Sozialgericht Hannover
Beschl. v. 26.09.2013, Az.: S 53 AY 50/11

Zulassung der Sprungrevision gegen ein sozialgerichtliches Urteil

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
26.09.2013
Aktenzeichen
S 53 AY 50/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 49274
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHANNO:2013:0926.S53AY50.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 16.07.2013 - AZ: S 53 AY 50/11

Redaktioneller Leitsatz

Wird ein Antrag auf nachträgliche Zulassung der Sprungrevision gestellt, so richtet sich die Besetzung des Spruchkörpers grundsätzlich nach den allgemeinen Regelungen (Heranziehungsliste). Im Übrigen ist einem Urteil, das kein Ausführungen zu den Voraussetzungen des § 161 SGG enthält, auch keine konkludente Ablehnungsentscheidung zu entnehmen.

Tenor:

Der Antrag auf Zulassung der Sprungrevision gegen das Urteil vom 16.07.2013 (Az: S 53 AY 50/11) wird abgelehnt.

Gründe

Dem Antrag auf

Zulassung der Sprungrevision

musste der Erfolg versagt bleiben.

Nach §§ 161, 160 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist gegen ein Urteil des Sozialgerichts auf Antrag eines Beteiligten und unter Nachweis der schriftlichen Zustimmung des Gegners innerhalb eines Monats ab Zustellung des Urteils die Sprungrevision durch Beschluss zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Voraussetzung dafür ist insbesondere, dass die Rechtssache klärungsfähig und klärungsbedürftig ist.

Der Antrag auf Zulassung der Sprungrevision ist zulässig. Er ist insbesondere frist- und formgerecht erhoben. Der Antrag ist jedoch unbegründet.

Das Gericht ist zur Entscheidungsfindung in ordnungsgemäßer Besetzung gelangt. Über einen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Sprungrevision muss das Gericht in voller Kammerbesetzung entscheiden (BSG, Beschl. v. 18.11.1980, GS 3/79). Höchstrichterlich nicht geklärt ist dagegen, ob bei dieser Entscheidung die an dem zuzulassenden Urteil beteiligten ehrenamtlichen Richter oder die für die nächste Kammersitzung nach der Heranziehungsliste zuständigen Richter miteinzubeziehen sind. Es wird vertreten, dass für die nachträgliche Zulassung zwingend die an der Ausgangsentscheidung beteiligten Richter mitzuwirken haben (SG Hamburg, Beschl. v. 01.03.2012 - S 3 AS 3143/11). Dies solle sich daraus ergeben, dass bereits im Rahmen der Urteilsfindung konkludent über die Nichtzulassung der Sprungrevision mitentschieden wird. Jedenfalls könne nicht ausgeschlossen werden, dass eine solche Entscheidung Gegenstand der Beratungen war und der Vorsitzende dabei überstimmt wurde. Das Ergebnis der konkreten Urteilsberatung würden dagegen nur die damals beteiligten ehrenamtlichen Richter kennen, sodass deren (erneute) Beteiligung einer eigenmächtigen Änderung des ursprünglichen Beratungsergebnisses durch den Vorsitzenden vorbeuge. Diese Erwägungen können im Ergebnis nicht überzeugen. Das Gericht darf die Sprungrevision nur nach Maßgabe der gesetzlichen Vorgaben des § 161 SGG zulassen. Dabei darf eine Zulassung zwar auch dann erfolgen, wenn die Zustimmung des Gegners noch nicht vorliegt (Leitherer in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 161, Rn. 6). Letztlich hat das Gericht jedoch seine Entscheidung über die Zulassung der Sprungrevision nach pflichtgemäßem Ermessen von Amts wegen zu treffen (Leitherer, a.a.O.). Ist im Rahmen der mündlichen Verhandlung bzw. im Rahmen der Vorbereitung dieser jedoch weder die Bereitschaft einer Partei zur Durchführung eines Revisionsverfahrens noch die Erteilung einer Zustimmungserklärung ersichtlich, so besteht auch von Amts wegen keine Notwendigkeit zu einer Entscheidung im Rahmen des Urteils. In einer solchen Konstellation die Entscheidungsfindung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 161 SGG zu unterstellen wiederspräche der tatsächlichen (erstinstanzlichen) Gerichtspraxis. Zudem würde die Unterstellung einer konkludenten (ablehnenden) Entscheidung im Rahmen der Urteilsfindung auch die Zulässigkeit einer nachträglichen Zulassung im Beschlusswege ernsthaft in Frage stellen. Aufgrund der Unanfechtbarkeit der Zulassungsentscheidung (§ 161 Abs. 2 Satz 3 SGG) muss bei einer Entscheidung über die (Nicht-)Zulassung im Urteil ein nachträglich gestellter Zulassungsantrag als unzulässig verworfen werden (zur sogn. Zweitentscheidung: BSG, Urt. v. 16.02.1989 - 4 REg 6/88 = BSGE 64, 296). Schon aufgrund dieser weitreichenden Folgen wird man einem Urteil ohne Ausführungen zu den Voraussetzungen des § 161 SGG keine konkludente Ablehnungsentscheidung entnehmen können (dazu: Ulmer in: Hennig, SGG, 25. AL., § 161, Rn. 31). Ebenfalls ist keine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz festzustellen. Die Beteiligten haben erstmals nach Urteilsverkündung und Abfassung der Urteilsgründe ihr Begehren auf Durchführung der Sprungrevision gegenüber dem Gericht geäußert. Zum Zeitpunkt der Urteilsfindung am 16.07.2013 sah das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen keine Veranlassung über die Zulassung der Sprungrevision zu entscheiden. Die Beteiligten nahmen an der mündlichen Verhandlung teil und hätten daher durch entsprechende Willensbekundungen eine Entscheidung in der damaligen Besetzung des Spruchkörpers herbeiführen können. Wird ein Antrag auf nachträgliche Zulassung gestellt, so richtet sich die Besetzung des Spruchkörpers, wie im vorliegenden Fall, nach den allgemeinen Regelungen (Heranziehungsliste). Etwas anderes mag dann gelten, wenn sich bereits im Rahmen der Urteilsfindung aufgrund der konkreten Umstände eine Entscheidung über die Zulassung der Sprungrevision aufgedrängt hat und dem Urteil über eine solche Entscheidung keine Aussage abzugewinnen ist.

Das Gericht geht hier davon aus, dass die aufgeworfene Rechtsfrage nach den Feststellungen im Urteil vom 16.07.2013 nicht klärungsfähig ist. Die Rechtsfrage ist nur dann klärungsfähig, wenn das Revisionsgericht aufgrund der im erstinstanzlichen Urteil getroffenen Feststellungen die aufgeworfene Rechtfrage beantworten kann und muss. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Beklagte begehrt hier die Klärung der Rechtsfrage, ob, und wenn ja, in welchem Umfang der Anwendungsbereich des § 2 Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bei einer in Haushaltsgemeinschaft lebenden Familie mit teilweisem Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch- Sozialgesetzbuch (SGB II) bzw. AsylbLG eingeschränkt ist. Dabei ist insbesondere aus Sicht des Beklagten relevant, ob hier fiktiv ein möglicher Anspruch der nach dem SGB II leistungsberechtigten Eltern aus § 2 Abs. 1 AsylbLG zu prüfen wäre. Aus den tatsächlichen Feststellungen des Gerichts lässt sich diese Frage nicht beantworten. Denn das erstinstanzliche Urteil enthält keine Feststellungen zu Vorbezugszeiten der Eltern der Klägerin. Es hat insbesondere auch keine Feststellungen zum Vorliegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens getroffen.

Überdies geht das Gericht davon aus, dass die vom Beklagten aufgeworfene Frage auch nicht klärungsbedürftig ist. Von einer Klärungsbedürftigkeit ist danach auszugehen, wenn der Beantwortung der Frage eine über den entschiedenen Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. Dies kann insbesondere mit Rücksicht auf eine Vielzahl gleichgelagerter Streitfälle angenommen werden. Darüber hinaus ist nach Sinn und Zweck der Revision das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts festzustellen. Das Gericht sieht nach diesen Vorgaben keine grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit der hier aufgeworfenen Rechtsfrage. Das Gericht geht weiter davon aus, dass das im vorliegenden Fall festzustellende Auseinanderfall der Aufenthaltstitel zum Nachteil der minderjährigen Kinder dem Vorliegen einer Ausnahmekonstellation geschuldet war. Überdies konnte das Gericht auch keine uneinheitliche Rechtsprechung zu dieser Frage feststellen. Vielmehr hat sich das Gericht den bisher bekannten Entscheidungen und den darin vorgetragenen Begründung zu einer einschränkenden Auslegung des Anwendungsbereiches in § 2 Abs. 3 AsylbLG nach Sinn und Zweck angeschlossen.