfolg haben wird.
Rechtsgrundlage für die angefochtene Verfügung ist § 4 Abs.3 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. I, S. 310, abgekürzt StVG). Nach dieser Vorschrift hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich 18 oder mehr Punkte ergeben.
Die Antragsgegnerin hat in ihrer Verfügung vom 14. Juli 2003 zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller einen Punktestand von 20 Punkten aufwies, wobei ihm nach Neuerteilung seiner Fahrerlaubnis am 17. September 2002 wegen zweier Verstöße gegen die StVO am 31. Januar 2003 und am 13. März 2003 jeweils 3 Punkte erteilt worden sind.
Entgegen der Beschwerdebegründung des Antragstellers ist der Punktestand zutreffend errechnet worden.
Unstreitig verfügte der Antragsteller über einen Punktestand von 17 Punkten, als der Landkreis Osterode am Harz mit Bescheid vom 23. Oktober 2000 seine Teilnahme an einem Aufbauseminar für Kraftfahrer anordnete. In diesem Bescheid wurde der Antragsteller sowohl auf die Möglichkeit der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung als auch auf die beim Erreichen von 18 Punkten anzuordnende Entziehung der Fahrerlaubnis hingewiesen. Da der Antragsteller der Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht nachgekommen ist, bewirkte die daraufhin mit Bescheid des Landkreises Osterode am Harz vom 13. Februar 2001 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis keine Löschung der zuvor angesammelten Punkte ( § 4 Abs. 2 Satz 4 StVG).
Bei der Neuerteilung der Fahrerlaubnis am 17. September 2002 wies der Antragsteller weiterhin den gleichen Punktestand auf , so dass keine Verpflichtung der Antragsgegnerin bestand, ihn erneut nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 StVG zu verwarnen und auf die Möglichkeiten der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung und einer beim Erreichen von 18 Punkten anzuordnenden Entziehung der Fahrerlaubnis hinzuweisen.
Die Regelung des § 4 Abs. 5 StVG ist daher nicht einschlägig. Diese Vorschrift regelt den Fall, dass die abgestuften Maßnahmen des § 4 Abs. 3 StVG durch die Fahrerlaubnisbehörde jeweils nach Erreichen von 8 und 14 Punkten nicht erfolgen konnten, weil der Fahrerlaubnisinhaber 14 oder 18 Punkte auf einmal erreicht hat. Die darin getroffene Regelung vermeidet ein Überspringen einer niedrigeren Eingriffsstufe. Danach wird bei Erreichen von 14 oder 18 Punkten auf einmal („auf einen Schlag“) der Punktestand auf 13 reduziert, falls die Maßnahme der ersten Eingriffsstufe (§ 4 Abs. 3 Nr. 1 StVG) unterblieb, und bei Erreichen von 18 Punkten oder mehr auf 17 Punkte, falls die zweite Eingriffsstufe übersprungen wurde (vgl. Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung v. 8.11.1996, Bundesrat-Drucksache 821/96, S. 53 ; Hentschel, Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenrechtlicher Vorschriften vom 19.3. 2001 , NJW 2001, 1901, 1902).In der vom Antragsteller vorgelegten Entscheidung des OVG Münster vom 21. März 2003 (- 19 B 337/03 -, NWVBl 2003, 354) heißt es dazu :
“Die Fahrerlaubnisbehörde muss deshalb nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG die dort vorgesehenen Maßnahmen nicht nur bei einem erstmaligen Erreichen oder Überschreiten von 14 Punkten ergreifen, sondern auch dann, wenn sich der Punktestand in der Folgezeit etwa aufgrund der Tilgung auf unter 14 Punkte reduziert und sich nach der Reduzierung bei dem Betroffenen erneut 14 Punkte ergeben“.
Diese Konstellation ist hier jedoch nicht gegeben, denn der Punktestand des Antragstellers ist nach Neuerteilung der Fahrerlaubnis nicht mehr unter 14 Punkte gesunken. Selbst nach der Tilgung der am 3. Dezember 1997 rechtskräftig gewordenen Ordnungswidrigkeit, die das Kraftfahrt-Bundesamt im Dezember 2002 vorgenommen hatte, verblieben dem Antragsteller noch 14 Punkte. Die Verwarnungs- und Hinweispflicht nach § 4 Abs. 3 Nr. 1 und 2 StVG wird nur beim Erreichen der jeweiligen Eingriffsstufe ausgelöst (vgl.Hentschel, a.a.O. ; Jagow, Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsrechts und anderer Gesetze vom 24. April 1998, DAR 1998, 186, 189), nicht jedoch dann, wenn der Fahrerlaubnisinhaber bei Entziehung der Fahrerlaubnis innerhalb der Stufe verbleibt. Für eine nochmalige Belehrung besteht dann kein Anlass, zumal die gerade erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis eine mehr als ausreichende Warnung darstellt und er bei Erreichen der Eingriffsstufe bereits ausreichend belehrt worden ist.
Mangels einer erneuten Verwarnpflicht ist der Punktestand daher auch nicht nach § 4 Abs. 5 StVG zu reduzieren.
Ferner ist entgegen der Ansicht des Antragstellers auch keine Tilgung der weiteren Ordnungswidrigkeiten eingetreten.
Nach § 29 Abs. 1 StVG werden die im Register gespeicherten Eintragungen nach Ablauf der in Satz 2 bestimmten Fristen getilgt. Bei Entscheidungen wegen einer Ordnungswidrigkeit sieht § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG eine Tilgungsfrist von 2 Jahren vor. Nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG ist die Tilgung einer Eintragung vorbehaltlich der Regelungen in den Sätzen 2 bis 5 erst zulässig, wenn für alle betreffenden Eintragungen die Voraussetzungen der Tilgung vorliegen, wenn im Register mehrere Eintragungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 über eine Person eingetragen sind. Die Begehung neuer eintragungspflichtiger Zuwiderhandlungen führt zur Tilgungshemmung (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Auflage 2003, StVG § 29 Rn. 8).
Dazu heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfes vom 8. November 1996 (Bundesrat-Drucksache 821/96, S. 78): „ An dem Grundsatz, dass die Begehung neuer Verkehrsverstöße die Tilgung bisheriger Eintragungen hemmt, wird festgehalten. Hierdurch soll die Beurteilung des Verkehrsverhaltens wiederholt auffällig gewordener Kraftfahrer über einen ausreichende Zeitraum ermöglicht werden. Nach dem Grundgedanken der Bewährung soll eine Tilgung nur dann erfolgen, wenn innerhalb einer bestimmten Frist keine weiteren Verkehrsverstöße begangen wurden. Ausgenommen hiervon sind die in § 28 Abs. 3 Nr. 10 bis 12 genannten Eintragungen (Entscheidungen ausländischer Stellen, Maßnahmen nach der Fahrerlaubnis auf Probe und dem Punktsystem, Aufbauseminar, verkehrspsychologische Beratung).“
Nach dem Wortlaut des § 29 Abs. 6 Satz 1 haben alle im Register eingetragenen Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 tilgungshemmende Wirkung, also auch unanfechtbare oder sofort vollziehbare Entziehungen einer Fahrerlaubnis durch Verwaltungsbehörden (Nr. 6). Dem Argument der Beschwerde, dass nach dem Sinn des Punktesystems nur Verkehrsverstöße eine tilgungshemmende Wirkung haben sollten, nicht aber die darauffolgenden Sanktionen der Verwaltungsbehörden, kann in Ansehung des Gesetzestextes nicht gefolgt werden. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich nicht nur Entscheidungen über Straftaten in Zusammenhang mit dem Straßenverkehr sowie Entscheidungen über Ordnungswidrigkeiten, sondern auch weitere Entscheidungen der Verwaltungsbehörden in den Katalog der tilgungshemmenden Eintragungen aufgenommen (§ 28 Abs. 3 Nr. 4-8 ), so dass nicht nur den eigentlichen Verkehrverstößen, sondern auch bestimmten weiteren Entscheidungen der Verkehrsbehörde diese Wirkung zukommt. Der Begründung des Gesetzentwurfes, die zunächst etwas missverständlich an die „Begehung neuer Verkehrsverstöße“ anknüpft, ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber gezielte Ausnahmen für bestimmte Eintragungen (§ 29 Abs. 3 Nr. 10 bis 12) gemacht hat, denen er keine tilgungshemmende Wirkung zukommen lassen wollte. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass die tilgungshemmende Wirkung für den hier einschlägigen Tatbestand des § 28 Abs. 3 Nr. 6 StVG durchaus gewollt war. Es widerspräche auch dem vom Gesetzgeber bei der Tilgung zugrundegelegten „Grundgedanken der Bewährung“, wenn trotz der Entziehung der Fahrerlaubnis als einschneidender Sanktion für Fehlverhalten des Kraftfahrers dessen angesammelte Punkte getilgt werden sollten.
Durch die Eintragung der am 17. März 2001 unanfechtbar gewordenen Entziehung der Fahrerlaubnis wurde die Tilgung der letzten vorangegangenen Eintragung vom 7.Oktober 2000 gehemmt, so dass der Antragsteller bei der Neuerteilung der Fahrerlaubnis weiterhin 14 Punkte aufwies, zu denen bis zur angefochtenen Entscheidung noch 6 weitere Punkte aus dem Jahr 2003 hinzutraten.