Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.09.2003, Az.: 7 LA 42/03
Berufung; Eingang; Frist; Gericht; Gerichtsfach; Postaustauschfach; Schriftsatz; Verfügungsgewalt; Zulassung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 09.09.2003
- Aktenzeichen
- 7 LA 42/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48456
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BVerfG - 29.08.2005 - AZ: 1 BvR 2138/03
Rechtsgrundlagen
- § 124a Abs 4 S 2 VwGO
Gründe
Der Antrag ist unzulässig, denn er ist nicht fristgerecht gestellt worden (1.); die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand liegen nicht vor (2.).
1. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts wurde dem damaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 23. Januar 2003 zugestellt. Der Antragsschriftsatz des von ihr für das Zulassungsverfahren zunächst bevollmächtigten Rechtsanwalts vom 24. Februar 2003 trägt den Eingangsstempel des Verwaltungsgerichts vom 25. Februar 2003. Fristablauf war am 24. Februar, einem Montag.
Die Klägerin meint allerdings, die Frist sei gewahrt, denn der Antragsschriftsatz sei durch ihren Prozessbevollmächtigten am 24. Februar 2003 gegen 14.00 Uhr in das für das Verwaltungsgericht bestimmte Gerichtsfach beim Amtsgericht eingelegt worden.
Der Senat vermag sich unter den hier gegebenen Umständen nicht der Auffassung anzuschließen, dass bereits mit der Einlegung des Schriftsatzes in das Gerichtsfach der Zulassungsantrag fristgerecht bei dem Verwaltungsgericht i.S. des § 124a Abs. 4 Satz 2 VwGO gestellt worden ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Einlegung eines Rechtsbehelfs ist der Eingang bei Gericht. Für die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines fristwahrenden Schriftstücks ist allein entscheidend, dass es innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt. Dabei kommt es weder auf das Ende der Dienstzeit noch auf die fristgerechte Entgegennahme durch den zuständigen Bediensteten der Geschäftsstelle an. Das Schriftstück muss (lediglich) rechtzeitig in den Gewahrsam des Gerichts gelangt sein. Ob und wann ein Schriftsatz in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.5.1991 - 2 BvR 215/90 -, NJW 1991, 2076; Beschl. v. 20.4.1982 - 1 BvR 944/80 -, BVerfGE 60, 243, 246). Unterhält ein Gericht bei einem anderen Gericht ein Gerichtsfach (Postaustauschfach) - wie hier das Verwaltungsgericht beim Amtsgericht -, so kommt es mithin für den fristwahrenden Eingang darauf an, ob das Gericht, an das das Schriftstück gerichtet ist, bereits mit dem Einwurf in das Austauschfach die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Schriftstück erhält. Das ist dann der Fall, wenn das Schriftstück unter Ausschluss einer fortbestehenden Zugriffsmöglichkeit des Absenders oder eines Beförderers in den Gewahrsam des Gerichts gelangt (BAG, Beschl. v. 29.4.1986 - 7 AZB 6/85 -, BAGE 52, 19). Ob dies zutrifft, hängt - so das Bundesarbeitsgericht weiter - von der Beschaffenheit des Fachs ab. Ist das Fach so beschaffen, dass es nur durch das Gericht geleert werden kann, so erlangt das Gericht mit dem Einwurf die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Schriftstück; dieses ist dann bei Gericht eingegangen.
Bei dem hier in Rede stehenden Austauschfach des Verwaltungsgerichts in der Wachtmeisterei des Amtsgerichts handelt es sich um ein verschließbares, innen 15 cm hohes und 26 cm breites Fach, welches über eine ca. 3,5 cm hohe Einwurföffnung verfügt. Das Fach wird täglich durch Bedienstete des Verwaltungsgerichts am frühen Vormittag geleert. Auch das Amtsgericht besitzt einen Schlüssel. Entsprechende Fächer unterhalten dort andere Gerichte, Behörden und Anwälte.
Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten kann von einer ausschließlichen tatsächlichen Verfügungsgewalt des Verwaltungsgerichts bereits mit Einwurf in das Fach nicht ausgegangen werden. Abgesehen davon, dass auch das Amtsgericht über einen Schlüssel verfügt, ist nach der Beschaffenheit des Fachs nicht auszuschließen, dass ein eingelegtes Schriftstück von dem Absender oder einem Dritten wieder entnommen werden kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich in dem Fach bereits Schriftstücke befinden und es deshalb bis zu einer gewissen Höhe gefüllt ist. Die relativ hohe Einwurfsöffnung erlaubt dann den Zugriff jedenfalls auf die im oberen Bereich des Fachs liegenden Schriftstücke. Es lässt sich deshalb nicht feststellen, dass Schriftstücke bereits mit dem Einwurf in das Fach dem Zugriff anderer als des Empfängers entzogen sind. Insofern unterscheidet sich dieses Gerichtsfach etwa von Einrichtungen wie einem in einem Gericht vorhandenen Briefkasten oder von einem Post- oder Postschließfach (vgl. BGH, Beschl. v. 19.6.1986 - VII ZB 20/85 -, NJW 1986, 2646), die typischerweise nur von Bediensteten des jeweiligen Gerichts geöffnet werden können und den Zugriff sonstiger Personen nicht erlauben.
Zudem sieht das Verwaltungsgericht - wie seiner Stellungnahme vom 13. März 2003 zu entnehmen ist - den Eingang in den eigenen Empfangsbereich erst mit der Leerung des Fachs als bewirkt an. Es geht somit selbst davon aus, erst zu diesem Zeitpunkt die Verfügungsgewalt über die ihm auf diese Weise zugeleiteten Schriftstücke inne zu haben.
2. Wiedereinsetzung in die danach versäumte Antragsfrist kann nicht gewährt werden. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwGO). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Zwar ist der Antrag auf Wiedereinsetzung rechtzeitig gestellt worden, es sind indessen keine Umstände dargelegt worden, die auf ein Unverschulden an der Versäumung der Antragsfrist schließen lassen. Der frühere Prozessbevollmächtigte der Klägerin, dessen Verschulden sich diese gemäß § 173 VwGO iVm 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss, hat erklärt, er sei bei Einwurf der Antragsschrift am 24. Februar 2003 in das Gerichtsfach des Verwaltungsgerichts davon ausgegangen, dass dieses Fach noch am selben Tag zum Ende der Dienstzeit des Amtsgerichts geleert werden würde. Dieser Vortrag ist nicht geeignet, die Annahme zu rechtfertigen, dass der Vertreter der Klägerin ohne Verschulden gehindert war, die Antragsfrist einzuhalten. Verschulden liegt vor, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Bei einem Rechtsanwalt sind grundsätzlich höhere Anforderungen zu stellen als bei einem juristischen Laien (vgl. nur Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 60 Rn. 9 m.w.N.). Die Grenze des einem Beteiligten Zumutbaren ist allerdings dann überschritten, wenn auf den Rechtssuchenden die Verantwortung für Risiken und Unsicherheiten bei der Entgegennahme rechtzeitig in den Gewahrsam des Gerichts gelangender fristwahrender Schriftsätze abgewälzt wird und die Ursache hierfür allein in der Sphäre des Gerichts zu finden ist (BVerfG, Beschl. v. 7.5.1991, aaO). So verhält es sich hier indessen nicht. Der Antragsschriftsatz ist - wie dargelegt - nicht bereits mit dem Einwurf in das Gerichtsfach in den Gewahrsam des Verwaltungsgerichts gelangt. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte bei sorgfältiger Prozessführung auch nicht darauf vertrauen dürfen, dass das Gerichtsfach nach seinem Einwurf gegen 14.00 Uhr noch zum Ende des Dienstzeit des Amtsgerichts geleert werden würde. Der Sinn und Zweck des Fachs besteht darin, den Austausch von Schriftstücken zwischen Anwälten, Behörden und Gerichten zu erleichtern. Die Einrichtung besagt weder etwas darüber, ob und zu welchem Zeitpunkt eingelegte Schriftstücke in die Verfügungsgewalt des Empfängers gelangen, noch ist sie darauf angelegt, den rechtzeitigen Zugang fristwahrender Schriftstücke zu gewährleisten und ein Vertrauen des Absenders in die Rechtzeitigkeit der Einlegung zu begründen. Dagegen spricht bereits, dass an dem Gerichtsfach Leerungszeiten nicht angegeben sind. Unter diesen Umständen fehlt es auch an jeglichem Grund für die Annahme, das Gerichtsfach des Verwaltungsgerichts werde auch zum Ende der Dienstzeit des Amtsgerichts noch einmal geleert werden. Diese Annahme setzte überdies voraus, dass die Dienstzeit des Verwaltungsgerichts stets länger dauert als die des Amtsgerichts, denn in das Fach des Verwaltungsgerichts bis zum Ende der Dienstzeit des Amtsgerichts eingelegte Post müsste danach zum Verwaltungsgericht transportiert und dort mit einem Eingangsstempel versehen, zumindest aber insgesamt als an diesem Tag eingegangen gekennzeichnet werden. Welche Gründe für eine solche Praxis sprechen könnten, bleibt unerfindlich und wird auch mit dem Wiedereinsetzungsantrag nicht ansatzweise dargelegt. Das Gerichtsfach ist seiner Art nach zudem von vornherein ungeeignet, die Einlegung eines Schriftstücks vor oder nach einem bestimmten maßgeblichen Zeitpunkt - anders als ein Nachtbriefkasten - nachvollziehbar zu machen. Nach allem hätte sich der damalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin bei der gebotenen sorgfältigen Prozessführung nicht damit begnügen dürfen, die Antragsschrift am letzten Tag der Frist gegen 14.00 Uhr in das Austauschfach einzuwerfen.