Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 16.12.1997, Az.: 5 U 65/97
Gerichtliche Unterrichtungspflicht bezüglich Krankenunterlagen im Arzthaftungsrecht; Beweislasten bei einer fehlgeschlagenen Sterilisation
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 16.12.1997
- Aktenzeichen
- 5 U 65/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 21772
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1997:1216.5U65.97.0A
Rechtsgrundlagen
- § 539 ZPO
- § 286 ZPO
- § 540 ZPO
Fundstelle
- OLGReport Gerichtsort 1998, 78-79
Amtlicher Leitsatz
Im Arzthaftungsrecht muss sich das Gericht selbst über die vom Sachverstand ausgewerteten Krankenunterlagen unterrichten.
Beweislasten bei einer fehlgeschlagenen Sterilisation auf Berechnung der Unterhaltsaufwendungen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Schadensersatz wegen einer fehlgeschlagenen Sterilisation. Der Beklagte nahm bei der Klägerin am 6.5.1991, dem Tag nach der Geburt des dritten Kindes, einen Eingriff mit dem Ziel der Sterilisation sowohl aus medizinischen als auch aus sozialen Gründen vor. Dennoch wurde die Klägerin erneut schwanger und gebar am 2.3.1996 das vierte Kind. Die Klägerin hat behauptet, die Sterilisation sei nicht bzw. nicht fachgerecht durchgeführt worden. Denn bei der Geburt des vierten Kindes sei die rechte Tube durchgängig gewesen. Darüber hinaus sei sie nicht ordnungsgemäß, insbesondere nicht über die Versagerquote aufgeklärt worden. Die Klägerin rügt mit der Berufung insbesondere, dass ausgehend von den Ausführungen des erstinstanzlich hinzugezogenen Sachverständigen nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Beklagte - wie in dem Operationsbericht festgehalten - nur einseitig Tubenteilstücke entfernt habe. Die Fotodokumentation, die anlässlich der Sterilisation nach der vierten Geburt mit dem Ziel der Beweissicherung gefertigt worden sei, sei nicht verwertet worden. Sie behauptet unter Beweisantritt, an der rechten Tube habe sich zu diesem Zeitpunkt keine Seidenligatur befunden, obwohl diese nicht resorbiert werde. Jedenfalls sei die Seidenligatur nicht - wie geboten - an beiden Enden angebracht worden. Eine ordnungsgemäße Aufklärung über das Versagerrisiko sei bereits deshalb nicht erfolgt, weil sie lediglich ein unvollständig ausgefülltes Merkblatt unterschrieben, ein Aufklärungsgespräch mit ihr jedoch nicht geführt worden sei. Daher sei ihr das Bestehen eines Restrisikos und die daraus folgende Bedeutung zusätzlicher, empfängnisverhütender Maßnahmen, die sie sonst angewandt hätte, nicht bewusst geworden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg, soweit die Klägerin Unterhalt über das 18. Lebensjahr ihres Kindes hinaus und soweit sie monatlichen Unterhalt in Höhe von mehr als 199,- DM nebst Zinsen begehrt. Denn insoweit ist die Klage bereits ausgehend von dem Vorbringen der Klägerin unbegründet. Im Übrigen führt die Berufung zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit dem zu Grunde liegenden Verfahren und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht.
1.
Die Klägerin macht mit der Erwägung, dass Anspruch auf Erstattung der zweiten Hälfte der Unterhaltsaufwendungen der andere Elternteil habe, lediglich die Hälfte des von ihr in der Berufungsinstanz auf monatlich insgesamt 798,- DM bezifferten Unterhaltsschadens geltend. Diesen Betrag errechnet sie unter Hinweis auf die Entscheidung des BGH vom 18.3.1980 (BGHZ 76, 259 [BGH 18.03.1980 - VI ZR 247/78] = NJW 1980, 1452, 1455 f.) [BGH 18.03.1980 - VI ZR 247/78] aus dem doppelten Satz des Regelunterhalts (2 x 349,- DM) zuzüglich dem darin ihrer Ansicht nach nicht enthaltenen Pflegeaufwand für das Kind in Höhe von 400,- DM abzüglich Kindergeld in Höhe von 300,-DM. Ausgehend von der Entscheidung des BGH vom 18.3.1980 (a.a.O.; ebenso BGH NJW 1997, 1638, 1640 [BGH 04.03.1997 - VI ZR 354/95] m.w.N.), der der Senat folgt, ist jedoch bei einem gesunden Kind regelmäßig zuzüglich zu dem doppelten Regelunterhaltssatz kein Pflegeaufwand zu er- setzen. Dieser ist vielmehr regelmäßig bereits in dem doppelten Regelunterhaltssatz enthalten. Der Höhe nach ist der mit der Klage geltend gemachte hälftige Unterhaltsschaden daher auch ausgehend von dem Vorbringen der Klägerin auf 199,- DM monatlich begrenzt (2 x 349,- DM abzüglich 300,- DM Kindergeld). Darüber hinaus bestünde ein Anspruch auf Erstattung des Unterhalts zunächst nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Etwaige danach entstehende Unterhaltsbelastungen wären von dem ebenfalls beantragten Feststellungsausspruch umfasst (BGH, a.a.O.). Bedenken gegen die Erstattungsfähigkeit des Unterhaltsbedarfs überhaupt hat der Senat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH (vgl. BGHNJW 1997, 1638, 1640 [BGH 04.03.1997 - VI ZR 354/95] m.w.N.) nicht.
2.
Das Landgericht hat eine Haftung des Beklagten bereits dem Grunde nach mit der Begründung abgelehnt, auf Grund des Gutachtens des Sachverständigen Dr. Dr.... bestünden keine Zweifel daran, dass die von dem Beklagten gewählte Sterilisationsmethode medizinisch geboten und ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Insbesondere sei es entgegen dem Inhalt des Operationsberichtes nicht vorstellbar, dass der Beklagte unmittelbar nacheinander an demselben Eileiter noch ein weiteres Tubenteilstück entnommen habe. Es könne zwar nicht festgestellt werden, dass der Beklagte jeweils beide Tubenenden mit Seidenligatur versehen habe; dies sei aber im Regelfall nicht zu beanstanden. Dass nach der vierten Geburt an der rechten Tube überhaupt keine Seidenligatur gefunden worden sei, könne damit erklärt werden, dass die Durchtrennung des Eileiters bei dieser zweiten Operation an einer anderen Stelle erfolgt sei. Zwar betrage das Versagerrisiko bei einer Sterilisation entgegen dem Inhalt des Merkblatts, das die Klägerin unterschrieben habe, nicht 1 bis 2 von 1.000 Fällen, sondern 0,3 bis 1 %. Die Klägerin habe aber nicht im Einzelnen und glaubhaft nachvollziehbar dargetan, dass sie bei richtiger Einschätzung des Versagerrisikos zusätzliche Verhütungsmaßnahmen ergriffen hätte.
Diese Feststellungen des Landgerichts finden in dem bisherigen Verfahren keine hinreichende Grundlage, sondern beruhen auf wesentlichen Verfahrensfehlern i.S.v. § 539 ZPO. Zu beanstanden ist insbesondere, dass das Landgericht entschieden hat, ohne sich über die von dem Sachverständigen herangezogenen und ausgewerteten Krankenunterlagen zu unterrichten und den Parteien dazu ebenfalls Gelegenheit zu geben. Denn die gemäß § 286 ZPO bestehende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung ist verletzt, wenn das Gericht die Grundlagen einer sachverständigen Begutachtung nicht selbst zur Kenntnis nimmt, sondern die Feststellungen des Sachverständigen ungeprüft zur Entscheidungsgrundlage macht (Senat, Urteil vom 7.1.1997 - 5 U 138/96 -). Im vorliegenden Fall kommt noch hinzu, dass die von dem Sachverständigen herangezogene Krankenunterlagen ausgehend von dem erstinstanzlichen Sach- und Streitstand unvollständig waren. Denn dem Sachverständigen lag die Fotodokumentation nicht vor, die nach dem erstmals in der Berufungserwiderung mit Nichtwissen bestrittenen Vorbringen der Klägerin, das mit dem Operationsbericht (Bl 14 f d.A.) übereinstimmt, bei der zweiten Operation mit dem Ziel der Beweissicherung gefertigt worden ist. Es oblag daher dem Landgericht, die vollständigen Krankenunterlagen selbst anzufordern oder den Parteien die Vorlage unter Berücksichtigung der Beweislast und der Regelung in §§ 142 ff. ZPO aufzugeben. Darüber hinaus hätte das Landgericht - bereits ausgehend von den in Kopie zu den Akten gereichten Krankenunterlagen - die Vermutung des Sachverständigen Dr. Dr. ..., die Seidenligatur rechts könne bei der Operation am 2.3.1996 übersehen worden sein, weil der Eileiter an einer anderen Stelle durchtrennt worden ist, jedenfalls nicht ohne weitere Nachfrage zur Grundlage seiner Entscheidung machen dürfen. Denn in dem Operationsbericht vom 4.3.1996 (Bl 14 f.d.A.) wird festgehalten, dass die rechte Tube in ihrem gesamten Verlauf in Augenschein genommen worden ist. Unabhängig davon, dass die Beiziehung der Krankenunterlagen nach § 286 ZPO zur Aufklärung des Behandlungsgeschehens geboten war, bestand diese Verpflichtung hier auch deshalb, weil sich das von der Klägerin unterzeichnete ,Merkblatt zum Aufklärungsgespräch" nur auszugsweise in Kopie bei den Akten befindet (Bl 13, 13 R d.A.) und weil das von dem Beklagten vorgelegte Blankoformular (Bl 38 ff. d.A.) - soweit sich dieselben Seitenzahlen bei den Akten befinden - sowohl vom Inhalt als auch von der Gestaltung her hiervon abweicht. Für die - auf entsprechende Ausführungen des Sachverständigen gestützte - Feststellung des Landgerichts, in dem von der Klägerin unterzeichneten, Merkblatt zum Aufklärungsgespräch" werde das sog. Versagerrisiko zu niedrig angegeben, fehlt es daher an einer prozessordnungsgemäß gewonnenen Grundlage.
Danach bietet das bisherige Verfahren keine ordnungsgemäße Grundlage für eine Entscheidung. Eine abschließende Entscheidung durch den Senat ist nicht sachdienlich (§ 540 ZPO). Denn ausgehend von dem derzeitigen Sach- und Streitstand bedarf es noch umfangreicher Aufklärung, und es käme dem Verlust einer Instanz gleich, wenn diese Beweisaufnahme im zweiten Rechtszug durchgeführt würde. Nach Beiziehung der vollständigen Krankenakten müssen diese sachverständig beraten unter Berücksichtigung insbesondere der noch ausstehenden Aussage des Zeugen Dr. ... zu dem Befund bei der Operation am 2.3.1996 und der Aussagen der zum Operationsgeschehen am 6.5.1991 benannten Zeugen ausgewertet werden. Hierbei wird zu beachten sein, dass die Beweislast dafür, dass die Sterilisation durchgeführt worden ist, der Beklagte trägt (BGH NJW 1981, 2002, 2004) [BGH 10.03.1981 - VI ZR 202/79], während beweisbelastet bezüglich etwaiger Behandlungsfehler die Klägerin ist (BGH, a.a.O.; BGH NJW 1981, 630, 631) [BGH 02.12.1980 - VI ZR 175/78]. Auch die Frage, ob sich eine Haftung des Beklagten aus Mängeln der Aufklärung ergibt, bedarf über die bereits angesprochene Beiziehung der Krankenunterlagen hinaus weiterer Sachverhaltsaufklärung. Hierbei ist zu beachten, dass primär darlegungs- und beweisbelastet dafür, dass sie nicht bzw. nicht in der gebotenen Deutlichkeit in einem Gespräch über das sog. Versagerrisiko aufgeklärt worden ist, die Klägerin ist, dass die Anforderungen insoweit aber nicht überspannt werden dürfen (BGH NJW 1981, 2002, 2003 [BGH 10.03.1981 - VI ZR 202/79]; BGH NJW 1995, 2407, 2408) [BGH 27.06.1995 - VI ZR 32/94]. Insoweit könnte u.a. von Bedeutung sein, dass für die Klägerin inzwischen ein Betreuer bestellt worden ist (Bl 55 d.A.) und dass sich dem von der Klägerin unterzeichneten ,Merkblatt zum Aufklärungsgespräch" - soweit es bisher in Kopie vorliegt (Bl 13, 13 R d.A.) - mangels entsprechender Eintragungen nicht entnehmen lässt, dass die Klägerin in einem Gespräch über das sog. Versagerrisiko aufgeklärt worden ist. Falls Aufklärungsmängel vorliegen, wäre auch dem Vorbringen der insoweit beweisbelasteten Klägerin (BGH NJW 1981, 630, 632 [BGH 02.12.1980 - VI ZR 175/78]; BGH NJW 1981, 2002, 2004) [BGH 10.03.1981 - VI ZR 202/79] zur Anwendung von Verhütungsmitteln bei Kenntnis des Misserfolgsrisikos nachzugehen.