Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 26.01.1999, Az.: 5 U 160/98
Grundsätze der zahnärztlichen Funktionslehre; Zahlung eines Schmerzensgeldes ; Feststellung wegen fehlerhafter zahnärztlicher Behandlung; Zahlung eines Schmerzensgeldes
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 26.01.1999
- Aktenzeichen
- 5 U 160/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 29321
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1999:0126.5U160.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 847 BGB
- § 256 ZPO
Fundstellen
- NJW-RR 1999, 1328-1329 (Volltext mit amtl. LS)
- OLGReport Gerichtsort 1999, 193-195
Amtlicher Leitsatz
Die Höhen der unteren Frontzähne geltend in der zahnärztlichen Funktionslehre als unantastbar.
Tatbestand
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und auf Feststellung wegen fehlerhafter zahnärztlicher Behandlung in Anspruch.
Der Beklagte behandelte die Klägerin seit Oktober 1995 und versah am 29.11.1995 den Zahn 11 mit einer VMK-Krone. Im Mai 1996 wandte sich die Klägerin wegen Beschwerden mit dieser Krone an den Beklagten, der die Krone entfernte, den Zahnstumpf durch einen Schraubenaufbau verstärkte und die Krone wieder einsetzte. Zugleich schliff der Beklagte die Zähne 42, 41 und 31 selektiv im Schmelzbereich ein.
Die Klägerin hat unter Hinweis auf das zahnärztliche Gutachten Timmermann vom 08.08.1996 behauptet, die Krone sei mangelhaft gefertigt worden. Der Kronenrand sei überkonturiert, sodass sich eine Plaque-Retentionsnische gebildet habe, die zu einer lokalen Zahnfleischentzündung geführt habe. Außerdem sei die zu lange Krone gegen den Antagonisten gestoßen. Anstatt die Krone entsprechend zu kürzen und anzupassen, habe der Beklagte fehlerhafterweise die Zähne 42, 41 und 31 eingeschliffen, um Platz für die überdimensionierte Krone zu schaffen. Infolgedessen seien die vor dem Eingriff völlig gesunden Zähne 42, 41 und 31 extrem schmerz- und temperaturempfindlich geworden. Sie müssten nunmehr überkront werden. Seitdem leide sie - die Klägerin - an unerträglichen Schmerzen. Ein Schmerzensgeld von mindestens 8.000,-- DM sei daher angemessen.
Die 8. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg hat die Klage nach Erhebung von Sachverständigenbeweis durch Urteil vom 25.09.1998 abgewiesen. Ob dem Beklagten ein Behandlungsfehler unterlaufen sei, kann nach Auffassung der Kammer offen bleiben, weil die Klägerin dem Beklagten keine Gelegenheit zur Nachbesserung gegeben habe. Dazu sei sie aber verpflichtet gewesen.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie geltend macht: Das Landgericht habe verkannt, dass der Beklagte ihre gesunden Vorderzähne nicht nur im Schmelzbereich eigenmächtig eingeschliffen habe, ohne sie - die Klägerin - vorher zu belehren und aufzuklären. Die Rechtfertigung des Beklagten, schwierige Bissverhältnisse hätten ihm keine Wahl gelassen, sei durch das Sachverständigengutachten widerlegt. Damit sei dem Beklagten ein grober Behandlungsfehler unterlaufen. Richtigerweise hätte der Beklagte die vorhandene fehlerhafte Verzahnung durch eine Bisshebung korrigieren müssen. Auch die Nachbehandlungsmaßnahmen des Beklagten seien in jeder Hinsicht unzureichend gewesen.
Unhaltbar sei der ihr gemachte Vorwurf, sie habe es unterlassen, ihren Mitwirkungspflichten nachzukommen. Dazu sei ein Patient nur dann verpflichtet, wenn es erforderlich sei, Ungenauigkeiten und Abweichungen vom Idealzustand eines sonst grundsätzlich lege artis gefertigten Zahnersatzes zu beheben. Davon könne jedoch nicht die Rede sein, wenn ein Zahnarzt ohne Einwilligung eines Patienten dessen Zähne abschleife.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist überwiegend auch sachlich gerechtfertigt. Der Beklagte schuldet der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 DM; ferner ist der Feststellungsantrag in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet (§§ 823 Abs. 1, 847 BGB, 256 ZPO).
1.)
Bei der Überkronung des Zahnes 11 ist dem Beklagten allerdings kein vorwerfbarer Behandlungsfehler unterlaufen. Der Sachverständige hat dazu festgestellt, dass die Krone nicht "überkonturiert" ist. Es sind auch keine Plaque- und Retentionsnischen durch eine Überkonturierung oder durch andere sichtbare Mängel entstanden. Ebenso wenig liegt ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Krone und der festgestellten Zahnfleischentzündung vor. Demgemäß hat das Landgericht insoweit eine fehlerhaft zahnärztliche Behandlung verneint, ohne dass die Berufung dies beanstandet.
2.)
Dem Beklagten ist aber vorzuwerfen, die Unterkieferzähne 42, 41 und 31 fehlerhafterweise ohne Grund eingeschliffen und dadurch so stark beschädigt zu haben, dass zumindest die Zähne 41 und 42 extrem temperatur- und schmerzempfindlich geworden sind. Der Sachverständige Dr. Schmidt hat dazu ausgeführt, dass die unteren Frontzahnhöhen in der zahnärztlichen Funktionslehre als "sakrosant" gelten, sie also nur in Ausnahmefällen gekürzt werden sollten. Ein solcher Ausnahmefall ist von dem Beklagten nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht erkennbar. In dem über die Klägerin geführten Krankenblatt des Beklagten ist nur das Abschleifen der Zähne dokumentiert; Gründe für diese Maßnahmen sind dort nicht niedergelegt. Das Unterlassen der Dokumentation dieses aufzeichnungspflichtigen Tatbestands indiziert, dass die Voraussetzungen eines Ausnahmefalls nicht vorlagen (vgl. dazu: Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 7. Aufl., 1997, Rn. 465 m.w.N.). Der Beklagte hat die hiernach gegen ihn sprechende Vermutung nicht widerlegt. Er hat sich zu den Umständen, die ihn zum Abschleifen der Vorderzähne veranlassten, wechselnd und widersprüchlich eingelassen: Mit Schriftsatz vom 31.01.1997 hat er ausgeführt, die Schneidekanten der Zähne seien selektiv im Schmelzbereich eingeschliffen worden "was bei schwierigen Platzverhältnissen durchaus üblich ist", und die "außergewöhnlich schwierigen Bissverhältnisse hätten ihm keine andere Wahl gelassen, als die ohnehin schon durch natürlich Abrasion abradierten Zähne 41 und 42 noch etwas einzuschleifen" (Schriftsatz vom 29.05.1998). Der Sachverständige hat dieser Einschätzung bei seiner Anhörung vor dem Landgericht widersprochen: Es sei zwar zutreffend, dass bei der Klägerin schwierige Gebissverhältnisse vorlägen. Das Einschleifen der Zähne 41 und 42 sei jedoch keineswegs die einzige Therapiemöglichkeit gewesen. Angesichts der umfassenden pathologischen Mundverhältnisse wäre als Alternative ein Behandlungskonzept in Betracht gekommen, das diese Missstände erfasst hätte. Das Problem der fehlerhaften Verzahnung hätte nur durch eine umfangreiche Bisshebung vor einer Formkorrektur der Unterkieferfront behoben werden können.
Der Gutachter hat weiter ausgeführt, dass es vorstellbar sei, dass wegen der bereits erheblichen Vorschäden der Zähne im Schmelzbereich die Einschleifmaßnahmen sinnvoll erschienen oder gar notwendig waren. Zu möglichen Vorschäden der Zähne 41 und 42 könne er sich jedoch im Nachhinein naturgemäß nicht mehr äußern.
Im zweiten Rechtszug hat der Beklagte seine Darstellung zur Notwendigkeit des Abschleifens der Frontzähne den letztgenannten Ausführungen des Sachverständigen angepasst. Abgesehen davon, dass dieser Sachvortrag angesichts der dargelegten Widersprüche nicht zu überzeugen vermag, kann nicht festgestellt werden, dass die abgeschliffenen Frontzähne 41 und 42 Vorschäden aufwiesen. Somit bleibt offen, ob der vom Gutachter in Betracht gezogene Ausnahmefall tatsächlich vorgelegen hat. Dies geht - wie vorstehend ausgeführt - zu Lasten des Beklagten.
Im Übrigen wäre es - wie der Sachverständige weiter ausgeführt hat - zahnmedizinisch geboten gewesen, die Klägerin über alternative Behandlungskonzepte (Bisshebung) aufzuklären. Ein solches Gespräch über Behandlungsalternativen hat jedoch nicht stattgefunden. Der Beklagte, der anderweitige Behandlungsmaßnahmen offenbar nicht in Betracht gezogen hat, behauptet selbst nicht ausdrücklich, mit der Klägerin entsprechende Alternativen erörtert zu haben. Der Beklagte haftet der Klägerin daher auch aus diesem Grund wegen fehlender wirksamer Einwilligung in die Behandlung auf Schadensersatz.
Der Senat ist im Gegensatz zum Landgericht der Auffassung, dass der Klägerin nicht vorgeworfen werden kann, gegen ihre Mitwirkungspflichten im Rahmen der zahnärztlichen Behandlung verstoßen zu haben. Derartige Mitwirkungspflichten treffen den Patienten nur dann, wenn es darum geht, Ungenauigkeiten und Abweichungen vom Idealzustand eines grundsätzlich lege artis gefertigten Zahnersatzes zu beheben (Senatsurteil vom 11.11.1997, 5 U 70/97). Diese Voraussetzungen sind jedoch dann nicht gegeben, wenn wie hier - ein Zahnarzt die Vorderzähne ohne rechtfertigenden Grund einschleift. In diesem Fall ist es dem Patienten auch nicht zuzumuten, sich erneut in die Behandlung desselben Zahnarztes begeben zu müssen.
Der Beklagte schuldet der Klägerin nach alldem ein Schmerzensgeld (§ 847 Abs. 1 BGB), das in einer Höhe von 5.000,00 DM angemessen ist. Wie der Sachverständige ausgeführt hat, sind die Zähne 41 und 42 durch das Beschleifen so stark beschädigt worden, dass sie infolgedessen stark temperatur- und schmerzempfindlich geworden sind. Die Klägerin hat sich darüber hinaus einer Nachbehandlung zu unterziehen, die mit weiteren Beeinträchtigungen verbunden ist.
Der Feststellungsantrag ist bezüglich der materiellen Schäden ohne Einschränkungen begründet (§ 256 ZPO). Hinsichtlich der immateriellen Schäden war er auf die künftigen Beeinträchtigungen zu begrenzen.