Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 22.01.2004, Az.: 3 A 356/03

Voraussetzungen eines Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen; Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erstattung von Unterkunftskosten; Erstattung von Unterkunftskosten bei einem Grundsicherungsleistungsberechtigten, der bei seinen Eltern wohnt

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
22.01.2004
Aktenzeichen
3 A 356/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 35790
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2004:0122.3A356.03.0A

Fundstelle

  • info also 2004, 274-275 (Volltext mit amtl. LS)

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 3. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2004
durch
die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Zschachlitz,
die Richterin am Verwaltungsgericht Drinhaus,
die Richterin am Verwaltungsgericht Struckmeier sowie
die ehrenamtlichen Richter Frau E. und Herr F.
für Recht erkannt:

Tenor:

Soweit das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist, wird es eingestellt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger und der Beklagte können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der jeweils andere Beteiligte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger begehrt die Gewährung von Grundsicherungsleistungen unter Berücksichtigung von Unterkunftskosten.

2

Der 1976 geborene Kläger ist mehrfach schwer behindert. Der Grad seiner Behinderung beträgt 100%; sein Behindertenausweis weist die Merkzeichen G, aG und H aus. Er kann weder sprechen noch schreiben und ist aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage, in einer Werkstatt für Behinderte zu arbeiten. Er erzielt mithin kein eigenes Einkommen. Er ist teilstationär in einer Fördergruppe untergebracht. Seine Eltern sind zu seinen Betreuern bestellt, deren Aufgabenkreis die Sorge für die Gesundheit des Klägers, die Aufenthaltsbestimmung, die Vermögenssorge und die Vertretung gegenüber Behörden und der Post umfasst.

3

Am 25. November 2002 beantragte der Kläger die Gewährung von Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz.

4

Auf Anforderung des Beklagten reichte der Kläger durch seine Eltern eine Vermieterbescheinigung über ein Zimmer in dem 129 qm großen Einfamilienhaus, das er gemeinsam mit seinen Eltern bewohnt, ein. Danach sollte er für das 43 qm große Zimmer 258,00 EUR Kaltmiete zuzüglich 43,54 EUR Nebenkosten zuzüglich 52,10 EUR Heizkosten zahlen.

5

Mit Bescheid vom 28. Februar 2003 lehnte der Beklagte die Gewährung von Grundsicherungsleistungen unter dem Hinweis auf ein Überschreiten der Vermögensfreibeträge ab.

6

Nach Widerspruch des Klägers regelte der Beklagte die Gewährung von Grundsicherungsleistungen mit Bescheid vom 10. April 2003 für die Zeit ab 1. Januar 2003 bis 30. Juni 2003 in Höhe von 170,75 EUR monatlich. Dabei wurden keine Unterkunftskosten berücksichtigt und das Kindergeld als Einkommen angerechnet.

7

Am 25. April 2003 erhob der Kläger gegen die Bescheid Widerspruch und führte zur Begründung aus, dass bei einer Haushaltsgemeinschaft die laufenden Unterkunftskosten anteilig zu berücksichtigen seien.

8

Am 22. Mai 2003 erklärte der Vater des Klägers, dass der Kläger bisher keinerlei Unterkunftskosten an seine Eltern gezahlt habe.

9

Im Laufe des Widerspruchsverfahrens wurde zur Begründung des Widerspruchs noch eine Kopie der Lebenshilfe-Zeitung vom Januar 2003 eingereicht, worin ausgeführt wird, dass es ungerecht sei, wenn Behinderte mit Renten- und Werkstatteinkommen bisher ausreichend Geld gehabt hätten, um sich an den Unterkunftskosten zu beteiligen und demzufolge bei nachgewiesener Mietbeteiligung Unterkunftskosten bekommen würden, während behinderte Haushaltsangehörige mit geringem oder gar keinem Einkommen nicht in der Lage seien, sich an den Unterkunftskosten zu beteiligen und insoweit auch keine Grundsicherungsleistungen erhalten würden.

10

Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2003 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das Niedersächsische Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales nicht der Auffassung sei, dass bei einer auf Dauer voll erwerbsgeminderten Person, die noch bei den Eltern wohne, die tatsächlichen Kosten der Unterkunft in gleiche Beträge geteilt werden müssten und dann der auf die erwerbsgeminderte Person entfallende Anteil als Bedarf für die Kosten der Unterkunft anzuerkennen sei. Nur dann, wenn ein Mietvertrag mit dem gleichzeitigen Nachweis einer Mietzahlung vorgelegt oder auf sonstige Weise dargelegt werde, dass der Unterkunftsbedarf geschuldet werde, sei der Unterkunftsbedarf auch tatsächlich zu berücksichtigen. Derartige Nachweise seien jedoch hier nicht erbracht worden.

11

Am 30. Juni 2003 hat der Kläger gegen den Bescheid vom 10. April 2003 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2003 Klage erhoben. Zur Begründung wird ausgeführt, dass es nicht nachvollziehbar sei, dass ein Mietvertrag abgeschlossen werden müsse, um eine "Pro-Kopf-Aufteilung" der Unterkunftskosten bei der Berechnung des Grundsicherungsanspruches vorzunehmen. Das Kindergeld sei nach einem Gutachten des Deutschen Vereins (NDV 02, 373 ff.) ausschließlich Einkommen der Kindergeldberechtigten und sei daher als Elterneinkommen ausschließlich dann relevant, wenn das Einkommen für beide Eltern zusammen 100.000,00 EUR überschreite. Zur weiteren Klagebegründung wurde auf eine Stellungnahme der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V. vom 13. August 2003 mit folgendem Inhalt verwiesen: Die Vermutung des § 16 BSHG gelte im Bereich des Grundsicherungsgesetzes nicht mehr, wenn die Eltern nicht mehr als 100.000,00 EUR jährlich verdienten. Durch die Regelung in § 91 Abs. 2 BSHG, eingeführt durch das Sozialgesetzbuch 9, wonach der Unterhaltsanspruch der Eltern bei vollstationär untergebrachten Kindern durch die Zahlung von 26,00 EUR abgegolten werde, sei eine Benachteiligung der Eltern entstanden, deren Kind in ihrem Haushalt lebte. Aus der nicht erfolgten Übernahme des § 16 BSHG in das Grundsicherungsgesetz sei zu schließen, dass der Unterkunftsbedarf des haushaltsangehörigen Kindes gerade nicht mehr von den Eltern gedeckt werden müsse. An dessen Stelle sei das Grundsicherungsgesetz getreten und dieses gebe einen Anspruch auf die tatsächlichen angemessenen Unterkunftskosten. In welcher Rechtsform der Unterkunftsbedarf ausgelöst werde, ob in der Form der Miete durch Begründung eines eigenen Haushalts des Kindes oder durch die Beibehaltung der Haushaltsgemeinschaft und die Entrichtung des auf das Kind entfallenden Unterkunftsbetrages, sei unerheblich. Es sei Ziel des Grundsicherungsgesetzes, den gesamten existenznotwendigen Bedarf abzudecken, unabhängig davon, ob der Grundsicherungsberechtigte vor Einführung der Grundsicherung Einkommen gehabt habe oder die Unterkunft im Rahmen der elterlichen Unterhaltspflicht von diesen sichergestellt worden sei.

12

Nachdem seitens des Beklagten in der mündlichen Verhandlung zugesagt worden ist, rückwirkend das Kindergeld nicht mehr als Einkommen bei der Berechnung der Grundsicherungsleistungen berücksichtigen zu wollen und auch bestandskräftige Bescheide insoweit abändern zu wollen, haben die Parteien das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt, soweit es um die zusätzliche Zahlung von Grundsicherungsleistungen in Höhe des Kindergeldbetrages in der Zeit vom 1. Januar 2003 bis 30. Juni 2003 geht.

13

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 10. April 2003 und seinen Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2003 in der geänderten Fassung aufzuheben und diesen zu verpflichten, die Grundsicherungsleistungen unter Berücksichtigung von Unterkunftskosten neu zu berechnen.

14

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

15

Zur Begründung verweist er auf seinen Widerspruchsbescheid.

16

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Beratung.

17

II.

Soweit die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist es in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und nach §§ 161 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGOüber die Verfahrenskosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden.

18

Im Übrigen ist die Klage unbegründet und demzufolge abzuweisen.

19

Dem Kläger steht kein Anspruch auf Bewilligung weiterer monatlicher Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz in dem in diesem Verfahren entscheidungserheblichen Zeitraum zu.

20

Hinsichtlich der Nichtberücksichtigung von Unterkunftskosten gilt Folgendes:

21

Ein Anspruch des Klägers ergibt sich nicht aus § 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG, BGBl. 2001, Teil 1, S. 1335 ff.). Danach können Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert sind im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB V und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann, zur Sicherung des Lebensunterhaltes auf Antrag Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz erhalten. Anspruch auf Leistungen der beitragsunabhängigen bedarfsorientierten Grundsicherung haben Antragsberechtigte, soweit sie ihren Lebensunterhalt nicht aus ihrem Einkommen und Vermögen beschaffen können.

22

Im Fall des Klägers ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Voraussetzungen für eine Antragsberechtigung im Sinne des § 1 GSiG vorliegen. Der Kläger ist 26 Jahre alt und dauernd voll erwerbsgemindert. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen gemäß § 2 Abs. 1 GSiG liegen nach den von dem Kläger vorgelegten und von dem Beklagten seiner Hilfeberechnung zutreffend zu Grunde gelegten Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Klägers ebenfalls unstreitig vor.

23

Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 GSiG umfasst die bedarfsorientierte Grundsicherung die angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung. Der Kläger hat jedoch in dem hier entscheidungserheblichen Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2003 keine tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung gehabt. Nach der schriftlichen Erklärung des Vaters des Klägers vom 22. Mai 2003 hat der Kläger bisher keine Unterkunftskosten an seine Eltern gezahlt.

24

Zwar ist in dem Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen vom 8. November 2002 angegeben worden, dass der Kläger Unterkunftskosten in Höhe von 359,63 EUR hat (285,00 EUR Kaltmiete und 46,20 EUR Nebenkosten und 55,43 EUR Heizungskosten). Auch ist dem Beklagten eine Vermieterbescheinigung vorgelegt worden, wonach der Kläger monatlich 353,64 EUR an Unterkunftskosten an seine Eltern zu zahlen hat. Ein Mietvertrag wurde jedoch nicht vorgelegt. Mithin ist weder dargelegt worden, dass der Kläger tatsächlich Unterkunftskosten hat noch dass er rechtlich verpflichtet ist, diese zu zahlen.

25

Vielmehr haben die Eltern dem Kläger die Unterkunft als tatsächlichen Unterhalt gewährt. Nach § 3 Abs. 2 GSiG gelten für den Einsatz von Einkommen die §§ 76 ff. BSHG und die dazu erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend. Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 BSHG gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert. Nach § 2 Abs. 1 der Durchführungsverordnung zu § 76 BSHG sind für die Bewertung von Einnahmen, die nicht in Geld bestehen (Kost, Wohnung und sonstige Sachbezüge), die aufgrund des § 160 Abs. 2 RVO für die Sozialversicherung zuletzt festgesetzten Werte der Sachbezüge maßgebend. Mithin ist die Gewährung von Wohnung als zu berücksichtigende Einnahme bereits im BSHG und über § 3 Abs. 2 GSiG auch bei der Berechnung der Grundsicherungsleistungen vorgesehen.

26

Der Nichtberücksichtigung der Unterkunftskosten steht auch nicht die Regelung in § 2 Abs. 1 Satz 3 GSiG entgegen. Danach bleiben Unterhaltsansprüche der Antragsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern unberücksichtigt, sofern das jährliche Gesamteinkommen im Sinne des 4. Sozialgesetzbuches unter einem Betrag von 100.000,00 EUR liegt. Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 GSiG wird vermutet, dass das Einkommen der Unterhaltspflichtigen nach Abs. 1 Satz 3 die dort genannte Grenze nicht überschreitet. Nach dieser Regelung bleiben lediglich Unterhaltsansprüche unberücksichtigt. Tatsächlich gewährter Unterhalt wird jedoch berücksichtigt (so auch OVG Lüneburg, B. v. 15. Dezember 2003, 12 ME 518/03). Auch die Zielsetzung des Grundsicherungsgesetzes, nämlich u.a. dem Phänomen der verschämten Altersarmut zu begegnen, die bei alten Menschen durch die Furcht vor einem Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder mit verursacht wird, hindert nicht daran, tatsächlich bereits gewährten Unterhalt anzurechnen (OVG Lüneburg, a.a.O.).

27

Der Einwand, die Berücksichtigung von tatsächlich gewährten Unterhaltsleistungen der Eltern behinderter volljähriger Kinder ohne eigenes Einkommen stelle eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung gegenüber denjenigen dar, die in vollstationären Einrichtungen lebten, greift nicht durch. Wegen der uneingeschränkten Verweisung des § 3 Abs.2 GSiG auf die Anwendung des § 76 BSHG ist für eine Auslegung entgegen dem Wortlaut dieser Vorschrift kein Raum.

28

Daraus, dass im Grundsicherungsgesetz keine dem § 16 BSHG entsprechende Regelung enthalten ist, kann ebenfalls nicht hergeleitet werden, dass der Kläger die Unterkunft von seinen Eltern gestellt bekommen hat und es deswegen auf eine Vermutung überhaupt nicht ankommt. Tatsächliche Unterkunftskosten fallen bei ihm nicht an.

29

Nach alledem kommt die Gewährung höherer Grundsicherungsleistungen insoweit nicht in Betracht.

30

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO, da sich der Beklagte hinsichtlich der Nichtanrechnung des Kindergeldes freiwillig in die Rolle des Unterlegenen begeben hat, und § 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 VwGO i. V. m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.

31

Die Berufung ist gemäß §§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

Zschachlitz
Drinhaus
Struckmeier