Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 12.01.1999, Az.: 5 U 154/98
Behandlungsfehler bei der diagnostischen Abklärung einer Hodentorsion; Unterbleiben einer erneuten klinischen (abschließenden) Untersuchung in Ermangelung etwaiger Auffälligkeiten als Behandlungsversäumnis; Erforderlichkeit einer weiter gehenden Untersuchung vor der Entlassung; Eingeschränkte Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises in Arzthaftungsprozessen; Fehlende Typizität des Geschehensablaufs
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 12.01.1999
- Aktenzeichen
- 5 U 154/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 29120
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1999:0112.5U154.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 31 BGB
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 847 BGB
- § 831 BGB
Fundstellen
- MedR 1999, 220
- OLGReport Gerichtsort 1999, 86-88
- VersR 1999, 848-849 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Substantiierung der Behandlungsbeteiligung verklagter Ärzte - Poststationäre Hodentorsionssymptome kein Hinweis auf vorangegangene Behandlungsversäumnisse.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Schmerzensgeld wegen des Verlustes des linken Hodens, den er auf eine unzureichende diagnostische Abklärung durch die im Krankenhaus der Beklagten zu 1) tätigen Ärzte (Chefarzt - Beklagter zu 2); Oberarzt - Beklagter zu 3); Stationsarzt - Beklagter zu 4) ) zurückführt.
Die Untersuchung des Klägers durch den Beklagten zu 4) am 24.08.1994 gegen 5.30 Uhr auf Grund plötzlich aufgetretener Unterbauchschmerzen links ergab einen klinisch unauffälligen Befund. Er konnte nach alsbaldigem Rückgang der Beschwerden ohne medizinische Versorgung entlassen werden. Am 25.10.1994 wurde der Kläger um 0.10 Uhr wegen erneuter Schmerzen stationär aufgenommen und klinisch mit zusätzlichen Befunderhebungen (Laborparameter, EKG, Sonographie) untersucht. Am darauf folgenden Tag wurde er laut Arztbrief an den Hausarzt gegen 10.30 Uhr beschwerdefrei entlassen.
Der um 12.00 Uhr aufgesuchte Hausarzt stellte eine druckschmerzhafte Hodenschwellung links fest und veranlasste die sofortige Vorstellung bei einem Urologen, der den Kläger nach Untersuchung gegen 14.00 Uhr unter der Diagnose "Hodentorsion links" umgehend in das F...-Hospital in Lohne einwies. Bei der gegen 16.00 Uhr durchgeführten Operation musste der linke Hoden wegen vollständiger Infarzierung (abgestorbenes Gewebe) entfernt werden; der rechte Hoden wurde vorbeugend fixiert.
Der Kläger hat den Beklagten vorgeworfen, die Hodentorsion, die nach dem weiteren Verlauf bereits zurzeit der Entlassung vorgelegen haben müsse, auf Grund schwer wiegender diagnostischer Pflichtverletzungen nicht erkannt zu haben, was zu dem Verlust des Hodens geführt habe.
Die Beklagten haben dem entgegengehalten, die auch darauf ausgedehnten klinischen Untersuchungen hätten keinen Hinweis auf eine Hodentorsion ergeben, sodass der Kläger unter der Verdachtsdiagnose eines gastrointestinalen Infektes beschwerdefrei habe entlassen werden können. Der Zeitraum bis zur Operation erlaube nicht den Schluss, der Hodenstrang sei schon vor Entlassung verdreht gewesen.
Der in dem vorgeschalteten Schlichtungsverfahren als Gutachter hinzugezogene Chefarzt der Urologischen Abteilung des F... H... hat einen Verstoß gegen die anerkannten Regeln der Heilkunst und damit eine Verantwortlichkeit der Beklagten verneint. Demgegenüber ist die Schlichtungsstelle auf Grund der Befunde nach der Entlassung davon ausgegangen, dass sich die Hodentorsion bereits zuvor ausgebildet haben müsse und sich eine adäquate Therapie infolge Versäumnisse bei den Beklagten um Stunden verzögert habe.
Das Landgericht hat sachverständig beraten (Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Oberarztes des Zentralkrankenhaus St. J... B... und Anhörung des Gutachters) die Klage abgewiesen, da diagnostische Versäumnisse nicht festzustellen seien und sich die Hodentorsion auch erst nach der Entlassung aus dem Krankenhaus entwickelt haben könne.
Mit der dagegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger sein Klagebegehren in vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Dem Kläger steht im Zusammenhang mit der Behandlung im Krankenhaus der Beklagten zu 1) und dem Verlust des linken Hodens kein Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 823 Abs. 1, 847, 31, 831 BGB zu. Das Landgericht hat unter nicht zu beanstandener Auswertung der sachverständigen Beratung behandlungsfehlerhafte Versäumnisse bei der diagnostischen Abklärung des gegebenen Beschwerdebildes und einen Zusammenhang zwischen Behandlung und dem Verlust des Hodens nicht festzustellen vermocht, da eine Entwicklung der Torsion erst nach der Entlassung nicht auszuschließen sei. Für beides - Behandlungsfehler und Ursachenzusammenhang - ist der Kläger darlegungs- und beweisbelastet. Dem hat er nicht genügen können. Insoweit kann zunächst gemäß § 543 Abs. 1 2. Halbs. ZPO auf die überzeugenden Gründe der angefochtenen Entscheidung (LGU 6 und 7), die sich der Senat zu Eigen macht, verwiesen und von einer rein wiederholenden Darstellung abgesehen werden.
Dem hat auch die Berufung nichts Erhebliches entgegenzusetzen. Einer weiteren sachverständigen Abklärung des Krankheits- und Behandlungsverlaufs bedarf es nicht. Auch besteht keinerlei Anlass, an der Sachkunde des Gerichtssachverständigen zu zweifeln.
Es ist bereits nicht erkennbar, welche haftungsbegründenden Vorwürfe gegenüber den Beklagten zu 2) und 3) erhoben werden; ihre Beteiligung an dem Behandlungsgeschehen wird nicht einmal andeutungsweise dargetan. Auch unter Berücksichtigung der im Arzthaftungsprozess vor einer Abklärung der medizinischen Abläufe durch Sachverständige bestehenden verringerten Substantiierungspflichten auf der Patientenseite muss wenigstens die Möglichkeit einer haftungsrelevanten Behandlungsbeteiligung angegeben werden. Aus der bloßen Stellung in einem Krankenhaus als Chef- oder Oberarzt folgt eine solche Einbindung in die Versorgung unter Übernahme einer entsprechenden deliktsrechlich abgesicherten Garantenstellung allein nicht.
Nach den auch in den Einzelergebnissen völlig übereinstimmenden Gutachten des Gerichts und des Schlichtungssachverständigen, die eine ausführliche, insgesamt überzeugende Beurteilungsgrundlage geben, sind Behandlungsfehler bei der diagnostischen Abklärung der Beschwerde des Klägers, wie sie sich den Beklagten darstellten, jedenfalls nicht festzustellen. Der gegenteiligen Annahme der Schlichtungsstelle fehlt es an feststellbaren Anknüpfungstatsachen. Sie ist mithin rein spekulativ. Die Regulierungsempfehlung und die dafür herangezogene Begründung ist - wie der Gerichtssachverständige bei seiner Anhörung unmissverständlich klargestellt hat - nicht haltbar. Sie beruht auf einer nach den Erkenntnissen in der medizinischen Wissenschaft und Praxis gerade nicht möglichen Schlussfolgerung aus der erst poststationär erkennbaren Krankheitssymptomatik und nicht auf dem bis dahin dokumentierten und nach dem Parteivorbringen feststellbaren Behandlungs- und Krankheitsverlauf.
Der Kläger ist am 24. und 25.08.1994 zur Abklärung von Unterleibsbeschwerden der vollständigkeithalber insbesondere auch im Genitalbereich im Hinblick auf die Möglichkeit einer Hodentorsion untersucht worden, obwohl es an jeglichen klassischen Symptomen für eine solche Erkrankung fehlte. Der Befund war ausweislich der Krankenunterlagen negativ. Nach dem Abschlussbericht konnte er am 26.08.1994 beschwerdefrei in die hausärztliche Behandlung entlassen werden. Dass von der letzten klinischen Untersuchung am Tag zuvor bis zu diesem Zeitpunkt auf eine Hodentorsion hindeutende Symptome aufgetreten sind, ist nicht unter Beweisantritt dargetan und daher auch nicht festzustellen. Das Unterbleiben einer erneuten klinischen (abschließenden) Untersuchung bedeutet in Ermangelung etwaiger Auffälligkeiten kein Behandlungsversäumnis. Zuvor hatte immerhin auch nach dem Klägervorbringen eine Visite stattgefunden. Damit ist jedenfalls auch dem laut Gerichtssachverständigen einer Entlassung üblicherweise vorgeschalteten Gespräch genügt worden. Dass der Kläger dabei auf anhaltende oder gar neue Beschwerden hingewiesen hat, ist erstinstanzlich nicht behauptet und unter Beweis gestellt worden; vielmehr hat selbst der Kläger in der Klagebegründung eingeräumt, dass die Bauchschmerzen schwächer geworden waren, während die Beklagten jedwede Äußerungen über Beschwerden verneint haben. Die Behauptung des Klägers in der Berufungsbegründung, er habe bei seiner Entlassung darauf hingewiesen, dass er noch unter Beschwerden leide, ist zum einen nicht hinreichend substantiiert, da nicht dargelegt wird, welche Beschwerden er wem gegenüber geäußert haben will. Zum anderen ist der dazu erfolgte Beweisantritt ungeeignet, da eine Anwesenheit seines dafür als Zeugen benannten Vaters bei Gesprächen des Klägers mit der Behandlungsseite nicht behauptet wird und eine Äußerung von Beschwerden allein gegenüber seinem Vater diese Seite nicht belasten kann.
Damit fehlt es an jedwedem Anhalt, der für die Erforderlichkeit einer weiter gehenden Untersuchung vor der Entlassung streiten könnte, zumal - wie ausgeführt - auch keine Symptome für eine vorangegangene intermittierende Hodentorsion erkennbar geworden waren. Aus dem gleichen Grunde gibt es keine Grundlage für die Vermutung der Schlichtungsstelle, die Hodentorsion hätte schon zum Zeitpunkt der Entlassung bestanden und zu diesem Zeitpunkt auch erkannt werden müssen. Beide Sachverständige haben in völliger Übereinstimmung einer dahingehenden Schlussfolgerung aus dem weiteren dramatisch sich entwickelnden Krankheitsverlauf für nicht zulässig gehalten. Das überzeugt angesichts der gesicherten medizinischen Erkenntnisse, dass sich eine Hodentorsion auch innerhalb einer kurzen Frist von zwei Stunden entwickeln kann. Für einen in Arzthaftungsprozessen ohnehin nur sehr eingeschränkt anwendbaren Anscheinsbeweis (vgl. nur Steffen, Dressler, Arzthaftungsrecht, 7. Auflage, Rdnr 495 ff) fehlt es damit zugleich an der erforderlichen Typizität des Geschehensablaufs.
Angesichts nicht feststellbarer Behandlungsversäumnisse und der offenen Kausalitätsfrage muss von einem schicksalhaften Krankheitsverlauf ausgegangen werden, für den die Behandlungsseite keine (Mit-)Verantwortung zu tragen hat. Die Berufung war daher mit den Nebenentscheidungen aus §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713, 546 ZPO zurückzuweisen.