Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.03.2008, Az.: 1 LA 31/07
Baugenehmigung für einen vorwärtigen und rückwärtigen Anbau für ein 1973 genehmigtes Wohnhaus; Berücksichtigung des Planungskonzepts bei der Unwirksamkeit eines Bebauungsplanes im Zusammenhang mit der Prüfung des Sich-Einfügens nach § 34 Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB); Kriterien der Prüfung des Sich-Einfügens i.S.d. BauGB
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 03.03.2008
- Aktenzeichen
- 1 LA 31/07
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 13635
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2008:0303.1LA31.07.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Lüneburg - 16.03.2005 - AZ: 2 A 202/03
Rechtsgrundlage
- § 34 Abs. 1 BauGB
Fundstellen
- FStBW 2008, 506-508
- FStHe 2008, 591-593
- FStNds 2008, 343-345
Gründe
Die Kläger begehren eine Baugenehmigung für einen Vor- und einen rückwärtigen Anbau für ihr 1973 genehmigtes Wohnhaus Flurstraße 17 in C., das mit Baugenehmigung vom 13. März 2000 als Pensionsbetrieb genutzt wird.
Das Verwaltungsgericht hat ihre Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, das Vorhaben füge sich nach dem Maß der Nutzung nicht in die nähere Umgebung ein, die hier durch die Neue Straße (Westen) und die Rosenstraße (Norden) begrenzt werde, auf die andere Seite der Flurstraße hinüberreiche (Osten) und sich nach Süden bis zum Grundstück Flurstraße 3 erstrecke. Sie werde durch ältere eingeschossige Einfamilienhausbebauung mit ausgebautem Dachgeschoss und wenige neuere Bauten geprägt. Die Gebäude seien überwiegend straßenseitig orientiert und hätten Vorgärten unterschiedlicher Größe. Die Baukörper hielten großzügigen Abstand zur Grenze ein. Die rückwärtigen Grundstücksbereiche seien mit kleineren Nebengebäuden wie Schuppen und Gartenhäuschen, aber auch mit Garagen bestanden.
Mit dem zur Genehmigung gestellten Vor- und Anbau werde das Haus der Kläger den vorhandenen Rahmen hinsichtlich der überbauten Grundfläche, des Volumens des Baukörpers und des Umfangs der Wohneinheiten sprengen. Die Länge des Hauses betrage dann 28,53 m bei einer überbauten Grundfläche von 317 qm. Es rage mit einer Tiefe von bis zu 35,5 m in den hinteren Grundstückbereich hinein. Zwar reichten die Häuser Flurstraße 8, 10 und 16 auf der gegenüber liegenden Seite der Flurstraße vergleichbar weit nach hinten, hätten aber wesentlich größere Vorgärten und seien erheblich kleiner. Die versiegelte Fläche, die durch insgesamt 7 Stellplätze an der Straßenfront eingenommen werden solle, verstärke den Eindruck der Massigkeit des Bauvorhabens insgesamt. Weiter verstärkt werde dieser Eindruck durch die vollständige Ausschöpfung der zulässigen seitlichen Grenzabstände.
Die geplante Erweiterung werde bodenrechtlich beachtliche und ausgleichsbedürftige Spannungen hervorrufen, insbesondere eine unerwünschte Vorbildfunktion für die benachbarten Grundstücke entfalten. Eine Erweiterung sei an sich zwar grundsätzlich zulässig, aber nicht in der geplanten Größenordnung mit einer über 28 m hinausreichenden Länge und einer Grundflächenzahl von über 0,3.
Mit ihrem Zulassungsantrag machen die Kläger besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend. Sie weisen darauf hin, dass die Siedlungsentwicklung durch die vorhandene Bebauung nahezu abgeschlossen sei. Sie entspreche den Festsetzungen eines 1984 in Angriff genommenen, später aber "stecken gebliebenen" Bebauungsplanes (Nr. 49), mit denen auch das streitige Vorhaben in Einklang stehe. Davon abgesehen halte das Vorhaben den maßgeblichen Rahmen ein. Eine Bautiefe von mehr als 35 m werde auch auf der gegenüberliegenden Seite der Flurstraße erreicht (Nrn. 8, 10 und 16). Auch im Vorgartenbereich hielten die meisten Häuser nur einen "Mindestabstand" zur Straße.
Das Argument des Verwaltungsgerichts, dass die Massigkeit des Gebäudes bewältigungsbedürftige Spannungen auslöse, orientiere sich an städtebaulichen Allerweltsbegriffen und drohe, in eine gewisse Form von Beliebigkeit abzugleiten. Solange der Vorgarten keine städtebauliche Relevanz habe, könne er in die Beurteilung nicht mit einbezogen werden. Es stelle sich die Frage, ob der nicht zu Ende geführte Bebauungsplan, an dessen Entwurf sich die Bebauung orientiert habe, den Maßstab für die Zulässigkeit ergebe. Außerdem betrage die Grundflächenzahl für Wohngebiete nach § 17 Abs. 1 BauNVO im Normalfall ohnehin 0,4, was hier nicht erreicht werde. Ausgleichsbedürftige Spannungen könnten deshalb nicht ausgelöst werden.
Die Bestimmung der Umgebungssituation weise hier besondere Schwierigkeiten auf, weil diese nicht verlässlich abgegrenzt werden könne. Je weiter sie gefasst werde, desto mehr "Ausreißer" in der ansonsten homogenen Umgebung müssten einbezogen werden.
Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.
Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr.1 VwGO liegen nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Beschl. v. 31.7.1998 - 1 L 2696/98 -, NVwZ 1999, 431) erst dann vor, wenn für das vom Zulassungsantragsteller favorisierte Entscheidungsergebnis die "besseren Gründe" sprechen, das heißt wenn ein Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen. Dabei dürfen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2. Kam. d. 1. Sen., Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458) die Anforderungen an die Darlegungslast der Beteiligten nicht überspannt werden. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen Urteils sind schon dann anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
Das ist den Klägern nicht gelungen.
Das Verwaltungsgericht hat den "stecken gebliebenen" Bebauungsplanentwurf zu Recht nicht zur Beurteilung des Vorhabens herangezogen. Auch bei Unwirksamkeit eines Bebauungsplanes ist bei der Prüfung des Sich-Einfügens nach § 34 Abs. 1 BauGB nicht auf dessen Planungskonzept abzustellen, sondern allein auf das tatsächlich in der maßgeblichen Umgebung prägend Vorhandene (BVerwG, Beschl. v. 10.1.1994 - 4 B 158.93 -, BRS 56 Nr. 66; vgl. auch Beschl. v. 30.1.1997 - 4 B 172.96 -, NVwZ-RR 1997, 519). Das gilt umso mehr, wenn das Planverfahren nicht einmal abgeschlossen worden ist; anderenfalls käme es auch darauf an, aus welchen Gründen es nicht zu einem Abschluss gekommen ist.
Das Verwaltungsgericht hat auch die maßgebliche nähere Umgebung nachvollziehbar umrissen. Dabei kann offen bleiben, ob noch weiter hätte differenziert werden können, weil der Umkreis der zu beachtenden vorhandenen Bebauung bei der Bestimmung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung in der Regel enger zu begrenzen sein wird als bei der Ermittlung des Gebietscharakters (BVerwG, Urt. v. 19.9.1969 - IV C 18.67 -, DVBl. 1970, 62). Dass das Verwaltungsgericht die Bautiefe auf der anderen Seite der Flurstraße (Nrn. 8, 10 und 16) mit in die Betrachtung einbezogen hat, kommt den Klägern jedenfalls nur zugute. Die Einbeziehung weiterer Teile des Wohnquartiers liegt nicht nahe. Im Übrigen wäre dann auch zu berücksichtigen, dass die Verhältnisse in den anderen Straßengevierten nicht gleich gelagert sind. So sind z.B. die Grundstücke zwischen Ottostraße und Neuer Straße einerseits und Flurstraße und Overbeckstraße andererseits deutlich weniger tief als die Grundstücke zwischen Neuer Straße und Flurstraße, also dem hier maßgeblichen Bereich.
Das Verwaltungsgericht hat auch zu Recht festgestellt, dass das Vorhaben den vorhandenen Rahmen überschreitet. Maßgeblich für das Einfügen in die Eigenart der näheren Umgebung nach dem Maß der baulichen Nutzung ist die von außen wahrnehmbare Erscheinung eines Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebungsbebauung; vorrangig ist auf diejenigen Maßkriterien abzustellen, in denen die prägende Wirkung besonders zum Ausdruck kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.3.1994 - 4 C 18.92 -, BVerwGE 95, 277 = NVwZ 1994, 1006; Beschl. v. 21.6.1996 - 4 B 84.96 -, NVwZ-RR 1997, 520; Beschl. v. 26.7.2006 - 4 B 55.06 -, BauR 2007, 514; Beschl. v. 21.6.2007 - 4 B 8.07 -, BauR 2007, 1691). Als prägend können die flächenmäßige Ausdehnung, die Geschosszahl und die Höhe der den Rahmen bildenden Gebäude angesehen werden (BVerwG, Beschl. v. 21.6.2007, a.a.O.), aber auch das Verhältnis zur umgebenden Freifläche (BVerwG, Urt. v. 23.3.1994, a.a.O.). Hier ist nicht streitig, dass die geplanten Anbauten das vorhandene Gebäude auf eine Weise vergrößern sollen, die in der (maßgeblichen) vorhandenen Umgebung kein Vorbild hat. Auch die Darlegungen des Verwaltungsgerichts zur Bautiefe, zur Reduzierung des Vorgartenbereichs und zur Ausnützung der Abstandsregelungen verdeutlichen, dass sich das Vorhaben auf eine besonders massive Weise "lang und breit macht".
Richtig ist, dass die Überschreitung eines vorhandenen Rahmens noch nicht für sich genommen zur Unzulässigkeit des Vorhabens führt, sondern nur dann, wenn es bewältigungsbedürftige Spannungen auslöst. Wegen des Maßes der baulichen Nutzungen können Spannungen nur auftreten, wenn das Vorhaben unabhängig von seiner Nutzungsart den vorhandenen Rahmen in unangemessener Weise überschreitet (BVerwG, Urt. v. 15.12.1994 - 4 C 19.93 -, NVwZ 1995, 897). Das hat das Bundesverwaltungsgericht z.B. für einen Fall entschieden, in dem auf dem Vorhabengrundstück die Baumasse unter Verlust von Freifläche im Grenzbereich massiv anwuchs und zu einer sowohl in der Höhe als auch der Tiefe erheblichen Nachverdichtung geführt hätte (Beschl. v. 21.6.2007, a.a.O.). Zwar steht hier keine Veränderung der Höhe in Rede, aber ein massives Anwachsen in der Grundfläche. Das Verwaltungsgericht hat durch seine Darlegungen zur Bautiefe, zur Reduzierung des Vorgartenbereichs und zur Ausnützung der Abstandsregelungen die Unangemessenheit der hier vorgesehenen Nachverdichtung zutreffend zum Ausdruck gebracht und zu Recht auch auf die sich aufdrängende Vorbildwirkung hingewiesen.
Das Auftreten von Spannungen kann nicht allein deshalb verneint werden, weil die Obergrenze des Maßes der baulichen Nutzung nach § 17 Abs. 1 BauNVO in Bezug auf die Grundflächenzahl nicht überschritten wird. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. Urt. v. 15.12.1994, a.a.O.) können die Maßbestimmungsfaktoren der Baunutzungsverordnung bei der Anwendung des § 34 Abs. 1 BauGB nur als Auslegungshilfe berücksichtigt werden; in erster Linie ist demgegenüber auf solche Maße abzustellen, die nach außen wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die in der näheren Umgebung vorhandenen baulichen Anlagen leicht einschätzen lassen. Das liegt auch darin begründet, dass es im unbeplanten Innenbereich für das Maß der zulässigen baulichen Nutzung nicht auf den Verlauf der Grundstücksgrenzen ankommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.6.1970 - IV C 73.68 -, BRS 23 Nr. 45; Beschl. v. 21.11.1980 - 4 B 142.80 -, BRS 36 Nr. 65; Beschl. v. 28.9.1988 - 4 B 175.88 -, NVwZ 1989, 354). Kommt eine gleichwohl auf die Grundstücksgrenzen abstellende Berechnung der Grundflächenzahl zu einem dem § 17 Abs. 1 BauNVO nicht widerstreitenden Ergebnis, ist dies deshalb nicht geeignet, das zu Spannungen führende massive "Herausfallen" der Kubatur des Gebäudes aus dem maßgeblichen Rahmen zu überspielen.
Nach alledem kann auch von einer besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeit der Sache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht ausgegangen werden.