Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 24.03.2021, Az.: 3 A 5416/19

alleinstehender Mann; alleinstehender, gesunder Mann; Bulgarien; Bulgarien mit Schutzstatus; extreme materielle Not; Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung; Zweitantrag; Zweitantrag Bulgarien

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
24.03.2021
Aktenzeichen
3 A 5416/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 71167
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Anerkannte schutzberechtigte Personen dürfen derzeit - auch mit Blick auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie - ganz grundsätzlich nicht nach Bulgarien zurückgeführt werden. Denn ihnen droht im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art.3 EMRK/Art. 4 GRC in Form von Obdachlosigkeit und Verelendung.
2. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist auch nicht in Bezug auf die Gruppe der alleinstehenden, gesunden, jungen Männer geboten.

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom C. 2019 aufgehoben, mit Ausnahme des Passus in Ziffer 3. Satz 4 seines Tenors: „Der Antragsteller darf nicht in den Irak abgeschoben werden.“.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn ich der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit welchem die Beklagte seinen Asylantrag unter Berufung auf eine bereits erfolgte Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus in Bulgarien als unzulässig ablehnte.

Hinsichtlich der Einzelheiten des zugrundeliegenden Sachverhalts wird auf die entsprechende (zutreffende) Darstellung im angefochtenen Bescheid der Beklagten vom C. 2019 – mit welchem diese unter Ziffer 1. den Antrag des Klägers als unzulässig ablehnte, unter Ziffer 2. feststellte, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorlägen, unter Ziffer 3. die Abschiebung nach Bulgarien androhte – wobei sie in dem dortigen Satz 4 feststellte, dass der Kläger nicht in den Irak abgeschoben werden dürfe – und unter Ziffer 4. das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete sowie schließlich unter Ziffer 5. die Vollziehung der Abschiebungsandrohung aussetzte – verwiesen und insoweit gemäß § 77 Abs. 2 AsylG von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes abgesehen.

Der Kläger hat am D. 2019 gegen diesen Bescheid Klage erhoben. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, ihm drohe in Bulgarien eine menschenunwürdige Behandlung.

De Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom C. 2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf ihre Ausführungen im angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die der Berichterstatter als Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist auch begründet.

I. Die in Ziffer 1. des Tenors des Bescheides vom C. 2019 getroffene Unzulässigkeitsentscheidung ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weshalb sie aufzuheben ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für die Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrages ist § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Internationaler Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bezieht sich auf einen solchen nach der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt der Europäischen Union vom 20. Dezember 2011, L 337/9).

Die Regelung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG setzt Artikel 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Amtsblatt der Europäischen Union vom 29. Juni 2013, L 180/60) um. Danach können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz u.a. nur dann als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat.

Nach dem Urteil Europäischen Gerichtshofes vom 19. März 2019 (Rs. „Ibrahim“ C–297/17, C–318/17, C–319/17 und C–438/17, juris Rn. 101) ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU dahingehend auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als international Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Der Umstand, dass Personen, denen ein internationaler Schutz zuerkannt wird, in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch insofern anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.

In dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19. März 2019 (Rs. „Jawo“ C–163/17, juris Rn. 98) hat dieser in Bezug auf eine Überstellung nach der Dublin III-Verordnung Art. 4 GRC dahingehend ausgelegt, dass er einer (…) Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht entgegensteht, es sei denn, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht stellt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte fest, dass das ernsthafte Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.

Mit Beschluss vom 13. November 2019 (Rs. „Hamed und Omar“ C–540/17 und C–541/17, juris Rn. 39 u. 43) hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU dahingehend auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der die durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits der internationale Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannt Schutzberechtigter erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Schwachstellen im Asylsystem und bei den Aufnahmebedingungen des Mitgliedstaats, der dem Antragsteller internationalen Schutz gewährt hat, fielen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichten.

Das Bundesverwaltungsgericht hat unter Berücksichtigung der unionsrechtskonformen Einschränkung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hierzu ausgeführt (Urteil vom 21. April 2020 – BVerwG 1 C 4.19 –, juris Rn. 36-38):

„Liegen demnach die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach dieser Regelung nach der Rechtsprechung des EuGH aus Gründen vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller bzw. Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist (vgl. nunmehr ausdrücklich EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - Rn. 35; s.a. Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 88). Es ist damit geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen.

Auf die Vorlage des Senats hat der EuGH außerdem im Urteil "Ibrahim" - in Anlehnung an das Urteil "Jawo" vom gleichen Tag - den Maßstab für eine Verletzung von Art. 4 GRC durch die Lebensbedingungen im Staat der Schutzgewährung näher konkretisiert. Danach fallen systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zu-stand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 89 – 91 sowie - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 91 - 93; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - Rn. 39).

Der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie gerecht werden, vermag angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens die Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis nicht einzuschränken, solange die zuvor beschriebene Erheblichkeitsschwelle des Art. 4 GRC nicht überschritten ist (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 92). Auch der Umstand, dass subsidiär Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitglied-staaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen er-halten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, steht nicht schon für sich genommen der Ablehnung eines (neuerlichen) Antrags auf internationalen Schutz als unzulässig entgegen (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 93 f.). Systemische Mängel des Asylverfahrens selbst mögen zwar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat rechtfertigen, der subsidiären Schutz gewährt hat, schränken aber ebenfalls die Befugnis der übrigen Mitgliedstaaten nicht ein, einen neuen Antrag als unzulässig abzulehnen (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 95 - 100).“

Der mit Art. 3 EMRK im Wesentlichen übereinstimmende Art. 4 GRC verbietet ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und hat mit seiner fundamentalen Bedeutung allgemeinen und absoluten Charakter (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Rs. „Jawo“, C–163/17, juris Rn. 78).

In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist ebenso geklärt, dass die einem Ausländer im „Zielstaat“ drohenden Gefahren ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen müssen, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC und ein daraus folgendes Abschiebungsverbot begründen zu können (vgl. EGMR <GK> Urteil vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien – Rn. 174, zitiert nach VG Braunschweig, Urteil vom 21. April 2020, – 3 A 112/19 –, Entscheidungsabdruck Seite 4/5, https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/Dublin/2020_04_21_VG_BS_Drittstaaten_klein.pdf). Die Bestimmung des Mindestmaßes an Schwere hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand (vgl. EGMR <GK>, Urteile vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland – Rn. 219 und vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10, a.a.O.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 23 und 25). Zwar enthält Art. 3 EMRK keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit Wohnraum zu versorgen und finanzielle Unterstützung zu gewährleisten. Für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden besteht aber nach der Rechtsprechung des EGMR eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten, da sie sich in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Amtsblatt der Europäischen Union vom 29. Juni 2013, L 180/96) zur Gewährleistung bestimmter Mindeststandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat können bei dieser Gruppe eine Verletzung von Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC begründen, wenn die Betroffenen in einem für sie fremden Umfeld vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und einer staatlichen Untätigkeit und Gleichgültigkeit gegenüberstehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – BVerwG 1 B 25.18 –, juris Rn. 10).

Daher kommt es für die rechtliche Prüfung einerseits auf eine gewisse Schwere an (Situation extremer materieller Not), andererseits sind individuelle Besonderheiten und Risiken bei dem Asylsuchenden (unabhängig von seinem Willen) sowie die gesteigerte Schutzpflicht der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Zu diesen Schutzpflichten gehört, dass sich die im Zielstaat als international schutzberechtigt anerkannten Personen ihren existentiellen Lebensunterhalt sichern können. Dies setzt mindestens voraus, dass sie wenigstens in der ersten Zeit nach der Aufnahme Obdach finden können, ausreichende Ernährung erhalten und Zugang zu medizinischer und hygienischer Versorgung bekommen (vgl. VG Gießen, Urteil vom 7. August 2018 – 8 K 1974/16.GI.A –, juris Rn 21ff.).

Ein freier Zugang zum Arbeitsmarkt in dem Zielstaat spricht zwar grundsätzlich dafür, dass sich der anerkannt Schutzberechtigte eine Unterkunft und seinen existenzsichernden Lebensunterhalt durch Arbeit sichern kann. Dabei kommt es aber auch auf die Umstände des Einzelfalls, den Lebensstandard im Zielstaat und auf die Möglichkeit an, staatliche Sozialleistungen zu erhalten. Insoweit müssen die konkrete Arbeitsmarktsituation, fehlende Sprachkenntnisse und Berufsqualifikationen, etwaige Erkrankungen oder die Versorgung von Angehörigen, insbesondere von Kindern und Pflegebedürftigen, berücksichtigt werden.

Nach diesen Maßstäben ist die Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag des in Bulgarien als international schutzberechtigt anerkannten Klägers als unzulässig abzulehnen, rechtswidrig, weil er im Falle seiner Überstellung einer mit Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK nicht vereinbaren Gefahr extremer Not ausgesetzt wäre.

Das Verwaltungsgericht Bremen hat in seinem Urteil vom 28. August 2020 (– 2 K 119/18 –, juris Rn. 36 - 48) zur Situation anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien ausgeführt:

„a) Dabei ist in Bezug auf die Lebensbedingungen anerkannter Schutzberechtigter – insbesondere im Hinblick auf deren Unterbringung und Versorgung – in Bulgarien unter Zugrundelegung der vorliegenden Erkenntnismittel von Folgendem auszugehen:

Nach den dem Einzelrichter zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnismitteln stellt sich die Wohnungssuche in Bulgarien für anerkannte Schutzberechtigte als besonders schwierig dar. Ein wesentliches Problem ist offensichtlich das Erfordernis der Registrierung unter einer Meldeadresse, ohne die Ausweisdokumente nicht ausgestellt werden, die ihrerseits regelmäßig Voraussetzung zum Abschluss eines Mietvertrags sein sollen (aida, Country Report: Bulgaria, Stand: 2019, S. 77 und 83; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Bulgarien, 24. Juli 2020, S. 21). Dieser Teufelskreis ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die Angabe der Adresse des Unterbringungszentrums als Wohnsitz zur Erlangung von Ausweisdokumenten durch die bulgarische Staatliche Agentur für Flüchtlinge beim Ministerrat (State Agency for Refugees with the Council of Ministers, im Folgenden: SAR) untersagt wurde.

Die gesetzlich vorgesehene und auf sechs Monate befristete finanzielle Unterstützung für anderweitige Unterkunft wird anerkannten Schutzberechtigten in der Praxis nicht gewährt (aida, Country Report: Bulgaria, Stand: 2019, S. 83; Auskunft Auswärtiges Amt vom 18. Juli 2017, S. 8). Schutzberechtigte dürfen hingegen nach ihrer Anerkennung auf Antrag grundsätzlich bis zu sechs Monate in den Aufnahmezentren verbleiben, sofern Kapazitäten frei sind. Ende des Jahres 2019 lebten dort 461 anerkannte Schutzberechtigte (aida, Country Report: Bulgaria, Stand: 2019, S. 83). Daneben gibt es landesweit 12 „Zentren für temporäre Unterkunft“. Hier ist eine Unterbringung pro Kalenderjahr für jeweils drei Monate möglich (OVG Koblenz, Beschluss vom 17. März 2020 – 7 A 10903/18 –, juris Rn. 73 m.w.N.).

Wenn die Unterbringung in Aufnahmezentren nicht (mehr) möglich ist, sind anerkannte Schutzberechtigte darauf verwiesen, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Bulgarien, 24. Juli 2020, S. 21). Neben den dafür benötigten Ausweisdokumenten, die kaum zu erlangen sind, sowie den finanziellen Mitteln, welche die Schutzberechtigten selbst erwirtschaften müssen, bestehen bei der Wohnungssuche Probleme aufgrund der Sprachbarriere und der Unerfahrenheit der anerkannten Schutzberechtigten. Ferner werden Fremdenfeindlichkeit und Vorbehalte gegenüber Muslimen auf Seiten der Vermieter beschrieben (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18. Juli 2017, S. 9; OVG Berlin- Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2019 – OVG 3 B 8.17 –, juris Rn. 42 m.w.N.).

Außerhalb der Aufnahmezentren helfen Nichtregierungsorganisationen bei der Wohnungssuche (Auskunft Auswärtiges Amt, 25. März 2019, S. 2). Die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Stellen, gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweilenden Flüchtlingen und gegenwärtigen Überkapazitäten in den Aufnahmezentren sorgen im Ergebnis dafür, dass es in Bulgarien kaum obdachlose anerkannte Schutzbedürftige gibt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Bulgarien, 24. Juli 2020, S. 21).

Anspruch auf Sozialhilfe haben anerkannt Schutzberechtigte zwar unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige (aida, Country Report: Bulgaria, Stand: 2019, S. 83). In der Praxis beziehen jedoch nur sehr wenige anerkannte Schutzberechtigte Sozialhilfe (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2019 – OVG 3 B 8.17 –, juris Rn. 54 m.w.N.). Der Erhalt von Sozialhilfe ist aufgrund von Bürokratie und formalen Hürden (u.a. ist auch hier die Eintragung in das Melderegister Voraussetzung) schon für bulgarische Staatsangehörige sehr schwierig. Für anerkannte Schutzberechtigte ist der Erhalt nur möglich, wenn sie Hilfe von Nichtregierungsorganisationen erhalten, die aber nicht immer verfügbar ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Bulgarien, 24. Juli 2020, S. 20). Neuerdings wurde berichtet, der Zugang zu Sozialleistungen scheitere auch daran, dass Ausländer in Bulgarien – und insbesondere Asylantragssteller – auf Grund strikter rechtlicher Vorgaben in Bezug auf Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung keine Bankkonten eröffnen könnten, die wiederum Voraussetzung für den Bezug von Sozialhilfe seien (Europäische Kommission, „Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria“, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures- relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria). Im Ergebnis ist es daher fernliegend ist, dass anerkannte Schutzbedürftige in Bulgarien ihren Lebensunterhalt aus staatlichen Sozialleistungen decken können. In der Regel kann der Lebensunterhalt nur durch Erwerbstätigkeit gesichert werden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26. April 2018, S. 3).

Anerkannte Schutzberechtigte haben jedoch uneingeschränkten, automatischen und bedingungslosen Zugang zum bulgarischen Arbeitsmarkt (aida, Country Report: Bulgaria, Stand: 2019, S. 83; Auskunft Auswärtiges Amt vom 18. Juli 2017, S. 6 und vom 26. April 2018, S. 3). Das Fehlen einer Meldeanschrift stellt kein Hindernis bei der Arbeitsplatzsuche dar (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26. April 2018, S. 3). Gleichwohl gestaltet sich eine erfolgreiche Arbeitssuche als schwierig. Ein grundsätzliches Problem sind fehlende Sprachkenntnisse (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Bulgarien, 24. Juli 2020, S. 21). Zudem findet keine staatliche Unterstützung bei der Arbeitssuche statt (aida, Country Report: Bulgaria, Stand: 2019, S. 83). Arbeitsplatzangebote beziehen sich oftmals auf einfache Tätigkeiten in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, für die eine besondere Ausbildung oder Sprachkenntnisse nicht erforderlich sind (OVG Hamburg, Urteil vom 18. Dezember 2019 – 1 Bf 132/17.A – juris Rn. 73 m.w.N.; OVG Koblenz, Beschluss vom 17. März 2020 – 7 A 10903/18 –, juris Rn. 61; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2019 – OVG 3 B 8.17 –, juris Rn. 64 m.w.N.). Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 2017 haben bislang nur wenige anerkannte Schutzberechtigte eine Arbeit gefunden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18. Juli 2017, S. 6). Im Jahre 2019 waren nur acht anerkannte Schutzberechtigte offiziell als arbeitend gemeldet (aida, Country Report: Bulgaria, Stand: 2019, S. 83).

Bis kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie wurde in der obergerichtlichen Rechtsprechung vermehrt darauf hingewiesen, dass sich die wirtschaftliche Situation in Bulgarien auch zu Gunsten anerkannter Schutzbedürftiger zunehmend verbessert habe. Die Arbeitslosenquote sei gesunken, der Arbeitsmarkt entwickle sich dynamisch und die Nachfrage nach Arbeitskräften sei groß (OVG Koblenz, Beschluss vom 17. März 2020 – 7 A 10903/18 –, juris Rn. 62 ff.; VGH Mannheim, Beschluss vom 22. Oktober 2019 – A 4 S 2476/19 –, juris Rn. 16). Diese Einschätzung muss nach Ausbruch der Pandemie mit ihren gravierenden wirtschaftlichen Folgen auch für Bulgarien revidiert werden. In Folge der Maßnahmen zur Eindämmung des COVID-19-Virus wird mit einem Anstieg der Arbeitslosenrate von 4,2 % auf 7 % gerechnet (Europäische Kommission, European Economic Forecast, Spring 2020, Mai 2020, S. 120). Besonders betroffen ist der Dienstleistungssektor, in dem zugleich mehr als 60 % aller Beschäftigten arbeiten (Europäische Kommission, a.a.O.). Eine Vielzahl von Drittstaatsangehörigen in Bulgarien haben ihre Arbeit verloren (Europäische Kommission, „Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria“, https://ec.europa.eu/migrant- integration/news/impact-of-government-measures-relatedto-covid-19-on-third-country- nationals-in-bulgaria). Schätzungen zufolge ist ein Drittel der arbeitenden Flüchtlinge vom Arbeitsplatzverlust betroffen (VG Karlsruhe, Urteil vom 23. Juni 2020 – A 13 K 6311/19 –, juris Rn. 31). Zahlreiche als schutzbedürftig anerkannte Familien können wegen des Arbeitsplatzverlust und des mangelnden Zugangs zu Sozialhilfe ihre Wohnungsmieten nicht mehr zahlen und sind akut von Obdachlosigkeit bedroht (Europäische Kommission, „Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria“, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures- relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria). Die SAR soll den Betroffenen übergangsweise Unterkünfte und Verpflegung in den Aufnahmezentren angeboten haben.

Dennoch berichten Nichtregierungsorganisationen, dass sich über 200 Familien hilfesuchend an sie gewandt haben. Das Bulgarische Rote Kreuz habe den Betroffenen angeboten, die Miete für einen Monat zu übernehmen und Essen zu kaufen (Europäische Kommission, a.a.O.).

Nach gegenwärtigem Stand ist im Jahr 2021 zwar mit einer partiellen Erholung der Wirtschaft zu rechnen. Die Arbeitslosenrate soll dann wieder auf 5,75 % fallen (Europäische Kommission, European Economic Forecast, Spring 2020, Mai 2020, S. 121). Bulgarien ist gegenwärtig jedoch wieder stärker von der Corona-Pandemie betroffen, so dass für einzelne Gebiete seitens des Auswärtigen Amtes Reisewarnungen herausgegeben wurden (https://www.auswaertiges- amt.de/de/aussenpolitik/laender/bulgarien-node/bulgariensicherheit/211834, letzter Abruf am 01. September 2020). Es erscheint daher zweifelhaft, ob diese Prognose noch aufrechterhalten werden kann. Wegen der bestehenden hohen Unsicherheit rechnet die Europäische Kommission zudem frühestens im kommenden Jahr mit einem Anstieg der Investitionen (Europäische Kommission, European Economic Forecast, Summer 2020, Juli 2020, S. 32). Vor diesem Hintergrund ist die Annahme als überholt anzusehen, wonach anerkannte Schutzberechtigte gerade in der stark gebeutelten Gastronomiebranche aussichtsreiche Chancen haben, einen Arbeitsplatz zu finden.

b) Ausgehend von diesen Feststellungen zur allgemeinen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien ist davon auszugehen, dass die Kläger im Falle einer Überstellung dorthin nicht in der Lage sein werden, sich Zugang zu den elementarsten Bedürfnissen zu verschaffen. Der Einzelrichter ist davon überzeugt, dass die Kläger in Bulgarien unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen einer Art. 4 GRCh verletzenden Gefahr extremer materieller Not ausgesetzt wären.

In Abwesenheit gesicherter Unterbringungsmöglichkeiten nach dem 6-Monatszeitraum ab Anerkennung als Schutzberechtigte und ohne den effektiven Zugang zu anderen staatlichen Unterstützungsleistungen wie Wohngeld oder Sozialhilfe erachtet es der Einzelrichter für maßgebend, dass anerkannte Schutzberechtigte spätestens nach dieser Zeit ihren Lebensunterhalt selbstständig bestreiten können (so auch: OVG Münster, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 11 A 228/15.A –, juris Rn. 68; VGH Mannheim, Beschluss vom 27. Mai 2019 – A 4 S 1329/19 –, juris Rn. 22; VG Karlsruhe, Urteil vom 23. Juni 2020 – A 13 K 6311/19 –, juris Rn. 29). Soweit ersichtlich geht die obergerichtlichen Rechtsprechung – jedenfalls in Bezug auf die Gruppe der arbeitsfähigen alleinstehenden gesunden Männer – übereinstimmend davon aus, dass anerkannte Schutzberechtigte für die Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt auf dem vom Europäischen Gerichtshof benannten Niveau selbstständig zu bestreiten (vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom 17. März 2020 – 7 A 10903/18 –, juris; OVG Berlin- Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2019 – OVG 3 B 8.17 –, juris; OVG Schleswig, Urteil vom 25. Juli 2019 – 4 LB 12/17 –, juris; OVG Bautzen, Urteil vom 13. November 2019 4 A 947/17.A –, juris; OVG Münster, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 11 A 228/15.A –, juris; OVG Hamburg, Urteil vom 18. Dezember 2019 – 1 Bf 132/17.A – juris).

Nach Ausbruch der Corona-Pandemie wird es den Klägern – nach unterstellter Anerkennung als Schutzbedürftige – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein, in Bulgarien ihren Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten, hiervon Wohnraum zu bezahlen und sich zu versorgen. Mangels Zugangs zu staatlicher Sozialhilfe, eigener finanzieller Ressourcen und anderweitiger Unterstützung würden die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen perspektivisch obdachlos werden.“

Diesen Ausführungen schließt sich der Einzelrichter an, woraus sich ergibt, dass dem Kläger in Bulgarien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC in Form einer extremen materiellen Not droht (jedenfalls dann, wenn – wie hier – keine individuelle Zusicherung Bulgariens vorliegt). Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Pandemielage gegenüber der Situation im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bremen (Ende August 2020) erheblich verschlimmert hat; auch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts Bremen zu einer Erholung der Wirtschaft im Jahr 2021 dürften angesichts der aktuellen Situation überholt sein.

In den Reiswarnungen des Auswärtigen Amtes ist derzeit (Stand 22. März 2021: https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/bulgariensicherheit/211834#content_0) u. a. ausgeführt: „Bulgarien ist von COVID-19 sehr stark betroffen. Landesweit überschreitet die Zahl der Neuinfektionen 200 Fälle pro 100.000 Einwohner auf sieben Tage, weshalb Bulgarien als Gebiet mit besonders hohem Infektionsrisiko (Hochinzidenzgebiet) eingestuft ist. (…) Der epidemiologische Ausnahmezustand ist bis zum 30. April 2021 verlängert worden. Bars, Diskotheken und Klubs sind bis auf weiteres geschlossen. Restaurants sind geöffnet. Im Sofioter Stadtgebiet gelten noch bis 26. März 2021 eingeschränkte Öffnungszeiten. Personen unter 65 Jahren sind landesweit täglich zwischen 8.30 und 10.30 Uhr der Zutritt zu Lebensmittelgeschäften nicht gestattet.“

Die drastische Lage wird auch in anderen Quellen bestätigt; so hat beispielsweise die Germany Trade & Invest (GTAI) auf ihrer Homepage (https://www.gtai.de/gtai-de/trade/specials/special/bulgarien/covid-19-allgemeine-situation-und-konjunkturentwicklung-239254: Stand 8. Februar 2021) u. a. ausgeführt: „In Bulgarien steigen die Neuinfektionen. Das Virus verbreitet sich rasanter als im Herbst. Seit dem 14. Mai 2020 gilt die „epidemiologische Notlage“, welche die Regierung bis zum 30. April 2021 verlängert hat. Ziel dabei ist, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. (…) Bis zum 30. April 2021 gelten eine Reihe von Beschränkungen: Alle Non-Food-Geschäfte bleiben geschlossen, ebenso Cafés, Restaurants, Diskotheken und Nachtklubs sowie Einkaufszentren. Nur Lebensmittelgeschäfte, kleine Einzelhandelsgeschäfte und Baumärkte dürfen geöffnet bleiben. (…) Unternehmer in Bulgarien spüren die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Dies bestätigen die Auslandshandelskammer (AHK) und 87 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage der AHK Bulgarien vom Oktober 2020 zu den Auswirkungen der Coronakrise. Daran hatten sich 60 Unternehmen aus den Bereichen Handel, Finanzen, Beratung, Transport und Logistik, IT und Software sowie Maschinenbau und Medizintechnik beteiligt. Etwas mehr als ein Fünftel der Befragten erwarten einen Rückgang des Jahresumsatzes von mehr als 30 Prozent. Die meisten Umfrageteilnehmer machen Unsicherheiten zu schaffen. Sie fürchten, dass Geschäftsinitiativen und Treffen abgesagt werden. Eine weitere Sorge ist die geringere Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen, ebenso wie Reiseeinschränkungen. Insgesamt wächst der finanzielle Druck auf Unternehmer und das Risiko von Insolvenzen steigt, weil der Lockdown die Nachfrage weiter ausbremsen dürfte. Die Entwicklung der bulgarischen Wirtschaft wird voraussichtlich erst in zwei Jahren das Vorkrisenniveau erreichen. Die Europäische Kommission prognostiziert in ihrer Herbst-Analyse einen realen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 5,1 Prozent. Besonders schwach waren im 2. und 3. Quartal der Export und die Binnennachfrage sowie die Investitionstätigkeit. Aufgrund der unsicheren Lage haben Unternehmen geplante Investitionen vorerst auf 2021 verschoben. Inwieweit die Investitionen im kommenden Jahr wieder anziehen werden, hängt unter anderem davon ab, ob die Regierung staatliche Fördermaßnahmen wie das Programm 60/40 verlängert. Das Programm unterstützt Unternehmer bei starken Umsatzrückgängen ab 20 Prozent. Der Staat übernimmt 60 Prozent der Ausgaben für Lohn- und Lohnnebenkosten. Dafür hat Bulgarien am 2. September von der Europäischen Kommission Fördermittel von etwa 511 Millionen Euro aus dem SURE-Instrument zugesichert bekommen. Damit finanziert die Europäische Union (EU) Unterstützungsmaßnahmen, um Arbeitslosigkeit und Einkommensverluste von Selbstständigen aufgrund der Corona-Pandemie zu verringern. Insgesamt stehen im Rahmen des SURE-Instruments 81,4 Milliarden für 15 EU-Mitgliedstaaten bereit. Laut EU-Prognose wird die Erholung der bulgarischen Wirtschaft im Jahr 2021 vom Privatverbrauch, der steigenden Beschäftigung sowie von der Entwicklung des europäischen Binnenmarktes getragen. Bulgarien ist das einzige Land in der EU, dessen Haushaltsdefizit mit voraussichtlich 2,8 Prozent des BIP im Rahmen des Konvergenzkriteriums (maximal 3 Prozent) bleibt. Unternehmer und Mitarbeiter spüren die Folgen. "Ein Großteil der bulgarischen Unternehmen hat in diesem Jahr Personal abgebaut und in betriebsinterne Maßnahmen investiert, um die Pandemie-Vorschriften einhalten zu können", berichtete der Präsident der bulgarischen Handelskammer, Radosvet Radev, am 1. Dezember beim Bulgarischen Wirtschaftsforum per Video.“

Ob die touristische Sommersaison (der Tourismus ist in Bulgarien ein entscheidender Wirtschaftsfaktor) – wie ursprünglich geplant (vgl. (auch zu dem Umstand, dass der Tourismus einen erheblichen Teil der Wirtschaftsleistung Bulgariens ausmacht): Zeit-Online vom 16. März 2021, „Sommersaison in Bulgarien beginnt am 1. Mai“, abrufbar unter: https://www.zeit.de/news/2021-03/16/sommersaison-in-bulgarien-beginnt-am-1-mai?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F) – zum 1. Mai 2021 beginnen kann, bleibt abzuwarten und dürfte zumindest nur unter erheblichen Beschränkungen möglich sein.

Nach alledem dürfte der Kläger höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein, in absehbarer Zeit eine Arbeitsanstellung in Bulgarien zu finden, wobei er nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Bremen dort faktisch von Sozialleistungen ausgeschlossen sein dürfte; es ist damit sehr wahrscheinlich, dass er im Falle einer Rückkehr nach Bulgarien nicht einmal in der Lage wäre, seine grundlegendsten Bedürfnisse zu befriedigen.

II. Da die in den Ziffern 2. bis 4. getroffenen Regelungen auf der rechtswidrigen Entscheidung in Ziffer 1. beruhen, sind diese ebenfalls rechtswidrig und aufzuheben, mit Ausnahme des Satzes 4 der Ziffer 3. Der Anfechtungsteil der Klage des Klägers ist gemäß § 88 VwGO in seinem wohlverstandenen Rechtsstutzinteresse so zu interpretieren, dass die in Ziffer 3. Satz 4 des Tenors getroffene Feststellung, dass der Kläger nicht in den Irak abgeschoben werden darf, von diesem nicht umfasst ist, zumal diese Regelung ihn auch nicht in seinen Rechten verletzt und deshalb ohnehin nicht aufzuheben gewesen wäre (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Entscheidung in Ziffer 5. verletzt den Kläger zwar nicht in seinen Rechten, sie ist aber aus Klarstellungsgründen mit aufzuheben, zumal sie sich auf die aufzuhebende Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. bezieht.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.