Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.01.2018, Az.: 13 ME 442/17

Anzeigepflicht; Aufenthaltsverpflichtung; Ausreise; Förderung der Ausreise; Freiheitsbeschränkung; Meldeauflage; spezielle Unterkunft; Wohnsitzauflage

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.01.2018
Aktenzeichen
13 ME 442/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74407
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 22.11.2017 - AZ: 6 B 128/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

§ 46 Abs. 1 AufenthG ermöglicht den Erlass einer Wohnsitzauflage, die Zuweisung einer speziellen Unterkunft und die Auferlegung von Meldeauflagen und Anzeigepflichten, nicht jedoch Maßnahmen mit freiheitsbeschränkendem Charakter, wie etwa die Verpflichtung zum nächtlichen Aufenthalt in der zugewiesenen Unterkunft.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnende Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 6. Kammer - vom 22. November 2017 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 7. November 2017 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 1. November 2017 wird wiederhergestellt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt C. aus Hannover Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 22. November 2017 ist auch begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 1. November 2017 über die Anordnung einer ausländerrechtlichen Aufenthalts- und Meldepflicht zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Falle der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO wiederherstellen, wenn die im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das öffentliche Interesse oder ein überwiegendes Interesse eines Dritten an der Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes hinter das Interesse des Adressaten an einem Aufschub des Vollzugs desselben zurücktritt. Das ist der Fall, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann kein vorrangiges öffentliches Interesse bestehen. Umgekehrt ist der Rechtsschutzantrag abzulehnen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und zusätzlich ein gesteigertes öffentliches Interesse an seiner Vollziehung besteht, das über das Interesse hinausgeht, das den Erlass des Verwaltungsaktes selbst rechtfertigt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.5.2007 - 2 BvR 2483/06 -, juris Rn. 31 f.). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens bei summarischer Beurteilung des Sachverhalts hingegen offen, so entscheidet eine reine Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen, die für oder gegen die Dringlichkeit der Vollziehung sprechen, über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

Nach der im vorliegenden Eilverfahren allein gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die mit Bescheid vom 1. November 2017 gegenüber dem Antragsteller angeordnete Pflicht, sich von Montag bis Freitag zwischen 00.00 und 07.00 Uhr in der ihm zugewiesenen Unterkunft in der D. Str., E. aufzuhalten und die Absicht, sich zu diesen Zeiten nicht in seiner Unterkunft aufzuhalten, spätestens am vorherigen Tag der Ausländerbehörde des Antragsgegners unter Angabe des beabsichtigten Aufenthaltsorts anzuzeigen, als offensichtlich rechtswidrig.

Nach § 46 Abs. 1 AufenthG kann die Ausländerbehörde gegenüber einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer Maßnahmen zur Förderung der Ausreise treffen, insbesondere kann sie den Ausländer verpflichten, seinen Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen. Es kommen alle Maßnahmen in Betracht, die geeignet sind, die freiwillige oder erzwungene (vgl. Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 46 AufenthG Rn. 6; GK-AufenthG, § 46 Rn. 9, (Stand April 2006); Hailbronner, AuslR, § 46 AufenthG Rn. 2, (Stand Oktober 2010) Ausreise des Ausländers zu fördern. Hierzu zählt die Auferlegung von Handlungspflichten, z.B. die regelmäßige Vorsprache bei den zuständigen Behörden oder das Gebot zum Ansparen von finanziellen Mitteln für die Heimreise. Über die Verfügung zur Wohnsitznahme wird die Erreichbarkeit des Ausländers und die Einwirkungsmöglichkeit der Ausländerbehörde sichergestellt (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 88 zu § 46). Eine entsprechende Anordnung muss einen sinnvollen Bezug zu diesem zulässigen Verfahrenszweck aufweisen und darf nicht in Schikane mit strafähnlichem Charakter ausarten, auf eine unzulässige Beugung des Willens hinauslaufen oder den Betreffenden im Einzelfall unverhältnismäßig treffen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 11.3.2013 - 2 M 168/12 -, juris Rn. 6). In diesem Zusammenhang und unter diesen Voraussetzungen kann auch die Verpflichtung ausgesprochen werden, sich in eine bestimmte Unterkunft zu begeben (vgl. GK-AufenthG, a. a. O., Rn. 13; Hailbronner, a. a. O., Rn. 3; a. A.: Hofmann, AuslR, § 46 Rn.7), denn die in § 46 Abs. 1 AufenthG ausdrücklich genannte Wohnsitzauflage stellt keine abschließende Regelung dar, sondern bildet lediglich ein Beispiel („insbesondere“).

Die vom Antragsgegner verfügte nächtliche Aufenthaltsverpflichtung in seiner Unterkunft geht über diese nach § 46 Abs. 1 AufenthG zulässigen Maßnahmen hinaus. Sie erschöpft sich nicht in einer Wohnsitzauflage, der Zuweisung einer speziellen Unterkunft oder einer Meldeverpflichtung, sondern gibt dem Antragsteller positiv die Verpflichtung auf, sich zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort aufzuhalten. Damit weist sie einen freiheitsbeschränkenden Charakter auf, der von § 46 Abs. 1 AufenthG nicht gedeckt ist. Zur Durchführung der Überstellung in einen EU-Mitgliedstaat im Dublin-Verfahren sieht Art. 28 VO (EU) Nr. 604/2013 i. V. m. § 2 Abs. 15 AufenthG unter den dort genannten Voraussetzungen die Inhaftnahme des Ausländers vor. Der Antragsgegner ist gehalten, das dortige Verfahren zu betreiben, wenn er freiheitsentziehende Maßnahmen gegen den Antragsteller erwirken will. Für eine Freiheitsbeschränkung im Sinne eines „nächtlichen Hausarrests“ als milderes Mittel gegenüber einer Überstellungshaft als Freiheitsentziehung bietet § 46 Abs. 1 AufenthG keine Grundlage. Die Ausländerbehörde hat demgegenüber nach § 46 Abs. 1 AufenthG - über die ohnehin bestehende gesetzliche Anzeigepflicht des § 50 Abs. 4 AufenthG hinaus - die Möglichkeit, unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer aufzugeben, sich täglich (werktäglich) bei ihr zu melden und eine geplante Abwesenheit zuvor anzuzeigen. Auch auf diesem Wege ist die Erreichbarkeit des Ausländers in hinreichender Weise sichergestellt. Des weitergehenden Eingriffs durch Verpflichtung zum nächtlichen Aufenthalt in seiner Unterkunft bedarf es dazu ersichtlich nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes auf den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG und Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen, da die Beschwerde aus den vorstehenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Beiordnung beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 121 Abs. 1 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).