Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 25.06.2003, Az.: 6 A 111/03
Aussageverweigerung; erheblicher Verkehrsverstoß; Fahrtenbuch; Fahrtenbuchanordnung; Geschwindigkeitsüberschreitung; Höchstgeschwindigkeit; Motorrad; Zeugnisverweigerung
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 25.06.2003
- Aktenzeichen
- 6 A 111/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 48024
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 31a StVZO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Das Fahren auf dem Hinterrad eines Motorrades unter Überschreitung der innerörtlich zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 20 km/h stellt eine Verkehrsverfehlung dar, die im Fall, dass der verantwortliche Fahrer nicht ermittelt werden kann, die Anordnung rechtfertigt, für die Dauer von neun Monaten ein Fahrtenbuch zu führen.
Tatbestand:
Der Kläger ist Halter eines Motorrades der Marke Piaggio mit dem amtlichen Kennzeichen GF-B.. Am 30. September 2002 überschritt der Fahrzeugführer dieses Motorrades in der R. Straße in Wolfsburg um 17.09 Uhr die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 20 km/h. Während der Geschwindigkeitsüberschreitung, die durch eine Radarmessung und ein Frontfoto aufgezeichnet wurde, bewegte der Fahrzeugführer das Fahrzeug auf dem Hinterrad fahrend durch die Messzone.
Unter dem 17. Oktober 2002 übersandte die Bußgeldstelle der Stadt Wolfsburg dem Kläger einen Anhörungsbogen mit der ihm zur Last gelegten Ordnungswidrigkeit. Diesen Anhörungsbogen sandte der Kläger Anfang November 2002 an die Bußgeldstelle mit der Anmerkung zurück, dass er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch mache.
Dem Kläger wurde daraufhin am 12. November 2002 ein Fragebogen zur schriftlichen Vernehmung als Zeuge zu der Frage zugeleitet, wer das auf den Kläger zugelassene Motorrad am Tattage gefahren habe. Auch diesen Anhörungsbogen schickte der Kläger mit der Anmerkung zurück, dass er „die Aussage gemäß § 55 StPO“ verweigere.
Die Stadt Wolfsburg ersuchte sodann den Zentralen Ermittlungsdienst der Polizeidienststelle Weyhausen um weitere Untersuchungen. Der eingesetzte Beamte suchte den Kläger und dessen Ehefrau in ihrer Wohnung auf. Auch anhand eines beigezogenen Lichtbildes des Klägers vermochte der Beamte weder eine Identifizierung des Klägers noch eine Täterschaft der Ehefrau festzustellen. Die Stadt Wolfsburg stellte infolgedessen das Bußgeldverfahren mit Verfügung vom 27. Dezember 2002 ein und gab dem Beklagten hiervon Kenntnis.
Mit Bescheid vom 3. Januar 2003 gab der Beklagte dem Kläger auf, für die Dauer von neun Monaten ab Bestandskraft des Bescheides für das Motorrad GF-C. ein Fahrtenbuch zu führen. Mit einem weiteren Bescheid vom gleichen Tage setzte die Behörde für diese Maßnahme eine Gebühr in Höhe von 85,60 Euro (Verwaltungsgebühren = 80,00 €, Portoauslagen = 5,60 €) fest.
Gegen die Bescheide erhob der Kläger am 16. Januar 2003 Widerspruch mit der Begründung, dass die im vorliegenden Fall festgestellte kurzzeitige Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 20 km/h kein gravierender Verkehrsverstoß sei, der die Verpflichtung zum Führen eines Fahrtenbuchs rechtfertige. Auch sei er als Halter dieses Fahrzeugs nicht verkehrsrechtlich vorbelastet.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2003 - zugestellt am 24. Februar 2003 - wies die Bezirksregierung Braunschweig den Rechtsbehelf gegen die Bescheide des Beklagten vom 3. Januar 2003 als unbegründet zurück.
Am 21. März 2003 hat der Kläger in Bezug auf die Anordnung zum Führen eines Fahrtenbuchs den Verwaltungsrechtsweg beschritten. Zur Begründung der Klage wiederholt er sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und hebt hervor, dass in Anbetracht des als nicht schwerwiegend anzusehenden Verstoßes die Androhung ausgereicht hätte, im Falle einer weiteren Verkehrsverfehlung ein Fahrtenbuch führen zu müssen. Überdies wäre die Ermittlung des Fahrzeugführers bei gründlicheren polizeilichen Feststellungen möglich gewesen. Die Polizei habe zwar erfolglos versucht, anhand einer Lichtbildvorlage eine Identifizierung durchzuführen; der Beamte habe aber nicht ermittelt, ob auch andere Personen das Motorrad benutzten. Wenn dadurch, dass er bei dem Verkehrsverstoß einen Helm getragen habe, seine Identifizierung erschwert worden sei, könne dies nicht zu seinen Lasten gehen und zu der Verpflichtung führen, ein Fahrtenbuch führen zu müssen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten über die Anordnung zum Führen eines Fahrtenbuchs vom 3. Januar 2003 i.d.F. des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Braunschweig vom 19. Februar 2003 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er entgegnet:
Bei dem hier festgestellten Verkehrsverstoß handele es sich schon deshalb um eine gravierende Verkehrsverfehlung, weil innerorts die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 20 km/h überschritten worden sei. Außerdem sei das Fahren eines Motorrades auf dem Hinterrad ein besonders unfallträchtiges Verhalten. Nachdem der Kläger von seinem Aussage- und Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe und auch eine Identifizierung anhand des Lichtbildabgleichs nicht möglich gewesen sei, hätten weitere Ermittlungen keinen Erfolg versprochen. Die teilweise Bedeckung des Gesichts durch den Motorradhelm habe sich erschwerend ausgewirkt. Hinweise auf dritte Personen, die als Fahrzeugführer in Betracht gekommen wären, habe der Kläger nicht gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Der Beklagte hat dem Kläger zu Recht das Führen eines Fahrtenbuchs für die Dauer von neun Monaten auferlegt.
Rechtsgrundlage für die gegenüber dem Kläger als Halter des Motorrades mit dem amtlichen Kennzeichen GF-C. getroffene Anordnung, ein Fahrtenbuch zu führen, ist § 31a Satz 1 StVZO. Nach dieser Vorschrift kann die Verwaltungsbehörde einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere Fahrzeuge das Führen eines Fahrtenbuchs auferlegen, wenn die Feststellung des Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
Eine erhebliche Zuwiderhandlung gegen die Verkehrsvorschriften in dem genannten Sinne ist darin zu sehen, dass mit dem auf den Kläger zugelassenen Motorrad innerhalb der Stadt Wolfsburg am 30. September 2002 um 17.09 Uhr die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 20 km/h überschritten worden ist, wobei das Fahrzeug auf dem Hinterrad fahrend die Messzone durchquert hat. Im Hinblick auf die Zweckrichtung dieser Vorschrift als Maßnahme zur Abwendung von Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs rechtfertigt allerdings nur eine Verkehrsverfehlung von einigem Gewicht eine Fahrtenbuchauflage. Ob ein Verkehrsverstoß in diesem Sinne vorliegt, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu beurteilen. So könnte ein einmaliger und unwesentlicher Verkehrsverstoß, der sich überdies weder verkehrsgefährdend auswirken kann noch Rückschlüsse auf die charakterliche Unzuverlässigkeit des Kraftfahrzeugführers zulässt, eine Anordnung zum Führen eines Fahrtenbuchs nicht rechtfertigen (BVerwG, Beschl. vom 09.09.1999, NZV 2000, 386 m.w.N.). Nicht zweifelhaft ist demgegenüber, dass eine Verkehrsverfehlung, die mit mindestens einem Punkt im Sinne der Anlage 13 zur Fahrerlaubnisverordnung bewertet wird, die Anordnung zum Führen eines Fahrtenbuchs rechtfertigen kann (BVerwG, Beschl. vom 09.09.1999, aaO.; Urt. vom 17.05.1995, BVerwGE 98, 227; OVG Münster, Urt. vom 29.04.1999, NZV 1999, 439). Ein gravierender Verkehrsverstoß dieser Art liegt hier ersichtlich vor. Das Fahren mit erheblich überhöhter Geschwindigkeit auf dem Hinterrad eines einspurigen Fahrzeugs, das von Natur aus schon nicht leicht zu beherrschen ist, im Bereich einer Wohnstraße, auf der - wie auf dem Lichtbild zu erkennen ist - Gegenverkehr geherrscht hat, ist ein grob verkehrswidriges und gefährdendes Verhalten, das den Beklagten zu der von ihm verfügten Maßnahme berechtigte.
Die Feststellung des Fahrzeugführers, der bei dem Verkehrsverstoß das Fahrzeug gefahren hat, war der zuständigen Ordnungsbehörde darüber hinaus i.S.d. § 31a Satz 1 StVZO nicht möglich. Eine solche Sachlage ist gegeben, wenn die Behörde nach den Umständen des Einzelfalles nicht in der Lage war, den Täter zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat. Ob die Aufklärung angemessen war, richtet sich insoweit danach, ob die Behörde in sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen getroffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und erfahrensgemäß Erfolg haben können. Dabei kann sich Art und Umfang der Tätigkeit der Behörde, den Fahrzeugführer nach einem Verkehrsverstoß zu ermitteln, an der Erklärung des Fahrzeughalters ausrichten. Lehnt dieser erkennbar die Mitwirkung einer Aufklärung des Verkehrsverstoßes ab, so ist es der Behörde regelmäßig nicht zuzumuten, wahllos zeitraubende und kaum Aussicht auf Erfolg bietende Ermittlungen zu betreiben (BVerwG, Beschl. vom 01.03.1994, VRS 88, 158; Beschl. vom 23.12.1996, 11 B 84/96; OVG Lüneburg, Beschl. vom 17.02.1999, 12 L 669/99; Beschl. vom 27.06.2000, 12 L 2377/00).
Ausgehend von diesen Grundsätzen war der Ermittlungsaufwand der Behörde angemessen. Auf Grund der eigenen Einlassungen des Klägers bzw. seines Prozessbevollmächtigten, dessen Erklärungen der Kläger gegen sich gelten lassen muss, steht nunmehr fest, dass der Kläger das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt selbst geführt hat und ihm dies bewusst war, als er im Ordnungswidrigkeitenverfahren hierzu angehört worden war. Gleichwohl hat der Kläger von vornherein seine Mitwirkung an der Aufklärung des Verkehrsverstoßes verweigert, indem er sich bei seiner Anhörung als Beschuldigter auf ein vermeintliches Zeugnisverweigerungsrecht sowie bei der daraufhin veranlassten Anhörung als Zeuge auf ein Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen hat, ohne zumindest Angaben zu dem Kreis der Fahrzeugbenutzer zu machen. Bei einer solchen Sachlage ist es der Polizei regelmäßig nicht zuzumuten, wahllos zeitraubende und kaum Aussicht auf Erfolg bietende Ermittlungen zu betreiben. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um die Aufklärung von Verkehrsordnungswidrigkeiten handelt, die nur einen Sinn haben, wenn der Täter vor Ablauf der dreimonatigen Verjährungsfrist bekannt ist. Lediglich dann, wenn sich im Einzelfall konkrete Beweisanzeichen ergeben, die auf die Person des Fahrzeugführers hinweisen, sind weitere Ermittlungen angebracht. Gleichwohl hat die Stadt Wolfsburg noch über die Polizeistelle Weyhausen versucht, mit einer Vor-Ort-Ermittlung und einem Lichtbildabgleich weitere Erkenntnisse zu dem Verkehrsverstoß zu erhalten. Diese von Rechts wegen eigentlich nicht mehr gebotenen Ermittlungen waren jedoch erfolglos.
Das dem Kläger im Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeräumte Recht, die Aussage verweigern zu können, um sich nicht selbst belasten zu müssen, steht der Anordnung zum Führen eines Fahrtenbuchs nicht entgegen. Ein doppeltes „Recht“, nach einem Verkehrsverstoß einerseits im Ordnungswidrigkeitenverfahren die Aussage zu verweigern und zugleich trotz fehlender Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrzeugführers auch von einer Fahrtenbuchauflage verschont zu bleiben, besteht nicht. Ein solches Recht widerspräche dem Zweck des § 31a StVZO als Maßnahme zum Schutz des Rechtsguts der Sicherheit und Ordnung im Straßenverkehr (BVerwG, Beschl. vom 22.06.1995, DAR 1995, 459 m.w.N.; Beschl. vom 11.08.1999, NZV 2000, 385; BVerfG, Beschl. vom 07.12.1981, NJW 1982, 586; OVG Lüneburg, Beschl. vom 03.06.2002, 12 LA 469/02). Das gilt sowohl für das Aussageverweigerungsrecht als Beschuldigter (BVerwG, Beschl. vom 20.07.1983, Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 13) als auch für das Zeugnisverweigerungsrecht (BVerwG, Beschl. vom 17.07.1986, Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 15). Der Beklagte hat deshalb zu Recht mit der Anordnung zum Führen eines Fahrtenbuchs dem Kläger für künftige Fälle eine Mitwirkung auferlegt, die der Erhaltung von Ordnung und Sicherheit im Straßenverkehr dienen soll und mit einer Dauer von neun Monaten das Maß der gebotenen effektiven Kontrolle nicht übersteigt.
Die Klage ist infolgedessen mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG und entspricht in dieser Höhe der ständigen Rechtsprechung der Kammer sowie des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg und des Bundesverwaltungsgerichts (250,00 € je Monat der getroffenen Fahrtenbuchanordnung).