Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 18.06.2003, Az.: 2 A 288/02

Befreiung; Besondere Kenntnisse

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
18.06.2003
Aktenzeichen
2 A 288/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48357
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 02. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2002 verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Befreiung von der theoretischen Ausbildung und der theoretischen Prüfung in den Sachgebieten Flugzeugkunde, Elektrotechnik/Avionik, Instrumente, Notverfahren und Physiologie für Flugzeugführer unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte trägt die Verfahrenskosten; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt die Befreiung von Teilen der Ausbildung und der Prüfung zum Erwerb der Erlaubnis für Verkehrsflugzeugführer (ATPL).

2

Am 02. Juni 1998 begann der Kläger eine Ausbildung zum Erwerb der Erlaubnis für Verkehrsflugzeugführer. Vom 03. bis 05. Juli 2000 nahm er an der theoretischen Prüfung teil. Dabei erzielte er folgende Ergebnisse:

3
Luftrecht, Luftverkehrs- und Flugsicherungsvorschriften81 %
Allgemeine Navigation40 %
Funknavigation52 %
Flugplanung35 %
Meteorologie57 %
Aerodynamik78 %
Flugleistung21 %
Beladung und Schwerpunkt27 %
Flugzeugkunde90 %
Elektrotechnik/Avionik87 %
Instrumente86 %
Triebwerkkunde73 %
Notverfahren89 %
Physiologie für Flugzeugführer90 %
4

Unter dem 25. Juli 2000 wurde dem Kläger durch den Vorsitzenden des Prüfungsrates für Verkehrsflugzeugführer mitgeteilt, er habe die Prüfung insgesamt nicht bestanden. Die Frist zur Ablegung der Theorieprüfung gemäß § 14 Abs. 6 LuftPersV a. F. habe am 02. Juni 2000 geendet. Weil die Frist abgelaufen sei, könne eine erneute Prüfung erst nach einer vollständigen neuen Ausbildung abgenommen werden. Am 03. August 2000 wurde der Kläger zur erneuten Ausbildung zum Erwerb der Erlaubnis für Verkehrsflugzeugführer angemeldet. Mit Schreiben vom 21. August 2000 beantragte er Erleichterungen für die theoretische Ausbildung und Prüfung. Unter dem 22. August 2000 wurde dem Kläger mitgeteilt, es könnten keine Erleichterungen gewährt werden. Ausbildungs- bzw. Prüfungserleichterungen seien nur möglich, sofern besondere Kenntnisse in einem oder mehreren Fachgebieten der theoretischen Ausbildung nachgewiesen werden könnten, die weit über das geforderte Maß hinausgingen. Mit Nichtbestehen der theoretischen Prüfung müsse davon ausgegangen werden, dass die Kenntnisse dem geforderten Maß nicht entsprächen. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06. Oktober 2000 zurückwies.

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Auf die daraufhin erhobene Klage (2 A 114/01) verpflichtete die erkennende Kammer die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06. Oktober 2000, den Antrag des Klägers auf Befreiung von der theoretischen Ausbildung und der theoretischen Prüfung in den Sachgebieten Flugzeugkunde, Elektrotechnik/Avionik, Instrumente, Notverfahren und Physiologie für Flugzeugführer unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Zur Begründung führte das Gericht an, die Beklagte habe von dem ihr in § 129 Abs. 1 Sätze 2 und 3 LuftPersV a. F. eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Obwohl sie besondere Kenntnisse im Sinne dieser Vorschriften immer dann annehme, wenn in einem Sachgebiet mehr als 85 % der möglichen Punkte erzielt worden seien, habe sie ihr Ermessen nicht dahin ausgeübt, ob dem Kläger, der in einigen Sachgebieten diesen Prozentanteil erreicht habe, die beantragten Erleichterungen zu gewähren seien.

6

Mit Bescheid vom 02. Mai 2002 teilte die Beklagte - bezugnehmend auf das Urteil des VG Braunschweig vom 20.03.2002 in dem Verfahren 2 A 114/01 - dem Kläger mit, dass keine Ausbildungs- und Prüfungserleichterungen bei Neubeginn der Ausbildung zum Erwerb der Erlaubnis für Verkehrsflugzeugführer gewährt werden könnten. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse der theoretischen Prüfung könne zwar angenommen werden, dass der Kläger über besondere Kenntnisse i.S. des § 29 Abs. 1 Satz 2 LuftPersV in den Sach-/Fachgebieten Flugzeugkunde, Elektrotechnik/Avionik, Instrumente, Notverfahren und Physiologie für Flugzeugführer verfüge. Einer Gewährung von Erleichterungen auf dieser Grundlage stehe aber entgegen, dass der Kläger die theoretische Prüfung nach § 15 LuftPersV a. F. insgesamt nicht bestanden habe und daher davon auszugehen sei, dass er insgesamt nicht über ausreichende Kenntnisse verfüge. Dieser Fall der vollständig nicht bestandenen Prüfung sei anders zu betrachten als Fälle, in welchen eine Wiederholung der Ausbildung und Prüfung zum Beispiel wegen Fristablaufs erforderlich werde. ln diesen Fällen sei die Prüfung insgesamt mit „bestanden“ bewertet worden, so dass in den Fächern mit entsprechender Punktzahl Erleichterungen gewährt werden könnten. Die Forderungen an die Ausbildung beim Erwerb der Erlaubnis für Verkehrsflugzeugführer seien im Hinblick auf die umfangreiche Verantwortung des Luftfahrtzeugführers und den besonderen Sicherheitsaspekten entsprechend hoch einzustufen. Diesen Aspekt führte die Beklagte im Hinblick auf die beantragten Erleichterungen im Prüfungsverfahren weiter aus. Sie gelangte zu ihrem Ergebnis danach „unter Berücksichtigung der besonderen Situation des Klägers und unter Abwägung aller Umstände“.

7

Der Kläger legte Widerspruch ein, den er u. a. damit begründete, der Bescheid der Beklagten enthalte allgemein gehaltene und unsubstantiierte Ausführungen. Auf einen Zeitablauf im Prüfungsverfahren dürfe die Beklagte nicht abstellen. Das Gesetz halte Zeitabläufe nicht für ein maßgebliches Kriterium, was daraus folge, dass auch lizenzierte Flugzeugführer sich nicht regelmäßigen theoretischen Nachprüfungen stellen müssten. Es sei widersprüchlich, einerseits besondere Kenntnisse in einzelnen Fächern festzustellen, andererseits zu sagen, der Bewerber müsse Gelegenheit haben, Defizite auszuräumen und einen umfassenden Überblick über den Ausbildungsstoff zu erlangen. Ferner sei es treuwidrig, sich auf einen Zeitablauf zu berufen, den die Beklagte hier selbst verursacht habe.

8

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2002 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie stellte u. a. darauf ab, die Behörde könne innerhalb des ihr gegebenen Ermessensspielraums festlegen, inwieweit sie einen gleichbleibend qualitativ hochwertigen Ausbildungsstand gewährleiste.

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Der Kläger hat am 26. September 2002 Klage erhoben. Zu deren Begründung bezieht er sich auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren. Ergänzend trägt er vor, es sei nicht ansatzweise ersichtlich, weswegen auch in Fächern, in denen anerkanntermaßen besondere Kenntnisse bestünden, eine komplette Neuausbildung erforderlich sein solle, um später verantwortungsbewusst fliegen zu können.

10

Der Kläger beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 02.05.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.08.2002 zu verpflichten, den Antrag auf Befreiung von der theoretischen Ausbildung und der theoretischen Prüfung in den Sachgebieten Flugzeugkunde, Elektronik/Avionik, Instrumente, Notverfahren und Physiologie für Flugzeugführer im Rahmen der erneuten Ausbildung zum Erwerb der Erlaubnis für Verkehrsflugzeugführer (ATPL) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

14

Sie tritt dem Vorbringen des Klägers mit der Argumentation aus dem Widerspruchsverfahren entgegen. Ergänzend legt sie dar, in allen Fällen nicht bestandener theoretischer Prüfungen wie im Fall des Klägers zu verfahren. Zu berücksichtigen sei, dass bei einer nicht bestandenen theoretischen Prüfung in mindestens 7 von 14 Fächern weniger als 75 % der erforderlichen Punktzahl erreicht worden sei. Das rechtfertige es, zur Sicherung eines hohen Ausbildungs- und Kenntnisstandes der Verkehrsflugzeugführer die nochmalige Ausbildung und Prüfung in allen Fächern zu verlangen.

15

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Gerichtsakte in dem Verfahren 2 A 114/01 sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben dem Gericht bei der Entscheidung vorgelegen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.

17

Der Kläger hat einen Anspruch auf eine Verpflichtung der Beklagten zu einer erneuten Bescheidung seines Antrages auf Befreiung von der theoretischen Ausbildung und der theoretischen Prüfung in den Sachgebieten Flugzeugkunde, Elektrotechnik/Avionik, Instrumente, Notverfahren und Physiologie für Flugzeugführer im Rahmen der erneuten Ausbildung zum Erwerb der Erlaubnis für Verkehrsflugzeugführer (ATPL) gem. § 129 Abs. 2 Satz 1 und 3 LuftPersV (i.d.F. d. Bek. v. 13.02.1984, BGBl. I S. 265, zul. geänd. d. Art. 2 VO v. 10.02.2003, BGBl. I S. 182, 195).

18

Der Bescheid der Beklagten vom 02.05.2002 i.d.F. des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 23.08.2002 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

19

Die Beklagte hat über den Antrag des Klägers auf Befreiung von der Ausbildung und der Prüfung für bestimmte Sachgebiete wiederum nicht ermessensfehlerfrei entschieden.

20

§ 129 Abs. 1 Satz 2 LuftPersV i.d.F. in der vor der Änderung der LuftPersV durch Art. 2 der VO vom 10.02.2003 geltenden Fassung ist mit dem selben Wortlaut nunmehr zum § 129 Abs. 2 Satz 1 LuftPersV geworden. Danach kann die zuständige Stelle von der Ausbildung in einem Sachgebiet ganz oder teilweise befreien, wenn der Bewerber besondere Kenntnisse in diesem Sachgebiet der theoretischen Ausbildung nachweist. Der vormalige Satz 3 des § 129 Abs. 1 LuftPersV ist nunmehr Satz 3 des § 129 Abs. 2 LuftPersV und hat folgenden Wortlaut:

21

„Die Sätze 1 bis 3 finden auf die theoretische Prüfung sinngemäß Anwendung“.

22

Die Beklagte hat im vorliegenden Fall ihr Ermessen nach diesen Vorschriften fehlerhaft ausgeübt, weil sie einen sachwidrigen Gesichtspunkt zur Grundlage ihrer Entscheidung gemacht hat. Sie hat eine Befreiung nämlich allein mit dem Argument abgelehnt, der Kläger habe die theoretische Prüfung nicht bestanden. Bei einer insgesamt nicht bestandenen theoretischen Prüfung sei davon auszugehen, dass das Gesamtwissen des Bewerbers im Hinblick auf den relevanten Prüfungsstoff (der Grundlage der späteren Tätigkeit sei) nicht den Standard gewährleiste, der im Interesse der Sicherheit vorhanden sein müsse (vgl. im Einzelnen den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid). Der Kläger hat besondere Kenntnisse in den fünf Sachgebieten gezeigt, in denen er in der theoretischen Prüfung vom Juli 2000 mehr als 85 % der erforderlichen Punkte erreichte.

23

§ 129 Abs. 2 Satz 1 und 3 LuftPersV sieht bezogen auf ein Sachgebiet die Befreiung in solchen Fällen vor. Wenn keine anderen Gesichtspunkte angeführt werden, die dagegen sprechen, ist die Befreiung folglich zu erteilen. Auf die gesamte theoretische Prüfung abzustellen, ist widersprüchlich. Damit würde die Vorschrift in Fällen wie den vorliegenden ins Leere laufen. Das Gericht teilt nicht die Einschätzung, dass eine Wiederholung der gesamten Prüfung im Interesse der Sicherheit des Luftverkehrs notwendig ist, wenn ein Bewerber bereits gezeigt hat, dass er mehr als 85 % der geforderten Leistung in der theoretischen Prüfung erbringt.

24

Eine Wiederholung von Prüfung und Ausbildung ist allerdings auch hier geboten, wenn zwischen der theoretischen Prüfung und dem Befreiungsantrag ein zu großer Zeitraum verstrichen ist. Dann ist im Regelfall anzunehmen, dass die notwendigen Kenntnisse auch in den vormals mit hoher Prozentzahl absolvierten Fächern nicht mehr in ausreichendem Maße vorhanden sind. Ausschlaggebend muss immer die nach der theoretischen Prüfung vergangene Zeit sein. Deshalb kann ein Befreiungsantrag auch ermessensfehlerfrei abgelehnt werden, wenn die theoretische Prüfung bestanden, aber die Frist von 24 Monaten nach § 128 Abs. 10 Satz 2 LuftPersV und von 12 Monaten nach § 128 Abs. 11 LuftPersV überschritten wurde. Die Beklagte verkennt den Anwendungsbereich des § 129 Abs. 2 Satz 1 und 3 LuftPersV, wenn sie eine Befreiung im Wesentlichen auf die Fälle des Zeitablaufs nach den vorgenannten Bestimmungen reduzieren will. Besteht allerdings zwischen einzelnen Prüfungsfächern ein sachlicher Zusammenhang, was etwa bei den Fächern Allgemeine Navigation, Funknavigation und Flugplanung oder bei den einzelnen technischen Fächern der Fall sein mag, so können schlechte Ergebnisse in einzelnen dieser Fächer dazu führen, dass auch ein mit mehr als 85 % bestandenes Nachbarfach zu wiederholen ist. Eine schematische Anwendung der Befreiungsregelung verbietet sich mithin, zumal auch der Unterschied zwischen Ausbildung und Prüfung im Einzelfall zu berücksichtigen ist.

25

Die Beklagte hat ihre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht gemäß § 114 Satz 2 VwGO ergänzt. Eine Ermessensreduzierung auf Null und damit ein Verpflichtungsurteil kommt nach Überzeugung der Kammer auch in diesem Verfahren nicht in Betracht.

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.