Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.12.2021, Az.: 1 ME 137/21

Abrundungssatzung; Einbeziehungssatzung; Erdrückende Wirkung; Innenbereichssatzung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.12.2021
Aktenzeichen
1 ME 137/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71095
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 03.09.2021 - AZ: 4 B 2777/21

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die mit einer Abrundungssatzung vorgenommene Grenzziehung zwischen Innen- und Außenbereich ist nicht nachbarschützend.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer (Einzelrichter) - vom 3. September 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für eine Wohnhauserweiterung südlich ihres Grundstücks. Sie sehen eine ihrer Meinung nach nachbarschützende rückwärtige Baugrenze verletzt und fürchten eine erdrückende Wirkung des Vorhabens.

Die Antragsteller sind Eigentümer eines mit einem selbstgenutzten Wohnhaus bebauten Grundstücks auf der Westseite der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden J. in A-Stadt. Diese Straßenseite ist in der näheren Umgebung weitgehend einreihig, überwiegend mit leicht zurückgesetzten Garagengebäuden, bebaut. Das im Eigentum der Beigeladenen stehende südliche Nachbargrundstück ist ebenfalls in erster Reihe bebaut. Für das Gebiet existiert eine Innenbereichssatzung, die in § 1 i.V.m. einem Lageplan die Grenze des im Zusammenhang bebauten Ortsteils in einer Tiefe von 40 m beidseits der Straße festsetzt.

Unter dem 26. März 2021 erteilte die Antragsgegnerin den Beigeladenen die Baugenehmigung zur Errichtung eines eingeschossigen Anbaus mit Walmdach (Dachneigung 30°) im Rücken ihres Bestandsgebäudes. Das Gebäude reicht, von der Flurstücksgrenze an gerechnet, bis in eine Tiefe von 42,74 m und hält zur nördlichen Grundstücksgrenze einen Abstand von etwa 4 m.

Gegen die Baugenehmigung erhoben die Antragsteller fristgerecht Widerspruch und nach dessen Zurückweisung Klage.

Ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs hat das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, die Baugenehmigung verletze voraussichtlich keine Nachbarrechte der Antragsteller. Für einen durch die Innenbereichssatzung vermittelten Drittschutz bestünden keine Anhaltspunkte; eher deute § 2 der Satzung darauf hin, dass sie ausschließlich öffentlichen Interessen des Landschaftsschutzes diene. Auch eine nach § 34 Abs. 1 BauGB zu berücksichtigende faktische rückwärtige Baugrenze sei nicht drittschützend. Das im Rahmen der Befreiungsentscheidung zu berücksichtigende Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Dies werde bereits dadurch indiziert, dass das Vorhaben die Grenzabstände einhalte. Eine erdrückende Wirkung entfalte es nicht.

II.

Die dagegen gerichtete Beschwerde, auf deren fristgerecht vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, hat keinen Erfolg. Dabei kann dahinstehen, ob nach Fertigstellung des Vorhabens überhaupt noch ein (Eil-) Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller besteht; die geltend gemachten Beschwerdegründe greifen jedenfalls in der Sache nicht durch.

1.

Ohne Erfolg wenden sich die Antragsteller unter Berufung auf die sog. Wannsee-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 9.8.2018 - 4 C 7.17 -, BVerwGE 162, 363 = juris Rn. 14 ff.) gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, eine etwaige in der Innenbereichssatzung vom 16. Dezember 1997, bei der es sich um eine Abrundungssatzung nach § 34 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 BauGB in der bis 31. Dezember 1997 geltenden Fassung handeln dürfte, festgesetzte rückwärtige Baugrenze sei nicht drittschützend. Diese Rüge kann Erfolgsaussichten der Klage schon deshalb nicht begründen, weil eine rückwärtige Baugrenze in der Satzung nicht - wie es nach § 34 Abs. 4 Satz 3 BauGB a.F. möglich gewesen wäre - festgesetzt wurde. Die Satzung enthält drei Paragraphen. § 1 in Verbindung mit dem der Satzung beigefügten Lageplan legt lediglich die Grenze zwischen Innen- und Außenbereich, nicht aber eine Baugrenze fest. § 2 der Satzung enthält ein Pflanzgebot. § 3 regelt das Inkrafttreten. Weitere Festsetzungen sind weder dem Text der Satzung noch der Karte zu entnehmen. Die Einbeziehungsgrenze in einer Abrundungssatzung begründet für sich genommen, anders als eine Baugrenze, kein (ggf. drittschützendes) Bauverbot jenseits ihrer Grenzlinie, sondern lediglich einen Regimewechsel von § 34 zu § 35 BauGB. Ob die Bebauung jenseits der Umgrenzung des Innenbereichs Nachbarrechte verletzt, richtet sich nicht nach der Innenbereichssatzung, sondern nach § 35 BauGB.

Selbst wenn man die Abrundungssatzung im Übrigen entgegen dem Vorstehenden so verstünde, dass die Innenbereichsgrenze gleichzeitig die Festsetzung einer Baugrenze enthielte, wäre dem Verwaltungsgericht darin zuzustimmen, dass diese nicht als drittschützend angesehen werden könnte. Auch nach dem Wannsee-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sind Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung - das ist auf Baugrenzen übertragbar - nicht schlechthin nachbarschützend, sondern nur dann, wenn sie nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Willen des Plangebers Ausdruck eines nachbarlichen Austauschverhältnisses zwischen den der Festsetzung Unterworfenen sind. Hierfür müssen konkrete Indizien dafür benannt werden, dass der Rat der Antragsgegnerin die Unterwerfung benachbarter Grundstücke unter dieselben Festsetzungen gerade im Interesse wechselseitiger Verträglichkeit, zur Herstellung bzw. zum Erhalt eines den Betroffenen zugutekommenden „Gebietscharakters“ und nicht aus allgemein städtebaulichen Erwägungen, die bei benachbarten Grundstücken auch sonst nicht selten gleichförmige Festsetzungen erfordern können, heraus vorgenommen hat (vgl. Senatsbeschl. v. 20.11.2019 - 1 ME 117/19 -, juris Rn. 14). Solche Indizien benennen die Antragsteller nicht; sie berufen sich lediglich auf angebliche allgemeine Funktionen von Baugrenzen.

2.

Die Auffassung der Antragsteller, das Vorhaben verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme, da es ihrem Grundstück bzw. Wohnhaus gegenüber erdrückende Wirkung entfalte, ist angesichts des Umstandes, dass das Vorhaben lediglich eine Traufhöhe von rd. 3 m aufweist - die Firsthöhe spielt angesichts des flachgeneigten Walmdaches für die Wirkung des Gebäudes praktisch keine Rolle - und gleichzeitig selbst unter Einrechnung des Dachüberstandes einen Grenzabstand von rund 4 m und damit deutlich über 1 H wahrt, fernliegend. Bereits bei Errichtung eines Sichtschutzzauns in der baurechtlich zulässigen Höhe von 2 m oder Anpflanzung einer Grenzhecke in entsprechender Höhe dürfte das Vorhaben den Blicken der Antragsteller aus den Erdgeschossfenstern oder von der Terrasse aus weitgehend entzogen sein. Die auch durch die Nord-Süd-Ausdehnung des Vorhabens bestimmte Grundfläche ist für die Beurteilung einer erdrückenden Wirkung gegenüber den Antragstellern unerheblich, da ihrem Grundstück lediglich die Nordfassade zugekehrt ist. Die Bautiefe bzw. Westausdehnung des Vorhabens überschreitet zwar das Maß des im unmittelbaren Umfeld Vorhandenen, angesichts der geringen Gebäudehöhe sind nennenswerte Einschränkungen der Antragsteller damit jedoch nicht verbunden. Insbesondere eine Verschattung kommt nur bei sehr niedrigen Sonnenständen in Betracht und würde sich ähnlich darstellen, würden die Beigeladenen ihr Grundstück nach Norden hin zulässigerweise durch eine Hecke oder einen 2 m hohen Sichtschutzzaun einfrieden. Auch die mit der Verwendung glasierter Dachziegel verbundene Blendwirkung begründet in der Regel keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme (Senatsbeschl. v. 18.7.2014 - 1 LA 168/13 -, BauR 2014, 2069 = juris Rn. 11). Gründe dafür, weshalb hier ausnahmsweise Abweichendes gelten könnte, haben die Antragsteller nicht dargelegt. Inwieweit der Einbau eines nicht genehmigten Dachfensters einen Rechtsfehler der allein streitgegenständlichen Baugenehmigung begründen soll, ist nicht schlüssig; unabhängig davon ist nicht erkennbar, wie ein Dachflächenfenster bei einer Dachneigung von 30° nennenswerte Einsichtnahmemöglichkeiten in Fenster des Nachbarhauses oder auf dessen Terrasse eröffnen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, weil sie sich durch Antragstellung selbst einem Kostenrisiko ausgesetzt und im Übrigen das Verfahren durch ihren Vortrag wesentlich gefördert haben.