Sozialgericht Hannover
Urt. v. 26.09.2013, Az.: S 53 AY 14/13

Leistungsberechtigung im Falle des geduldeten Aufenthalts eines Asylbewerbers

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
26.09.2013
Aktenzeichen
S 53 AY 14/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 49275
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHANNO:2013:0926.S53AY14.13.0A

Tenor:

Der Beklagte wird unter Abänderung seiner Leistungsentscheidungen für den Zeitraum vom 1.4.2012 bis 31.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2013 verurteilt, dem Kläger vorläufige Leistungen nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 18.07.2012 für den Zeitraum vom 1.4.2012 bis 31.07.2012 zu gewähren.

Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Die Berufung gegen diese Entscheidung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für den Zeitraum von April 2012 bis Juli 2012 unter Berücksichtigung der durch das Bundesverfassungsgericht getroffenen Übergangsentscheidung.

Der am 05.06.1986 geborene Kläger aus der Elfenbeinküste reiste im November 2009 in das Bundesgebiet ein. Er betrieb ohne Erfolg ein Asylverfahren (Bescheid des Bundesamtes zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 19.01.2012). Sein Aufenthalt ist seitdem geduldet. Mit Zuweisungsverfügung der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen vom 30.01.2012 wurde der Kläger dem Zuständigkeitsbereich des Beklagten (hier: Stadt Hannover) zum 09.02.2012 zugewiesen.

Am 27.02.2012 stellte der Kläger bei dem Beklagten einen Antrag auf Leistungen nach dem AsylbLG. Der Beklagte bewilligte dem Kläger daraufhin mit Bescheid vom 01.03.2012 "laufende Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nach § 3 ab dem 10.02.2012 bis 31.03.2012 für den Monat 2/2012: 105,08 EUR, für den Monat 3/2012: 191,74 EUR." Weiter heißt es im Bescheid: "Die Leistungen für die Folgemonate werden jeweils monatlich im voraus gewährt, solange sich Ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht geändert haben ( ) Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind keine rentengleichen Dauerleistungen, sondern werden zur Behebung eines am Tag der Bewilligung bestehenden aktuellen Bedarfes erbracht. Die Bewilligung verlängert sich stillschweigend von Tag zu Tag, solange die gesetzlichen und tatsächlichen Voraussetzungen der Leistung anhalten. Dies gilt auch hinsichtlich der mit diesem Bescheid bewilligten Hilfe. Es bleibt daher vorbehalten, ab dem Tag, an dem die Voraussetzungen der Leistung nicht mehr oder nicht mehr in vollem Umfang erfüllt sind, die Zahlung- auch ohne erneute Bescheiderteilung - ganz bzw. in Höhe der nicht mehr zustehenden Teilbeträge einzustellen." Dem Bescheid waren zwei Berechnungsbögen für die Monate Februar und März 2012 beigefügt.

Für die Monate April bis Juli 2012 erhielt der Kläger von dem Beklagten Leistungen in Höhe von 191,74 EUR monatlich. Weitere schriftliche Bescheide erfolgten nicht. Seit 01.08.2012 erhält der Kläger vorläufige Leistungen in Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (Bescheid v. 03.09.2012).

Am 07.12.2012 ließ der Kläger über einen späteren Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen die Leistungsgewährung für den Zeitraum von Februar 2012 bis Juli 2012 erheben. Es bestünde ein Anspruch auf höhere verfassungsgemäße Leistungen. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.2013 als unzulässig zurück. Die Leistungsbewilligung für die Zeit von Februar 2012 bis Juli 2012 beruhe auf dem Bescheid vom 01.03.2012. Dieser sei bei Erhebung des Widerspruchs bereits bestandskräftig gewesen, da die Monatsfrist zur Erhebung des Widerspruchs bereits am 04.04.2012 endete.

Mit der am 28.02.2013 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Es läge insbesondere kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vor. Die Zurverfügungstellung von Taschengeld und Gutscheinen stelle eine konkludente Bescheiderteilung dar. Aufgrund der dabei unterlassenen Rechtsbehelfsbelehrung gelte die Jahresfrist, sodass der Widerspruch fristgemäß erhoben worden sei.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Abänderung seiner konkludenten Leistungsentscheidungen für den Zeitraum vom 01.04.2012 bis 31.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2013 zu verurteilen, ihm höhere Leistungen nach den Vorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 18.07.2012 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass es sich bei dem Bescheid vom 01.03.2012 um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handele. Dies ergebe sich aus der Formulierung, dass sich die Bewilligung "stillschweigend von Tag zu Tag verlängert, solange die gesetzlichen und tatsächlichen Voraussetzungen der Leistung anhalten". Nichts anderes könne sich aus der Entscheidung des BSG (Urt. v. 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R) ergeben. Dieser läge ein anderer Sachverhalt zugrunde.

Zum weiteren Sach- und Streitstand wird auf den Verwaltungsvorgang des Beklagten und den Inhalt der Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist auch begründet.

Das Gericht durfte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Der Beklagte kann sich hinsichtlich der Leistungsbewilligung für den Zeitraum von April 2012 bis Juli 2012 nicht auf eine bestandskräftige Leistungsablehnung im Bescheid vom 01.03.2012 berufen, da dieser Bescheid den Leistungsanspruch für diesen Zeitraum nicht regelt (dazu unter 1). Für die Zeit vom 01.04.2012 bis 31.07.2012 hat der Kläger nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 einen Anspruch auf höhere Leistungen nach § 3 AsylbLG (dazu unter 2).

1)
Der Bewilligungsbescheid vom 01.03.2012 regelt nach seinem objektiven Erklärungsgehalt lediglich das Rechtsverhältnis zwischen Kläger und Beklagten für die Monate Februar und März 2012. Nur insoweit liegt eine bestandskräftige Entscheidung vor. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn dessen Regelungsinhalt - vom Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes her - nach seinen rechtlichen Wirkungen in die Zukunft fortwirken soll, sich also über eine einmalige Gestaltung der Rechtslage hinaus auf eine gewisse - bestimmte oder unbestimmte - zeitliche Dauer in der Zukunft erstrecken soll. Enthält ein Bescheid eine ausdrückliche Bewilligung für einen Monat mit dem Zusatz, dass bei gleichbleibenden Verhältnissen die Leistungen in dieser Höhe erbracht werden, so handelt es sich nach dem Empfängerhorizont nicht um einen sogenannten Dauerverwaltungsakt (BSG, Urt. v. 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R, Rn. 11). Letzterer Zusatz ist dann als Mitteilung zu verstehen, dass die weiteren Bewilligungsentscheidungen konkludent durch tatsächliche Erbringung der Leistung erfolgen sollen (BSG, a.a.O.). Zwar werden im Rahmen der Auslegung auch die weiteren konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sein. Ausgangspunkt der Auslegung muss jedoch nach wie vor der konkrete Bescheidtenor sein (vgl. dazu LSG Niedersachsen-Bremen vom 16.11.2010 - L 8 SO 343/10 ER).

Hier spricht der konkrete Bescheidtenor für die Gewährung von Leistungen lediglich für die Monate Februar und März 2012. Nichts anderes ergibt sich aus der im Bescheid enthaltenen Formulierung, dass sich die Bewilligung stillschweigend von Tag zu Tag verlängere, solange die gesetzlichen und tatsächlichen Voraussetzungen der Leistungen anhalten. Aus dieser Formulierung lässt sich keine belastbare Aussage des Beklagten hinsichtlich der Leistungshöhe für die Monate ab April 2012 herleiten. So werden Leistungen nach dem AsylbLG regelmäßig für den kompletten Monat bewilligt. Würde sich, wie dem Bescheid zu entnehmen ist, die Leistungen lediglich von Tag zu Tag stillschweigend verlängern, könnte der Kläger die für den Monat April 2012 bewilligten Betrag erst am Ende des Folgemonats für sich in Anspruch nehmen. Die vom Beklagten hier standardmäßig verwendete Formulierung lässt sich daher am ehesten als eine Art Widerrufsvorbehalt auslegen.

Daran ändert auch die Formulierung nichts, wonach "die Leistungen für die Folgemonate ( ) jeweils monatlich im voraus gewährt (würden), solange sich in (den) persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen" keine wesentliche Änderung ergebe. Diese Formulierung lässt vielmehr in Verbindung mit dem sich unmittelbar anschließenden Hinweis auf Abholung der Wertgutscheine den Schluss zu, dass die eigentliche Leistungsentscheidung erst an der Ausgabestelle erfolgen soll. Soweit der Beklagte hier keine hinreichenden Parallelen zu der vom BSG am 17.06.2008 entschiedenen Fallgestaltung mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Formulierung "gewähren" und "bewilligen" erkennen will, vermag dies im Ergebnis nicht zu überzeugen. Letztlich fehlt es für eine sachgerechte Übertragung der BSG-Entscheidung auf den vorliegenden Fall an der Kenntnis der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage im Parallelfall. In den Entscheidungen von BSG und LSG fehlen ausführliche Darlegungen zum Inhalt des konkret auszulegenden Bescheides. Die Kammer hält es letztlich allerdings für nicht nachvollziehbar, warum der Beklagte, wenn er einen zeitlich unbefristeten Leistungsanspruch des Leistungsberechtigten verfügen will, in seinem Tenor nicht eine unmissverständliche Formulierung ("ab", "bis auf weiteres") im Bescheidtenor verwendet.

Unabhängig davon geht das Gericht davon aus, dass der Beklagte sich bei unklaren Formulierungen in Bewilligungsentscheidungen nicht nachträglich auf dessen Bestandskraft berufen kann. Denn es obliegt dem Leistungsträge nach Maßgabe des § 37 Abs. 1 Bundesverwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) i.V.m. § 1 Abs. 1 Niedersächsisches Verwaltungsverfahrensgesetz (Nds. VwVfG) hoheitliche Entscheidungen, die auf die Begründung von Rechten und Pflichten gerichtet sind, hinreichend bestimmt und unzweideutig in ihrem Anwendungsbereich zu umschreiben. Dies wäre durch die oben genannten Formulierungen ohne Schwierigkeiten möglich gewesen.

2)
Der Kläger hat nach den Vorgaben der vom Bundesverfassungsgerichts (Urt. v. 18.07.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) geschaffenen Übergangsregelung einen Anspruch auf weitere Leistungen für die Zeit von April 2012 bis Juli 2012. Der Kläger ist aufgrund seines geduldeten Aufenthalts nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG dem Grund nach leistungsberechtigt. Anhaltspunkte für (bedarfsdeckendes) Einkommen bzw. Vermögen hat das Gericht nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Das Gericht hat aufgrund der Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschl. v. 16.10.2008 - L 8 SO 70/08 ER) nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG die Berufung zugelassen, da der Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG hier nicht erreicht wird.