Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.12.2021, Az.: 1 ME 123/21
Baueinstellungsverfügung; Gefahrerforschung; Identität des Vorhabens; Stilllegung; verfahrensfreie Baumaßnahme
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.12.2021
- Aktenzeichen
- 1 ME 123/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 71080
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 27.07.2021 - AZ: 4 B 2056/21
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 1 BauO ND
- § 60 Abs 2 Nr 5 BauO D
- § 79 Abs 1 BauO ND
- Anhang Nr 12.1 BauO ND
- Anhang Nr 13.6 BauO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Verschiedene Verfahrensfreistellungstatbestände des Anhangs zu § 60 Abs. 1 NBauO können miteinander kombiniert werden, solange die in einem engen zeitlichen Zusammenhang durchgeführte Baumaßnahmen in der Gesamtschau nicht eine über die Einzelmaßnahmen hinausgehende Zweckbestimmung verfolgen. Die gleichzeitige Erneuerung des Daches und der Erdgeschossdecke eines eineinhalbgeschossigen Wohnhauses kann deshalb verfahrensfrei nach Nrn. 13.6, 12.1 des Anhangs zu § 60 Abs. 1 NBauO sein.
2. Nicht jede statisch relevante Maßnahme stellt die Identität eines Gebäudes in Frage.
3. Verfügt die Bauaufsichtsbehörde bei tatsächlichen Unklarheiten über die Genehmigungsbedürftigkeit einer Baumaßnahme zum Zweck der Gefahrerforschung eine Baueinstellung, erfordert dies eine sorgfältige Betätigung des Ermessens und eine strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer (Einzelrichter) - vom 27. Juli 2021 geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 11. Mai 2021 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird unter Änderung der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Streitwertfestsetzung für beide Rechtszüge auf je 6.660,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen eine Baueinstellungsverfügung; die Beteiligten streiten darüber, ob die untersagte Maßnahme einer Baugenehmigung bedurft hätte.
Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines anderthalbgeschossigen, zuletzt in den 1970er Jahren mit einem Walmdach mit zwei großen Gauben baugenehmigten Gebäudes mit zwei Dauer- und zwei Ferienwohnungen. Auf Hinweis eines Dritten stellte der Antragsgegner fest, dass die Dachkonstruktion des Gebäudes sowie die Erdgeschossdecke entfernt worden waren. Nach Angaben der Antragstellerin war zunächst nur die Erneuerung des Dachstuhls sowie der Dacheindeckung ohne Veränderung von deren äußerer Gestalt geplant gewesen. Im Zuge der Arbeiten sei festgestellt worden, dass auch die Erdgeschossdecke dringend erneuerungsbedürftig gewesen sei. Nachdem er von den Bauarbeiten Kenntnis erlangt hatte, erließ der Antragsgegner unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die streitgegenständliche Baueinstellungsverfügung, die er auf die formelle Baurechtswidrigkeit der Maßnahmen stützte. Nach erfolglosem Widerspruch hat die Antragstellerin Klage gegen die Verfügung erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
Ihren Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, der angefochtene Bescheid sei voraussichtlich rechtmäßig. Die Baumaßnahmen widersprächen öffentlichem Baurecht, da sie ohne Baugenehmigung durchgeführt worden seien. Eine solche sei aber erforderlich. Die Maßnahmen seien nicht nach § 60 Abs. 1 NBauO i.V.m. - hinsichtlich der Erdgeschossdecke - Nr. 12.1 und - hinsichtlich der Dachkonstruktion - Nr. 13.6 des Anhangs zu dieser Vorschrift verfahrensfrei. Geboten sei nach der Rechtsprechung des Senats eine Gesamtbetrachtung aller Einzelmaßnahmen. Bei dieser sei die Baumaßnahme im Hinblick auf ihre Ausmaße einem formellen Genehmigungsverfahren zu unterwerfen. Es spreche im Übrigen Überwiegendes dafür, dass die Nrn. 12.1 und 13.6 des Anhangs wenigstens für sich betrachtet nach ihrem Wortlaut her einschlägig seien. Mit Blick auf das fehlende Dach liege allerdings kein „fertiggestelltes“ Gebäude i.S.d. Nr. 12.1, mit Blick auf die fehlende Erdgeschossdecke kein „vorhandenes“ Gebäude i.S.d. Nr. 13.6 vor. Beide Tatbestände bezögen sich auf einzelne Sanierungsmaßnahmen in einem ansonsten intakten Gebäude, nicht aber auf die Wiederherstellung eines - wie hier - nahezu vollständig abgängigen Gebäudes. Die Maßnahmen seien auch nicht als Instandhaltungsmaßnahmen i.S.d. § 60 Abs. 2 Nr. 5 NBauO verfahrensfrei. Schon begrifflich könne nicht mehr von Instandhaltung, sondern müsse von Instandsetzung gesprochen werden, wenn es nicht um die Erhaltung des bisherigen Zustandes (durch Wartung, Pflege etc.), sondern um die Wiederherstellung des ordnungsgemäßen Zustandes (durch Reparaturen von Defekten) ginge. Selbst wenn man die Norm weiter fassen und auch kleinere Instandsetzungsarbeiten vom Genehmigungsverfahren freistellen wolle, werde die Grenze der Verfahrensfreiheit überschritten, wenn eine funktionsfähige Anlage nicht mehr vorhanden sei. Das sei hier der Fall; das Gebäude wirke - gerade auch im Hinblick auf die frühere Geschossigkeit und die Gauben - allenfalls halb fertiggestellt. Auch seien die Baumaßnahmen - worauf teilweise abgestellt werde - so intensiv, dass sie die Standfestigkeit der Anlage berührten und eine statische Nachberechnung erforderten. Das ergebe sich aus den Angaben der beauftragten Dachdeckerei. Die Unterlagen legten auch nahe, dass vor der Maßnahme eine ausreichende Statik gar nicht gegeben gewesen sei. Auch die Baukosten i.H.v. mehr als 144.000 EUR allein für die Dachkonstruktion zeigten die Gewichtigkeit der Maßnahme.
II.
Die dagegen gerichtete Beschwerde, auf deren fristgemäß vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, hat Erfolg.
Bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sachlage geht der Senat davon aus, dass die angegriffene Baueinstellungsverfügung rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners und des Verwaltungsgerichts bestehen voraussichtlich keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die von der Antragstellerin beabsichtigten Maßnahmen genehmigungsbedürftig sind.
Dass sowohl die Erneuerung der Erdgeschossdecke (und etwaiger Zwischenwände im Dachgeschoss), als auch der Austausch des Dachstuhls, würden sie jeweils einzeln durchgeführt, den Verfahrensfreistellungstatbeständen der Nrn. 12.1 bzw. 13.6 des Anhangs zu § 60 Abs. 1 NBauO unterfielen, ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Aber auch die gebotene Gesamtbetrachtung der Maßnahmen führt zu keinem anderen Ergebnis. Im Ausgangspunkt ist die Entscheidung des niedersächsischen Gesetzgebers zu respektieren, dass verschiedene Verfahrensfreistellungstatbestände des Anhangs zu § 60 Abs. 1 NBauO miteinander kombiniert werden können (dazu Burzynska/Tepperwien, in: Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 60 Rn. 4). Abweichendes kann zwar dann gelten, wenn mehrere in einem engen zeitlichen Zusammenhang durchgeführte Maßnahmen in der Gesamtschau eine über die Einzelmaßnahmen hinausgehende Zweckbestimmung verfolgen; in diesen Fällen geht es nicht an, ein einheitliches Baugeschehen zu „atomisieren“. Der Senat hat dies etwa dann angenommen, wenn mehrere nach Nr. 5.1 des Anhangs genehmigungsfreie Behälter in der Summe die dort benannte Maximalgröße überschreiten (Beschl. v. 7.10.2010 - 1 LA 137/09 -, n.v.), eine für sich genommen möglicherweise nach Nr. 7.1 des Anhangs genehmigungsfreie Abgrabung der Herstellung einer ebenen Stellfläche dient (Beschl. v. 6.12.2010 - 1 ME 170/10 -, n.v.) oder Abbrucharbeiten an Gebäudeteilen (§ 60 Abs. 2 Nr. 4 NBauO) die Erweiterung des Gebäudes vorbereiten (Beschl. v. 19.5.2009 - 1 ME 70/09 -, n.v.).
Eine vergleichbare Fallkonstellation liegt hier aber nicht vor. Der Austausch des Daches einschließlich der Dachkonstruktion und der Austausch der Erdgeschossdecke eines anderthalbgeschossigen Gebäudes lassen sich auch in der Summe noch nicht als eine Baumaßnahme mit einer über die Summe der Einzelmaßnahmen hinausgehenden Zweckbestimmung fassen. Die Maßnahmen stellen sich insbesondere - anders als im von den Beteiligten diskutierten Fall, der dem Senatsbeschluss vom 29. Juni 2011 - 1 ME 77/11 -, n.v. - zugrunde lag, bei summarischer Prüfung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit noch nicht als Wiederaufbau eines insgesamt abgängigen Gebäudes dar, wenngleich dem Verwaltungsgericht und dem Antragsgegner zuzugeben ist, dass sie dieser nahekommen. Mit den Außen- und tragenden Innenwänden des Gebäudes einschließlich der Bodenplatte, der Innentreppe, der Türen und Fenster und vermutlich - Anhaltspunkte für das Gegenteil sind jedenfalls nicht vorgetragen - auch den wesentlichen Versorgungsleitungen im Erdgeschossbereich ist noch ein hinreichender Anteil der Bausubstanz vorhanden, um die Identität des genehmigten mit dem nach Abschluss der Maßnahmen vorhandenen Gebäude zu wahren. Dies gilt auch in Anbetracht der im Zusammenhang mit der Frage der Einstufung der Maßnahmen als Instandhaltung geäußerten Bedenken des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen könnten ein derartiges Gewicht haben, dass eine statische Neuberechnung des Gebäudes erforderlich würde. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass nicht jede statisch relevante Maßnahme die Identität eines Bauwerks insgesamt in Frage stellt; anderenfalls würden mehrere der in Nrn. 12 und 13 des Anhangs genannten Tatbestände, die gerade auch den Austausch und sogar die Veränderung tragender und aussteifender Bauteile in bestehenden/vorhandenen, d.h. in ihrer Identität unveränderten Gebäuden beinhalten, leerlaufen. Jedenfalls dann, wenn Änderungen der Statik - wie offenbar hier - nicht auf wesentliche Änderungen in der äußeren und inneren Gebäudegestalt, sondern nur auf die Ersetzung älterer, unzweckmäßiger durch neue Baumaterialien und Konstruktionstechniken zurückzuführen sind und wenn - anders als im dem Verfahren 1 ME 77/11 zugrunde liegenden Fall - die Standfestigkeit der an Ort und Stelle belassenen Bausubstanz insgesamt nicht in Frage steht, wird eine statische Relevanz der Baumaßnahmen allein die Identität des Vorhabens nicht in Frage stellen. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als statische Fragen nicht nach § 65 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 NBauO zum Prüfprogramm in einem etwaigen Baugenehmigungsverfahren gehören würden; denn mit einer Höhe der Fußbodenoberkante des höchstgelegenen Aufenthaltsraumes von deutlich unter 7 m gehört dieses nicht zur Gebäudeklasse 4 i.S.d. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, Sätze 3, 4 NBauO.
Die Verfahrensfreiheit der Maßnahmen bei gleichzeitiger Durchführung entfällt angesichts dessen auch nicht deshalb, weil bei fehlendem Dach nicht mehr von einem „fertiggestellten“ Wohngebäude i.S.d. Nr. 12.1, bei fehlender Zwischendecke nicht von einem „vorhandenen“ Wohngebäude i.S.d. Nr. 13.6 des Anhangs gesprochen werden könnte. Die Erfordernisse eines „fertiggestellten“ bzw. „vorhandenen“ Gebäudes sollen klarstellen, dass die genannten Maßnahmen nur als nachträgliche Arbeiten, nicht aber bereits in der Phase der Errichtung eines Gebäudes verfahrensfrei sind. Fertiggestellt bzw. vorhanden im Sinne der Freistellungstatbestände ist damit auch ein Gebäude, an dem parallel zur jeweils betrachteten Maßnahme noch weitere Erneuerungsarbeiten durchgeführt werden, solange diese insgesamt nicht das Gewicht der Wiedererrichtung eines abgängigen Gebäudes erreichen.
Auf die - voraussichtlich zu verneinende - Frage, ob die Baumaßnahmen als Instandhaltungsmaßnahmen nach § 60 Abs. 2 Nr. 5 NBauO verfahrensfrei sein könnten, kommt es angesichts dessen nicht mehr an.
Die Baueinstellungsverfügung erweist sich auch nicht mit Blick auf die vom Verwaltungsgericht angedeutete Möglichkeit als rechtmäßig, bereits bei Unklarheiten über die Genehmigungsbedürftigkeit einer Maßnahme rechtmäßig eine Baueinstellung zu verfügen. Diese Möglichkeit mag zwar bestehen (vgl. z.B. OVG LSA, Beschl. v. 31.1.2012 - 2 M 194/11 -, BauR 2012, 929 = juris Rn. 6 m.w.N.). Sie setzt allerdings voraus, dass die Bauaufsichtsbehörde ihre Verfügung auf Unklarheiten im Tatsächlichen darüber stützt, wie weitgehend die beabsichtigten Baumaßnahmen reichen und ob diese bereits die Schwelle zur Genehmigungsbedürftigkeit überschreiten; in einem solchen Fall mag der präventive Charakter des Baupolizeirechts es im Einzelfall - unter sorgfältiger Betätigung des Ermessens und strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes - rechtfertigen, gleichsam als Gefahrerforschungsmaßnahme eine Baueinstellung mit dem Ziel zu verfügen, der Bauaufsichtsbehörde Zeit zu verschaffen, ggf. unter Heranziehung des Bauherrn die notwendigen Aufklärungsschritte vorzunehmen, um ein etwaiges Genehmigungserfordernis und damit eine formelle Baurechtswidrigkeit festzustellen bzw. auszuschließen. Solche tatsächlichen Unklarheiten - etwa Zweifel daran, dass das geplante dem beseitigten Dach in den Abmessungen entsprechen wird oder dass die Bausubstanz nicht noch weitergehend als aus den Lichtbildern ersichtlich umgestaltet werden soll - sind hier aber nicht dargelegt und insbesondere nicht in der Begründung der angefochtenen Bescheide als ermessensleitend angegeben. Der Umstand allein, dass sich eine bestimmte Maßnahme rechtlich im Grenzbereich zwischen verfahrensfreien Arbeiten im Bestand und einer genehmigungsbedürftigen Wiedererrichtung bewegt, genügt für den Erlass einer Baueinstellungsverfügung nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 11 c) der Streitwertannahmen des Senats für Verfahren bis zum 31. Mai 2021 für den ersten bzw. Nr.10 b) der Streitwertannahmen für Verfahren ab dem 1. Juni 2021 für den zweiten Rechtszug. Maßgeblich ist in beiden Fällen die Hälfte des Jahresnutzwertes. Diesen beziffert der Senat abweichend vom Verwaltungsgericht anhand des Wohnraummietvertrags vom 25. Juli/20. August 2014 in Beiakte 002 zur Gerichtsakte 4 A 2045/21, der für eine der vier Wohnungen eine Nettokaltmiete von 370 EUR ausweist, auf 4.440 EUR je zu Wohnzwecken genehmigte Wohneinheit und unter Berücksichtigung eines 100-prozentigen Zuschlags auf 8.880 EUR je als Ferienwohnung genehmigte Wohneinheit. Der Gesamtwert von 26.640 EUR ist für die Stilllegungsverfügung und nochmals mit Blick auf den vorläufigen Charakter des begehrten Rechtsschutzes je zu halbieren, insgesamt also zu vierteln.