Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.10.1996, Az.: VII 552/95
Gemeinsame Veranlagung von Eheleuten zur Einkommensteuer; Anforderungen an die Aufhebung eines Einspruchsbescheides; Voraussetzungen für das Vorliegen eines Einkommensteuerbescheides
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 15.10.1996
- Aktenzeichen
- VII 552/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 18723
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1996:1015.VII552.95.0A
Rechtsgrundlagen
- § 155 Abs. 1 AO 1977
- § 118 AO 1977
Verfahrensgegenstand
Auslegung nach Empfängerhorizont.
Einkommensteuer 1992
Der VII. Senat des Finanzgerichts Niedersachsen hat
ohne mündliche Verhandlung
in der Sitzung vom 15. Oktober 1996,
an der mitgewirkt haben:
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Einspruchsbescheid vom 14. September 1995 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits. Das Urteil ist für den Kläger wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der an den Kläger zu erstattenden Kosten abzuwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Bescheid vom 3. April 1995 einen Einkommensteuerbescheid darstellt oder ob das nicht der Fall ist.
Der Kläger wurde mit seiner Ehefrau zusammen zur Einkommensteuer (ESt) 1992 veranlagt.
Die Ehefrau des Klägers erzielte ab August 1992 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In der ESt-Erklärung 1992 machte sie dazu jedoch keine Angaben und reichte trotz mehrfacher Erinnerung auch die Lohnsteuerkarte nicht beim Finanzamt (FA) ein. Daraufhin schätzte das FA den Bruttoarbeitslohn der Ehefrau des Klägers mit 20.000 DM. Dementsprechend erging am 6. Juli 1994 der ESt-Bescheid 1992, der an Herrn und Frau R. und D. J. gerichtet war.
Mit Schreiben vom 20. September 1994 teilte die Ehefrau des Klägers dem FA mit, sie habe sich von ihrem Ehemann getrennt. Infolgedessen sei die Vorlage der Lohnsteuerkarte in Vergessenheit geraten. Die Ehefrau des Klägers legte Einspruch gegen den ESt-Bescheid 1992 vom 6. Juli 1994 ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Aus der dem FA vorgelegten Lohnsteuerkarte ergab sich, daß der Bruttoarbeitslohn der Ehefrau des Klägers 4.906 DM und die vom Arbeitgeber einbehaltene Lohnsteuer 862 DM betragen hatte.
Das FA teilte der Ehefrau des Klägers, die von diesem getrennt lebte, mit, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht und stellte ihr die Rücknahme des Einspruchs anheim. Weiter erging der Hinweis, das FA werde prüfen, inwieweit § 173 AO bzw. § 130 AO Anwendung finden könne. Darüber werde ein gesonderter Bescheid ergehen. Die Ehefrau des Klägers nahm daraufhin ihren Einspruch zurück.
Das FA erließ am 3. April 1995 zwei inhaltlich gleichlautende Bescheide für Herrn und Frau R. und D. J., die an Herrn R. J., P. straße 10 bzw. Frau D. J., Po. straße 9 in Wilhelmshaven gerichtet waren. Diese Bescheide waren als Bescheid für 1992 über ESt und Solidaritätszuschlag sowie mit Festsetzung und Abrechnung bezeichnet. Unter der Überschrift "Art der Festsetzung" heißt es: Der Bescheid ist nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert.
Im Abrechnungsteil war beim Steuerabzug vom Lohn der sich aus der Lohnsteuerkarte der Ehefrau des Klägers ergebende Betrag in Höhe von 862 DM zusätzlich berücksichtigt. Dementsprechend verringerte sich die zu zahlende ESt von 4.566 DM unter Berücksichtigung einer zwischenzeitlichen Tilgung in Höhe von 89 DM auf 3.615 DM. Unter den Erläuterungen hieß es unter Ziffer 2: "Dieser Bescheid ändert den Bescheid vom 06.07.1994" und unter Ziffer 3: "Hierdurch erledigt sich ihr Rechtsbehelf/Antrag vom 20.09.1994." Unter dem Bescheid war eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt, daß als Rechtsbehelf der Einspruch gegeben sei.
Gegen den Bescheid vom 3. April 1995 legte der Kläger am 20. April 1995 Einspruch ein. Er trug vor, die vom FA vorgenommene Schätzung der Einkünfte seiner Ehefrau aus nichtselbständiger Arbeit sei zu berichtigen. Anstelle des vom FA geschätzten Bruttoarbeitslohns in Höhe von 20.000 DM sei der tatsächliche Bruttoarbeitslohn in Höhe von 4.906 DM anzusetzen.
Das FA vertrat jedoch die Auffassung, es handele sich bei dem Bescheid vom 3. April 1995 nicht um einen ESt-Bescheid, sondern um einen Abrechnungsbescheid. Die Besteuerungsgrundlagen seien lediglich noch einmal mit ausgedruckt worden. Die Änderungsvorschrift (§ 172 Abs. 1 Nr. 2 AO) sei zwar unzutreffend angegeben worden, da derÄnderungsbescheid nach § 131 Abs. 1 AO ergangen sei. Die Angabe einer unrichtigen Änderungsvorschrift beeinflusse den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes jedoch nicht. Ein Rechtsbehelf sei somit nur gegen den geänderten Abrechnungsteil zulässig gewesen, nicht aber gegen den bereits in Bestandskraft erwachsenen - nicht geänderten ESt-Bescheid. Der Kläger teilte dem FA daraufhin im Einspruchsverfahren mit, er habe keine Kenntnis davon gehabt, daß seine von ihm getrennt lebende Ehefrau am 20. September 1994 Einspruch eingelegt und einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt habe. Die Auffassung des FA, der ESt-Bescheid 1992 sei bestandskräftig, sei nicht nachvollziehbar, da der Bescheid vom 3. April 1995 eine Rechtsbehelfsbelehrung beinhalte.
Das FA wies den Einspruch mit Einspruchsbescheid vom 14. September 1995 zurück. Es führte aus, der Einspruch richte sich gegen einen Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO. Insoweit sei er zulässig aber unbegründet. Soweit sich der Einspruch gegen die festgesetzte ESt richte, sei er als unzulässig zu verwerfen. Der Einspruch vom 20. April 1995 sei erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist eingegangen, diese habe mit der Absendung des vom 6. Juli 1994 datierenden ESt-Bescheides begonnen.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage. Er vertritt die Auffassung, bei dem Bescheid vom 3. April 1995 handele es sich um einen Steuerbescheid und nicht lediglich um einen Abrechnungsbescheid. Es sei auf den Empfängerhorizont eines steuerlichen Laien abzustellen. Das FA habe eine neue Veranlagung unter Berücksichtigung der von seiner Ehefrau tatsächlich erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit durchzuführen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Einspruchsbescheid vom 14. September 1995 aufzuheben.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hält an seiner bereits im Einspruchsverfahren vertretenen Rechtsauffassung fest, der Bescheid vom 3. April 1995 stelle keinen ESt-Bescheid, sondern einen Abrechnungsbescheid dar.
Infolgedessen sei der Einspruch, soweit er sich gegen die Steuerfestsetzung richte, zu Recht als unzulässig verworfen worden.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Das FA hat zu Unrecht den Einspruch vom 20. April 1995, der sich gegen die ESt-Festsetzung richtet, als - da nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist eingelegt - unzulässig verworfen. Der Einspruch richtete sich nicht gegen den ESt-Bescheid vom 20. Juli 1994, sondern gegen den ESt-Bescheid vom 3. April 1995 und ist deshalb innerhalb der Rechtsbehelfsfrist rechtzeitig eingelegt worden.
Der Bescheid vom 3. April 1995 beinhaltete entgegen der Auffassung des FA einen neuen anfechtbaren ESt-Bescheid, nicht nur eine wiederholende Verfügung.
Die Steuern werden nach § 155 Abs. 1 AO von der Finanzbehörde durch Steuerbescheid festgesetzt.
Schulden mehrere Steuerpflichtige, die, wie im Streitfall der Kläger und seine Ehefrau, zusammenveranlagt werden, eine Steuer, können gegen die Steuerpflichtigen zusammengefaßte Steuerbescheide ergehen (§ 155 Abs. 3 AO).
Nach § 155 Abs. 1 Satz 2 AO ist Steuerbescheid der nach § 122 Abs. 1 AO bekanntgegebene Verwaltungsakt. Nach § 118 AO ist Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet desöffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist.
Ob ein Verwaltungsakt vorliegt und mit welchem Inhalt, ist nach den Auslegungsgrundsätzen auszulegen, die für Willenserklärungen allgemein gelten. Maßgebend für den Inhalt der Erklärung ist nicht der innere Wille des Bearbeiters, sondern der erklärte Wille, wie ihn der Adressat von seinem Standpunkt bei verständiger Würdigung verstehen konnte (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) VII C 3.71, BVerwGE 49, 305, 306).
Für die Auslegung des erklärten Willens kann auch schon das Fehlen oder das Vorhandensein einer Rechtsmittelbelehrung von gewisser Bedeutung sein, ohne das dies allerdings zwingend ist (vgl. Urteil des BVerwG VI C 113.67, BVerwGE 29, 310, 312).
Nach dem Empfängerhorizont des Klägers handelte es sich bei dem Bescheid vom 3. April 1995 um einen ESt-Bescheid.
Zum einen war der Bescheid als Bescheid für 1992 über ESt und Solidaritätszuschlag bezeichnet. Er enthielt die Überschrift "Festsetzung und Abrechnung" und war mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen. Daraus war für den Kläger nach den ihm bekannten Umständen bei verständiger Würdigung ersichtlich, daß die ESt 1992 erneut festgesetzt werden sollte.
Dem steht nicht der Umstand entgegen, daß der Kläger bereits am 6. Juli 1994 einen bezüglich der ESt-Festsetzung gleichlautenden Bescheid erhalten hatte.
Während der Bescheid vom 6. Juli 1994 an Herrn und Frau R. und D. J. adressiert war, war der Bescheid vom 3. April 1995 an Herrn R. J. für Herrn und Frau R. und D. J. gerichtet. Auch dieser Umstand spricht - aus der Sicht eines steuerlichen Laien - dafür, daß die ESt durch erneuten Bescheid gegen den Kläger festgesetzt werden sollte.
Zwar ist im Abrechnungsteil des Bescheides vom 3. April 1995 die für die Ehefrau des Klägers abgeführte Lohnsteuer in Höhe von 862 DM zusätzlich berücksichtigt worden, so daß sich die zu zahlende ESt von 4.566 DM unter Berücksichtigung einer zwischenzeitlichen Tilgung in Höhe von 89 DM auf 3.615 DM verringerte. Auch dieser Umstand spricht jedoch aus Sicht des Klägers nicht dafür, daß das FA mit Bescheid vom 3. April 1995 nur einen Abrechnungsbescheid oder eine Abrechnungsverfügung, nicht jedoch ein Steuerbescheid erlassen wollte. Dafür, daß der Bescheid vom 3. April 1995nur eine Abrechnungsverfügung beinhalten sollte, ergeben sich auch aus den Erläuterungen keine Hinweise.
Der Umstand, daß es unter Ziffer 2 der Erläuterungen heißt "Dieser Bescheid ändert den Bescheid vom 06.07.1994", deutet zwar auf die Änderung des Abrechnungsteils des ESt-Bescheids vom 6. Juli 1994 hin. Dieser Hinweis spricht jedoch nicht dagegen, daß die Steuer erneut gegen den Kläger festgesetzt worden ist.
Der Hinweis "Hierdurch erledigt sich Ihr Rechtsbehelf/Antrag vom 20.09.1994" war für den Kläger unverständlich, da ihm der von seiner getrennt lebenden Ehefrau gestellte Antrag vom 20. September 1994 nicht bekannt war. Adressat des Bescheids vom 3. April 1994 war der Kläger, so daß er sich die Kenntnis seiner getrennt lebenden Ehefrauüber den von ihr gestellten Antrag und den sich daran anschließenden Schriftverkehr mit dem FA nicht zurechnen lassen muß.
Schließlich ist auch aus der Rechtsbehelfsbelehrung nicht ersichtlich, daß diese sich allein auf den geänderten Abrechnungsteil des Bescheides vom 3. April 1994 beziehen sollte. Infolgedessen konnte der Kläger davon ausgehen, daß auch die in dem Bescheid enthaltene Steuerfestsetzung mit dem Rechtsbehelf des Einspruchs angegriffen werden konnte.
Aus Sicht des Klägers erscheint der Bescheid vom 3. April 1995 somit als erneuter ESt-Bescheid und nicht lediglich als wiederholende Verfügung ohne Regelungsinhalt. Zwar war der Bescheid vom 3. April 1995 bezüglich der festgesetzten Steuer und der mitgeteilten Besteuerungsgrundlagen inhaltsgleich mit dem Bescheid vom 6. Juli 1994, so daß er sich bei dem Bescheid vom 3. April 1995 um eine wiederholende Verfügung ohne Regelungsinhalt handeln könnte. Dagegen spricht jedoch, wie bereits ausgeführt, daß der Bescheid vom 3. April 1995 mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen ist. Maßgebend für die Auslegung der Erklärung ist - wie bereits ausgeführt - nicht der innere Wille der Behörde, sondern der erklärte Wille, wie ihn der Adressat von seinem Standpunkt bei verständiger Würdigung verstehen konnte.
Dementsprechend kommt es für die Frage der Auslegung des Bescheids vom 3. April 1995 auch nicht darauf an, ob das FA überhaupt dazu berechtigt oder verpflichtet war, einen erneuten ESt-Bescheid zu erlassen.
Für den Kläger bestand auch nicht die Verpflichtung, beim FA oder seiner getrennt lebenden Ehefrau Nachfrage zu halten, welche näherer Bewandtnis es mit dem Bescheid vom 3. April 1995 haben sollte.
Der Kläger als Empfänger einer nach ihrem objektiven Erklärungsinhalt unmißverständlichen Willensäußerung des FA darf nicht dadurch benachteiligt werden, daß der Erklärungsinhalt des Bescheides vom 3. April 1995 nicht mit dem Willen des FA übereinstimmt. Das FA trägt das dahingehende Erklärungsrisiko, da es ihm möglich gewesen wäre, durch eine unmißverständliche Abrechnungsverfügung klarzustellen, daß nicht eine erneute ESt-Festsetzung erfolgen, sondern nur die für die Ehefrau des Klägers abgeführte Lohnsteuer in Höhe von 826 DM auf die ESt angerechnet werden sollte.
Das FA hat damit den Einspruch des Klägers zu Unrecht als unzulässig verworfen. Der Einspruchsbescheid war damit antragsgemäß aufzuheben.
Einer Änderung des ESt-Bescheids vom 3. April 1995 zugunsten des Klägers steht schließlich auch nicht die Vorschrift des § 351 Abs. 1 AO entgegen. Danach können Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern nur insoweit angefochten werden, als die Änderung reicht, es sei denn, daß sich aus den Vorschriftenüber die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten etwas anderes ergibt. Im Streitfall erfolgte jedoch durch den Bescheid vom 3. April 1995 keine Änderung der Steuerfestsetzung, sondern eine neue, wenn auch inhaltsgleiche Steuerfestsetzung.
Der Bescheid vom 3. April 1995 enthielt zwar den Hinweis, daß der Bescheid nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert sei. Dieser Hinweis bezieht sich jedoch - wie für den Kläger ersichtlich - nur auf den geänderten Abrechnungsteil des Bescheids, nicht aber auf die unveränderte Steuerfestsetzung.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, da die Rechtsfrage klärungsbedürftig ist, unter welchen Voraussetzungen bei Vorliegen eines bestandskräfigten Steuerbescheids der Erlaß eines erneuten Steuerbescheids anzunehmen ist, der dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, die Steuerfestsetzung mit dem Einspruch anzugreifen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 3 FGO i.V.m.§§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.