Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 23.01.2001, Az.: 6 B 2/01
Abstinenz; Cannabis; Ecstasy; Fahreignung; Fahrerlaubnisentziehung; Haschisch; Marihuana; regelmäßiger Konsum
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 23.01.2001
- Aktenzeichen
- 6 B 2/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2001, 39548
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs 1 StVG
- § 14 Abs 2 Nr 1 FeV
- § 11 Abs 1 FeV
- § 46 Abs 1 FeV
- § 80 Abs 5 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zur Fahreigung bei regelmäßigem Cannabiskonsum und dem Auffinden einer Ecstasy-Tablette. Keine Parallelität der Fahreignungsbeurteilung im Verhältnis zum Alkoholkonsum. Die Behauptung der Abstinenz genügt nicht für die erforderliche Gewissheit der Abkehr vom Drogenkonsum. (Bestätigt: OVG Lüneburg, Beschl. vom 19.02.2001, 12 MA 751/01)
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,-- DM festgesetzt.
Gründe
I. Der in Kattowitz (Polen) geborene Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Entziehung der Fahrerlaubnis der Klasse 3, die er im Dezember 1998 erworben hat. Durch eine Mitteilung der Polizeiinspektion Wolfenbüttel vom 18. August 2000 erfuhr der Antragsgegner, dass gegen den Antragsteller ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz eingeleitet worden war. Im Zuge des gegen den Antragsteller durchgeführten Strafverfahrens gab er bei seiner Vernehmung am 19.06.2000 an, seit August 1999 regelmäßig Haschisch und Marihuana zum Eigenkonsum erworben und darüber hinaus wegen finanzieller Probleme auch mit Haschisch Handel getrieben zu haben. Er wurde deswegen durch Urteil des Amtsgerichts Wolfenbüttel vom 06.11.2000 zu einer Jugendstrafe in Form einer Geldauflage von 500,-- DM sowie zur Teilnahme an einer Drogenberatung verurteilt.
Nach entsprechender Anhörung des Antragstellers entzog der Antragsteller diesem daraufhin mit Bescheid vom 29.12.2000 die Fahrerlaubnis und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Verfügung im Wesentlichen mit der Begründung an, es bestünde die ernste Besorgnis, dass der Antragsteller auch noch vor einer Entscheidung über einen gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis eingelegten Rechtsbehelf erneut unter dem Einfluss von Drogen am Straßenverkehr teilnehmen werde, was wegen der damit verbundenen Gefahren im Interesse der übrigen Verkehrsteilnehmer nicht hingenommen werden könne.
Dagegen legte der Antragsteller Widerspruch ein, über den - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden worden ist.
Mit dem am 09.01.2001 gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes macht der Antragsteller im Wesentlichen geltend:
Die Anordnung der sofortigen Entziehung sei nicht hinreichend begründet und auch die Entziehung der Fahrerlaubnis sei rechtswidrig. Seit der Entdeckung seines Cannabiskonsums durch seine Eltern im Mai 2000 habe er Betäubungsmittel nicht mehr genommen. Hätte der Antragsgegner zunächst eine genauere Untersuchung - wie geboten - durchgeführt, wären Spuren von Betäubungsmitteln nicht mehr festgestellt worden. Auch sonstige medizinische Gründe, nach mehr als einem halben Jahr nach dem letzten Konsum die Fahrerlaubnis zu entziehen, bestünden nicht. Ferner seien andere wesentliche Gesichtspunkte bei der Würdigung seiner Gesamtpersönlichkeit - namentlich Stellungnahmen des Lukas-Werks Wolfenbüttel sowie des Jugendamtes Wolfenbüttel - nicht berücksichtigt worden. Da keinerlei Gefahren für die Allgemeinheit erkennbar seien, müsse seinem Antrag stattgegeben werden.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und einer evtl. nachfolgenden Anfechtungsklage gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 29.12.2000 wiederherzustellen.
Der Antragsgegner verteidigt die ergangene Entscheidung und beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte der Staatsanwaltschaft Braunschweig (804 Js 36662/00 a) sowie auf den Verwaltungsvorgang des Antragsgegners Bezug genommen.
II. Der nach § 80 Abs. 5 VwGO statthafte Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung in formell ordnungsgemäßer Weise angeordnet (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) und in ausreichender Weise schriftlich begründet, warum das besondere Interesse an dem Sofortvollzug als gegeben erachtet wird (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Der Umstand, dass Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung geltend gemacht werden, berührt das (formelle) Begründungserfordernis nicht.
Der Antragsgegner hat hinreichend ausführlich und nachvollziehbar dargelegt, warum er die Anordnung der sofortigen Vollziehung für geboten erachtet hat und ein Anlass im Falle des Antragsteller Weiteres auszuführen hat nicht bestand.
Auch aus materiell-rechtlichen Gründen besteht keine Veranlassung, die aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid erhobenen Rechtsbehelfs wiederherzustellen. Nach § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung, sofern nicht die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wird. Eine derartige Vollziehungsanordnung setzt zu ihrer Rechtswirksamkeit voraus, dass ohne sie das öffentliche Interesse in schwerwiegender Weise beeinträchtigt würde, so dass demgegenüber die privaten Interessen des von der Vollziehungsanordnung Betroffenen zurücktreten. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, mit der die Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG entzogen worden ist, ist regelmäßig anzunehmen, wenn sich die an der Fahreignung des Betroffenen bestehenden Zweifel so weit verdichtet haben, dass die ernste Besorgnis gerechtfertigt erscheint, er werde andere Verkehrsteilnehmer in ihrer körperlichen Unversehrtheit oder in ihrem Vermögen ernstlich gefährden, wenn er bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnimmt (Finkelnburg/ Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rn 1273 m.w.N.). Eine solche Gefahr für die Allgemeinheit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn besondere Umstände eine Gefährlichkeit gegenwärtig begründen, die im Wege der Abwägung zu Lasten der Allgemeinheit und damit im öffentlichen Interesse nicht hingenommen werden kann.
Nach der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage und dem gegenwärtigen Erkenntnisstand hat der Rechtsbehelf des Antragstellers keine Aussicht auf Erfolg.
Nach der Rechtsprechung des für Verkehrssachen zuständigen 12. Senats des Nds. Oberverwaltungsgerichts (grundlegend: Beschl. vom 03.06.1993 - 12 M 2023/93), der das erkennende Gericht folgt, ist einem Antrag nach § 80 VwGO, der sich gegen die - von der beteiligten Behörde formell ordnungsgemäß begründete - Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Bescheides wendet, schon aus diesem Grund der Erfolg versagt, da das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht dazu dient, Positionen einzuräumen oder zu belassen, die eine Nachprüfung im Hauptsacheverfahren nicht standhalten werden. Dem von der Behörde zu prüfenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung, korrespondieren subjektive Rechte des Betroffenen nicht. Im vorliegenden Fall überwiegen im Übrigen die Gesichtspunkte, die dafür sprechen, den Antragsteller mit sofortiger Wirkung von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr auszuschließen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG hat die Straßenverkehrsbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber dieser Fahrerlaubnis als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erwiesen hat. Von einer fehlenden Fahreignung ist insbesondere dann auszugehen, wenn ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) vorliegt, durch den die Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird (§ 11 Abs. 1 Satz 1 FeV). Ein solcher Mangel ist die Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (Nr. 9.1 der Anlage 4 zu den §§ 11 f. FeV) oder eine regelmäßige Einnahme von Cannabis (Nr. 9.2.1 der Anlage 4), ohne dass bereits eine Abhängigkeit von diesen Stoffen bestehen muss. Im Anschluss an den Nachweis der Einnahme von Betäubungsmitteln der genannten Art ist in aller Regel eine Abstinenz von einem Jahr nachzuweisen, bevor von einer Dauerhaftigkeit der Entwöhnung oder Abkehr vom Drogenkonsum ausgegangen werden kann. Diese in den §§ 11 Abs. 1 und 46 Abs. 1 Satz 2 FeV i.V.m. Anlage 4 normierten Eignungskriterien entsprechen den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den Auswirkungen eines Drogengenusses auf die Fahreignung, wie sie in die vom Bundesminister für Verkehr herausgegebenen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Heft M 115 vom Februar 2000) Eingang gefunden haben. Diesen Vorgaben entspricht die getroffene Maßnahme des Antragsgegners, die nicht nach dessen Ermessen zu treffen war und auch sonst den rechtlichen Erfordernissen für eine sofortige Entziehung der Fahrerlaubnis genügt.
Es entspricht wissenschaftlicher Erkenntnis, dass ein akuter Cannabisrausch die Fahrtauglichkeit beeinträchtigt (BVerfG, Beschl. vom 09.03.1994, BVerfGE 90, 145; VGH München, Urt. vom 29.06.1999, 11 B 98.1093 m.w.N.). Ein Konsum von Cannabis kann zu einer starken Müdigkeit, Störung der Motorik, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwäche, zu einer Ausrichtung der Wahrnehmung auf irrelevante Nebenreize sowie zu einer Beeinträchtigung der Kritikfähigkeit und zur Selbstüberschätzung führen. Wegen solcher Auswirkungen auf die Verhaltenssteuerung eines Kraftfahrzeugführers begründet jedenfalls ein regel- oder gewohnheitsmäßiger Cannabiskonsum die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen. Ein regelmäßiger Gebrauch in diesem Sinne liegt vor, wenn Cannabisprodukte in bestimmten Zeitabständen wiederholt konsumiert werden, wobei eine im Sinne von Abhängigkeit verfestigte Gewohnheit nicht vorliegen muss.
Von einem solchermaßen regelmäßigen Konsum von Cannabis ist beim Antragsteller auszugehen. Er hat im Zuge des gegen ihn geführten Strafverfahrens, bei seiner polizeilichen Vernehmung am 19.06.2000, angegeben, seit August 1999 regelmäßig 2-3 Gramm Haschisch und Marihuana in der Woche konsumiert zu haben. An der Richtigkeit dieser Angabe zu zweifeln besteht kein Anlass. Wenn der Antragsteller nunmehr (unsubstantiiert) vortragen lässt, er habe erst "zum Ende hin" eine wöchentliche Dosis von 2 bis 3 Gramm konsumiert, kann das die ausdrücklich auf den Zeitraum ab August 1999 bezogenen Angaben gegenüber der Polizei, die der Antragsteller auch in der Hauptverhandlung vor dem Jugendrichter bestätigt hat, nicht erschüttern, zumal der Antragsteller bereits gegenüber der Polizei ergänzend ausgeführt hat, er habe sich für die ganze Woche ca. 3 Gramm Haschisch gekauft, das später günstiger als für 12,50 DM zu haben gewesen sei.
Der Antragsgegner ist schon aufgrund dieser Tatsachenbasis sowie des unstreitigen Umstandes, dass der Antragsteller wegen seiner auch gewerbsmäßigen Betätigung im Bereich verbotener Betäubungsmittel in der Drogenszene bereits Fuß gefasst und auch Kontakt zu Leuten mit sog. harten Drogen gehabt hat (wofür insbesondere die im Umfeld des Antragstellers aufgefundene Ecstasy-Tablette spricht), zu Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller das Stadium einer regelmäßigen Einnahme von Cannabis sicher erreicht hatte, so dass infolgedessen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr gegeben war. Weitere Ermittlungen oder sonstige Überlegungen zur Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers waren in diesem Zusammenhang nicht erforderlich (vgl. dazu auch Nds. OVG, Beschl. vom 17.05.1999 - 12 M 2150/99; VG Braunschweig, Urt. vom 13.04.2000 - 6 A 179/00).
Eine zukünftige Teilnahme des Antragstellers am motorisierten Straßenverkehr wird nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand über die Gefährlichkeit psychoaktiv wirkender Substanzen und der nach gesicherter sachverständiger Bewertung in diesem Zusammenhang nicht unerheblichen Rückfallneigung erst dann zu verantworten sein, wenn der Antragsteller in geeigneter Weise (durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten, vgl. § 14 Abs. 2 Nr. 1 FeV) nachgewiesen hat, dass kein Konsum mehr besteht und auch nicht zu erwarten ist (vgl. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, a.a.O., S. 43 f). Die im Übrigen nur wenig substantiierte Angabe des Antragstellers, er nehme seit Mai 2000 keine Betäubungsmittel mehr, reicht demgegenüber nicht aus, hinreichenden Anlass dafür zu sehen, der Antragsteller sei bereits jetzt hinreichend gefestigt und werde auch in der überschaubaren Zukunft, etwa bei einem Nachlass des für ihn - nach dem Inhalt der beigezogenen Strafakte - offenbar bestimmenden elterlichen Einflusses, nicht wieder zu Drogen greifen.
Solange der erforderliche Nachweis einer gefestigten Abkehr vom Drogenkonsum nicht erbracht ist, muss mit einer Wiederholung einer Verkehrsteilnahme unter Drogeneinfluss und damit mit einer vom Antragsteller ausgehenden erheblichen Gefährdung für (sich und) andere Personen gerechnet werden. Demgemäß muss dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung der angefochtenen Maßnahme der Vorzug eingeräumt werden gegenüber den persönlichen und wirtschaftlichen Interessen des Antragstellers, bis zu einer rechtskräftigen Klärung der Fahrerlaubnisentziehung vorerst weiterhin Kraftfahrzeuge führen zu dürfen.
Der Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG und berücksichtigt, dass im Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Hälfte des Streitwertes anzusetzen ist, der in einem Verfahren zur Hauptsache festzusetzen wäre.