Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 03.02.2005, Az.: 14 U 116/04
Abweichen eines Gerichts bei einer reinen Wertungsfrage im Urteil von einer zuvor mitgeteilten, naturgemäß vorläufigen Einschätzung; Verrichtung vorübergehend betrieblicher Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte; Verletzung eines Arbeitnehmers eines anderen Betriebs bei der Durchführung von Ladearbeiten mit einem Gabelstapler; Feststellung einer Schadensersatzforderung im Insolvenzverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 03.02.2005
- Aktenzeichen
- 14 U 116/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 11103
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2005:0203.14U116.04.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 02.04.2004 - AZ: 16 O 768/01
Rechtsgrundlagen
- § 139 Abs. 2 ZPO
- § 106 Abs. 3 SGB VII
- § 823 BGB
- § 831 BGB
Amtlicher Leitsatz
Es stellt keine gemäß § 139 Abs. 2 ZPO zu vermeidende Überraschungsentscheidung dar, wenn das Gericht bei einer reinen Wertungsfrage wie der Gewichtung eines Mitverschuldens im Urteil von einer zuvor mitgeteilten, naturgemäß vorläufigen Einschätzung abweicht.
Verletzt ein Arbeitnehmer bei der Durchführung von Ladearbeiten mit einem Gabelstapler den Arbeitnehmer eines anderen Betriebs, der sich im selben Lager aufhält, dort aber nur aus privatem Interesse eine Maschine besichtigt, verrichten die beiden nicht "vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte" im Sinne des § 106 Abs. 3 SGB VII.
In dem Rechtsstreit
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2005
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufungen des Klägers und des Beklagten zu 2 gegen das am 2. April 2004 verkündete Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Hannover werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger 3/4 und der Beklagte zu 2 1/4.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung der jeweiligen Gegenseite durch Sicherheitsleistung in Höhe von jeweils 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweilige Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert für das Berufungsverfahren: 40.903,36 EUR.
Gründe
(§ 540 Abs. 1 ZPO)
I.
Die Parteien streiten um Feststellung einer Schadensersatzforderung im Insolvenzverfahren betreffend die Insolvenzschuldnerin, die M. ... GmbH in H.. Dem liegt ein Unfall zugrunde, bei welchem der Kläger durch den früheren Beklagten zu 1, A. R., mit einem Gabelstapler schwer verletzt worden ist. Wegen der näheren Sachdarstellung wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
Die Kammer hat der Klage nur teilweise stattgegeben, weil sie auf Seiten des Klägers einen erheblichen Mitverschuldensanteil angenommen und diesen mit 2/3 bewertet hat. Wegen der Begründung wird ebenfalls auf die Ausführungen des landgerichtlichen Urteils verwiesen.
Hiergegen richten sich die Berufungen beider Parteien, die ihre jeweiligen erstinstanzlichen Prozessziele weiterverfolgen.
Der Kläger macht geltend, bei dem angefochtenen Urteil handele es sich um eine Überraschungsentscheidung, weil die Kammer bei vorherigen Ankündigungen stets die Auffassung vertreten habe, das beiderseitige Verschulden sei gleich zu gewichten. Zudem habe das Landgericht das Ergebnis der Beweisaufnahme unzutreffend gewürdigt, weil nach der Aussage insbesondere des Zeugen W. davon auszugehen sei, dass der Kläger sich in der Halle habe frei bewegen dürfen. Am Unfalltage habe der Kläger die Halle zudem sogar betreten müssen, um nämlich seine Ladepapiere zu übergeben. Der frühere Beklagte zu 1 habe grob fahrlässig gehandelt und die Insolvenzschuldnerin ihn unzureichend überwacht.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteiles festzustellen, dass ihm im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eine Insolvenzforderung in Höhe von weiteren 30.677,52 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 25. Juli 2001 zustehe, sowie die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage insgesamt abzuweisen,
sowie die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Das Landgericht habe zu einer Haftung der Insolvenzschuldnerin nicht gelangen dürfen, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zwingend davon auszugehen sei, dass der Kläger weder Anlass noch Berechtigung gehabt habe, die Halle zu betreten. Die Insolvenzschuldnerin habe auch hinreichend dafür Sorge getragen, dass betriebsfremde Personen die Halle nicht betreten, für deren Zuwiderhandlungen habe sie nicht zu haften. Zudem sei rechtlich von einer Haftungsprivilegierung der Insolvenzschuldnerin auszugehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
II.
Beide Berufungen erweisen sich als unbegründet. Der Senat teilt die Auffassung der Kammer, dass sich sowohl hinsichtlich des Klägers als auch der Insolvenzschuldnerin ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalles feststellen lässt und dass dasjenige des Klägers das der Insolvenzschuldnerin überwiegt. Die Einwendungen der Berufungen hiergegen greifen nicht durch, wobei zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Beschluss des Senats vom 10. Juni 2004 (Bl. 278 ff. d. A.) verwiesen wird. Ergänzend ist Folgendes festzustellen:
1.
Berufung des Klägers
Soweit der Kläger die Entscheidung des Landgerichts als "überraschend" (und damit verfahrensfehlerhaft) rügt, greift dies nicht durch. Das Landgericht hat sein Urteil nicht etwa auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat (§ 139 Abs. 2 ZPO), sondern allenfalls eine offene Wertungsfrage (hier: Gewichtung des Mitverschuldens) anders beurteilt, als möglicherweise vorher erörtert. Das ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden, denn das Verbot von Überraschungsentscheidungen dient lediglich dem Zweck, den Parteien denjenigen Vortrag zu ermöglichen, den ein vorher übersehener Gesichtspunkt erfordert. Die endgültige rechtliche Bewertung und Gewichtung des Mitverschuldens (welches von beiden Parteien schon im ersten Rechtszug gesehen und thematisiert worden ist) musste (und durfte) das Landgericht nicht schon vor Erlass des Urteils unabänderlich vornehmen und mitteilen.
Die Berufung des Klägers vermag auch hinsichtlich der Tatsachenfeststellung des Landgerichts keine konkreten Anhaltspunkte aufzuzeigen, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen, § 529 Abs. 1 ZPO. Es ist nicht entscheidend, ob und wie viele Schilder den Zugang zur Halle verboten haben und ob der Kläger, früherer Übung entsprechend, sich dessen ungeachtet für befugt halten durfte, die Halle zum Übergeben von Ladepapieren zu betreten. Jedenfalls durfte, was zwischen den Parteien nicht streitig ist, die Halle durch betriebsfremde Personen grundsätzlich nicht betreten werden, was dem Kläger - als generelle Regelung - auch bekannt gewesen ist. An dem Tag aber, als sich der Unfall abgespielt hat, hat der Kläger - wovon das Landgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nachvollziehbarerweise ausgegangen ist - seine Ladepapiere dem Zeugen (und früheren Beklagten zu 1) R. außerhalb der Halle ausgehändigt und diese Halle erst danach betreten, um sich aus privatem Interesse eine dort abgestellte (mit der Tätigkeit des Klägers in keinem Zusammenhang stehende) Maschine zu betrachten. Anhaltspunkte dafür, die Richtigkeit dieser Erkenntnis des Landgerichtes in Zweifel zu ziehen, sind nicht ersichtlich. Im Gegenteil hat der Kläger, als Geschädigter im Ermittlungsverfahren vernommen, Gleichartiges bekundet. Angesichts dieser Ausgangslage (überflüssiges Betreten der Halle ohne billigenswerten Grund und in Kenntnis eines generell bestehenden Betretungsverbots) ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass den Kläger ein eigener, erheblicher Mitverschuldensvorwurf trifft, zumal ihm als routinierten Lastwagenfahrer die Gefährlichkeit einer von Gabelstaplern befahrenen Lagerhalle bekannt gewesen ist.
Selbst wenn mit der Auffassung des Klägers davon auszugehen ist, dass die Insolvenzschuldnerin nicht nur für ein (eigenes) Organisationsverschulden (welches übrigens nach § 823 BGB zuzurechnen ist und nicht, wie vom Landgericht ausgeführt, nach § 831 BGB) zu haften hat, sondern auch für ein Auswahl bzw. Überwachungsverschulden nach § 831 BGB, worauf der Senat in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat, rechtfertigt dies die vom Landgericht gefundene Haftungsverteilung im Ergebnis gleichwohl. Zwar hat der Beklagte auf den Hinweis des Senats hin nichts tragfähiges dazu vortragen können, was ihn von einer Haftung gemäß § 831 BGB entlasten könnte (weder zur Auswahl noch gar zur Überwachung des Unfallfahrers durch die Geschäftsführung der Insolvenzschuldnerin hat der Insolvenzverwalter konkretes vortragen können). Auch hinsichtlich des (nach § 831 BGB ohnehin nur vermuteten) Verschuldens geht der Vorwurf an die Insolvenzschuldnerin jedoch - wie beim Organisationsverschulden - dahin, die Gefährdung Fremder durch organisatorische, auswählende oder überwachende Maßnahmen nicht hinreichend eingegrenzt zu haben, wohingegen dem Kläger im konkreten Fall vorzuwerfen ist, ohne jeglichen nachvollziehbaren Grund die ersichtlich gefahrenträchtige Lagerhalle für eine private "Besichtigung" betreten zu haben.
2.
Berufung des Beklagten
Auch die Berufung des Beklagten erweist sich als unbegründet, weil entgegen seiner Auffassung nicht davon auszugehen ist, dass die Insolvenzschuldnerin (deren Haftpflichtversicherung auf den Schmerzensgeldanspruch bereits 10.000 DM gezahlt hat) für den Schaden nicht einzustehen habe.
So ist die Insolvenzschuldnerin insbesondere nicht nach dem Sozialgesetzbuch haftungsprivilegiert unter dem Gesichtspunkt, dass der Geschädigte und der Unfallfahrer auf einer gemeinsamen Betriebsstätte zusammengearbeitet hätten. Von einem Zusammenwirken beider Unfallbeteiligter zum Zeitpunkt des Unfalles kann schon deswegen nicht ausgegangen werden, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt aus privatem Interesse eine in der Halle abgestellte Maschine besichtigte, der Zeuge R. hingegen mit dem Gabelstapler anderweitige Arbeiten ausführte. Eine Haftungsprivilegierung gemäß § 106 Abs. 3 SGB VII kommt nur in Betracht, wenn sich die Arbeiten der Mitarbeiter verschiedener Betriebe aufeinander beziehen, sachlich ergänzen, fördern oder unterstützen (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 8. April 2003, NZV 2003, 374 f.).
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist auch weder davon auszugehen, dass ein Organisationsverschulden nicht vorliegt, noch das dieses jedenfalls nicht ursächlich geworden sei. Abgesehen davon, dass die Insolvenzschuldnerin dessen ungeachtet ohnehin auch der Vorwurf eines vermuteten Auswahl und Überwachungsverschuldens trifft, wie bereits ausgeführt worden ist, spielt es keine ausschlaggebende Rolle, ob sich der Unfall in der Nähe desjenigen Tores ereignet hat, bei dem sich auch die früheren Büroräumlichkeiten der Insolvenzschuldnerin befunden haben oder aber bei einem zweiten, etwa 100 m davon entfernt liegenden Tor. Selbst wenn, wie der Beklagte ausführt, Probleme mit die Halle betretenden Lieferfahrern allenfalls bei dem kleineren Tor in der Nähe der Büroräumlichkeiten zu verzeichnen gewesen sein sollten, rechtfertigt dies den vom Landgericht nach umfassender Beweisaufnahme festgestellten Vorwurf der unzureichenden Absicherung der Halle gegenüber unbefugten Besuchern. Auch wenn nämlich der Kläger die Halle durch das kleinere Tor in der Nähe der Büroräumlichkeiten betreten hätte und dann innerhalb der Halle zum späteren Unfallort gegangen wäre, wäre die von der Kammer angenommene Haftungsquote unverändert vertretbar. Dass der Kläger in der Halle generell nichts zu suchen hatte und eine Besichtigung der abgestellten Maschine kein Anlass gewesen ist, die Halle berechtigt zu betreten, hat das Landgericht ja ausgeführt und auch zutreffend gewichtet.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist auch nicht davon auszugehen, dass ein der Insolvenzschuldnerin zuzurechnendes Verschulden gar nicht ursächlich geworden sei, weil der Kläger sich auch der konkreten Anweisung des Zeugen R., sich zu seinem Lkw zu begeben, nicht gefolgt sei. Die Bekundung des als Zeugen vernommenen früheren Beklagten zu 1 ist schon nicht dahin zu verstehen, dass er den Kläger angewiesen habe, sich zu seinem Lkw zu begeben, damit er nicht in der Halle in Gefahr gerate. Vielmehr hat der Zeuge lediglich bekundet, der Kläger "solle zu seinem Auto gehen", damit der Zeuge "ihm die Ware holen und bringen" könne. Der Zeuge hat mithin gar nicht bekundet (Bl. 190 d. A.), den Kläger wegen der drohenden Gefahren aus der Halle verwiesen zu haben, sondern nur, ihm das weitere Vorgehen betreffend den Ladevorgang in Aussicht gestellt zu haben.
Darüber hinaus kann jedenfalls nicht ohne weiteres angenommen werden, dass es zu dem Unfall auch dann gekommen wäre, wenn die Insolvenzschuldnerin den bei ihr angestellten Gabelstaplerfahrer R. als Verrichtungsgehilfen den Erfordernissen des § 831 BGB entsprechend angeleitet und (gelegentlich) überwacht hätte, insbesondere was die Aufmerksamkeit bei Rückwärtsfahrten angeht.
3.
Die Kostenentscheidung folgt §§ 92 Abs. 2, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 108 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 543 ZPO.
Streitwertbeschluss:
Streitwert für das Berufungsverfahren: 40.903,36 EUR.