Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.07.1989, Az.: 4 A 200/88

Notwendiger Lebensunterhalt

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.07.1989
Aktenzeichen
4 A 200/88
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1989, 12786
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1989:0712.4A200.88.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade 29.07.1988 - 4 A 265/87
nachfolgend
BVerwG - 20.02.1990 - AZ: BVerwG 5 B 121.89
BVerwG - 14.03.1991 - AZ: BVerwG 5 C 16/90

Fundstelle

  • DÖV 1990, 81 (amtl. Leitsatz)

Amtlicher Leitsatz

1. Ein Fahrrad zählt jedenfalls dann zum notwendigen Lebensunterhalt eines Schulkindes, wenn es in einem Ort ohne Möglichkeiten zu sportlichen oder kulturellen Aktivitäten lebt und es zur Erreichung eines Ortes mit solchen Möglichkeiten auf die Benutzung eines Fahrrades angewiesen ist (hier: Entfernung vom Wohnort zum Mittelpunktsort 3 km).

2. Der Senat hält daran fest, daß die "Dichte" der Versorgung mit bestimmten Gütern in den Bevölkerungsgruppen mit niedrigerem Einkommen ein wichtiges Indiz für die Bestimmung des notwendigen Lebensunterhalts ist (a.A. BVerwG, Urt. v. 3. 11. 1988, FEVS 38, 89).

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer Lüneburg - vom 29. Juli 1988 geändert.

Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine Beihilfe für die Beschaffung eines gebrauchten Fahrrades zu gewähren.

Die Bescheide des Beklagten vom 11. Mai 1987 und 22. Juli 1987 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 250,-- DM abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Den Antrag der im April 1976 geborenen Klägerin, ihr eine Beihilfe für ein Fahrrad zu gewähren, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11. Mai 1987 ab, der zugleich Beihilfen für andere Bedürfnisse betraf. Den Widerspruch wies er mit Bescheid vom 22. Juli 1987 zurück.

2

Mit seiner Klage vor dem Verwaltungsgericht hat der Stiefvater der Klägerin die bereits im Verwaltungsverfahren behandelten Begehren weiterverfolgt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat er die Klage zurückgenommen, soweit sich die Beteiligten nicht um eine Beihilfe für ein Fahrrad gestritten haben, und an seiner Stelle ist die Klägerin in das Verfahren eingetreten. Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluß vom 5. August 1988 das Verfahren, soweit der Stiefvater der Klägerin die Klage zurückgenommen hat, eingestellt und diesem die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens auferlegt. Mit Urteil vom 29. Juli 1988 hat es die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Beklagte habe die beantragte Beihilfe zu Recht nicht gewährt, weil die Klägerin das Fahrrad ihrer Mutter benutzen könne. Das Urteil ist der Klägerin am 9. September 1988 zugestellt worden.

3

Am 21. September 1988 hat die Klägerin für die Berufung um Prozeßkostenhilfe nachgesucht, die ihr der Senat mit Beschluß vom 21. Dezember 1988 bewilligt hat. Am 5. Januar 1989 hat die Klägerin Berufung eingelegt und wegen der Versäumung der Berufungsfrist um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gebeten.

4

Die Klägerin macht geltend: Sie sei auf ihr eigenes Fahrrad angewiesen. Kulturellen und sportlichen Aktivitäten könne sie nur in Tostedt, einem Ort, der von ihrem Wohnort etwa 3 km entfernt sei, nachgehen. Dort habe sie auch seit 1988 Konfirmandenunterricht. Wegen ihres Gesundheitszustandes (Muskelverspannungen, Bluthochdruck mit Schwindelzuständen) sei es angezeigt, daß sie Sport treibe; regelmäßiges Fahrradfahren stabilisiere auch ihren Kreislauf. Das Fahrrad ihrer Mutter dürfe sie nicht benutzen, weil ihre Mutter behinderungsbedingt auf ein Sportfahrrad mit sechs Gängen angewiesen sei, das ein Kind nicht pfleglich genug behandele. Das Fahrrad ihres Bruders (ein 24er Rad) sei für sie zu klein und deshalb ungeeignet, und ihr Stiefvater benötige sein Fahrrad, ein 28er Herrenfahrrad, selbst. Die Klägerin beantragt,

5

ihr wegen Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und den Beklagten zu verpflichten, ihr eine Beihilfe für die Beschaffung eines Fahrrades zu bewilligen.

6

Der Beklagte beantragt,

7

die Klage abzuweisen.

8

Er verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichtes und meint ergänzend: Auch auf die "Dichte der Versorgung" der Bevölkerung mit Fahrrädern dürfe nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht abgestellt werden; nach § 3 Abs. 1 BSHG ("Art, Form und Maß der Sozialhilfe richten sich nach den Besonderheiten des Einzelfalles") sei es nicht erforderlich, eine Beihilfe für ein Fahrrad zu gewähren, weil die Klägerin zu den von ihr geschilderten Zwecken auch die in ihrer Familie bereits vorhandenen Fahrräder benutzen könne.

9

Der Senat hat darüber, wieviele Schulkinder ein Fahrrad besitzen, Unterlagen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs sowie der Bundesanstalt für das Straßenwesen beigezogen.

10

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

11

Die Berufung ist zulässig. Der Klägerin ist gemäß § 60 VwGO wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie innerhalb der Berufungsfrist beantragt hat, ihr Prozeßkostenhilfe zu bewilligen, und nach Bewilligung innerhalb der Frist des § 60 VwGO um Wiedereinsetzung nachgesucht und Berufung eingelegt hat. Die Berufung ist auch begründet.

12

Der Beklagte ist gemäß §§ 11, 12 Abs. 1 Satz 1 BSHG verpflichtet, der Klägerin die begehrte Beihilfe zu gewähren. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senates orientiert sich der Begriff des notwendigen Lebensunterhaltes an dem in § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG festgelegten Grundsatz, daß dem Hilfesuchenden die Führung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens ermöglicht werden soll. Dies ist nicht schon dann gewährleistet, wenn das physiologisch Notwendige vorhanden ist; es ist vielmehr zugleich auf die jeweiligen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung, insbesondere der Bürger mit niedrigem Einkommen, abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22. 4. 1970, BVerwGE 35, 178 [BVerwG 22.04.1970 - V C 98/69] = FEVS 17, 241). Dem Hilfesuchenden soll es ermöglicht werden, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben (vgl. BVerwG, Urt. v. 11. 11. 1970, BVerwGE 36, 256 [BVerwG 11.11.1970 - V C 32/70] = FEVS 18, 86). Der Senat vermag sich nicht dem Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes (Urt. v. 3. 11. 1988, FEVS 38, 89) anzuschließen, er habe bei den erstgenannten Urteilen "unter Außerachtlassung der den Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhalte Sinn und Tragweite von aus ihrem Zusammenhang gelösten Ausführungen...verkannt". Mag das Bundesverwaltungsgericht in den genannten Urteilen auch bestimmte Konstellationen beurteilt haben, so hat es doch über die Beurteilung des Einzelfalls hinausgehende Überlegungen niedergelegt (die der Senat nach wie vor für richtig hält), und es hat diese Überlegungen zudem noch in seinem Urteil vom 12. April 1984 (BVerwGE 69, 146 = FEVS 33, 441) erneut bekräftigt. In der letztgenannten Entscheidung, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 3. November 1988 nicht erwähnt hat, hat es nämlich nochmals ausgeführt, für die Bestimmung des "notwendigen Lebensunterhaltes" i.S. von § 12 BSHG komme es auf die herrschenden Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung an. Dabei hat es diese Auffassung noch durch die Wendung verstärkt, der "allgemeine Lebenszuschnitt" sei ein Bezugspunkt für die Leistungen der Sozialhilfe, von dem die Träger der Sozialhilfe nicht abweichen dürften. Auch diese Überlegungen, denen sich der Senat und andere Oberverwaltungsgerichte (vgl. Giese/Rademacker, Ausgewählte Fragen des Sozialhilferechts, NV VBl 1989, 163 m.w.Nachw.) angeschlossen haben, hält der Senat nach wie vor für zutreffend.

13

Für die Beantwortung der Frage, ob ein Gegenstand zum notwendigen Lebensunterhalt gehört, ist es also von erheblicher Bedeutung, ob Personen mit niedrigem Einkommen häufig oder gar durchweg mit solchen Gegenständen ausgestattet sind. Der Senat hebt an dieser Stelle hervor, daß er dabei in ständiger Rechtsprechung allein auf die Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen abgestellt hat, so daß der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes (Urt. v. 3. 11. 1988, aaO), der "Begriff 'Nichthilfeempfänger' umfasse einen überaus unbestimmten Kreis von Personen, deren Einkommen "zwischen dem durchschnittlichen Nettoarbeitseinkommen unterer Lohngruppen (vgl. § 22 Abs. 3 Satz 2 BSHG, § 4 Regelsatzverordnung) und dem Einkommen eines Millionärs" liege, dieser Rechtsprechung nicht entgegensteht. Die "Dichte" der Versorgung mit Gütern des Bedarfs ist als Indiz für die in der Bevölkerung herrschende Auffassung über deren Notwendigkeit sowie über die diesbezüglichen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen anzusehen. Nur dieser Anknüpfungspunkt ist geeignet, den Strukturprinzipien des Bundessozialhilfegesetzes gerecht zu werden. Die Besonderheiten des Einzelfalles bzw. dieser Begriff lassen es nicht allein und durchweg zu, den Begriff des "notwendigen Lebensunterhaltes" sachgerecht auszulegen. Was zum notwendigen Lebensunterhalt rechnet, steht nach allgemeiner Auffassung (vgl. BVerwG, Urt. v. 30. 11. 1966, BVerwGE 25, 357 = FEVS 14, 243; Schulte/Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, 2. Aufl., S. 11 f.) nicht ein für allemal fest, sondern hängt von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Nur die Betrachtung der Verhältnisse in der Gesellschaft führt dazu, daß auch der Mangel an höher bewerteten Gütern erfaßt wird, deren Besitz in der Gesellschaft "unabdingbar" geworden ist. Die Auslegung des Begriffes des "notwendigen Lebensunterhalts" hat keine soziale Adäquanz mehr, wenn sie auf einem bestimmten Niveau festgehalten wird, obwohl sich das Verhalten der Verbraucher grundlegend geändert hat (vgl. Galperin, Stand und Blockade der "Warenkorb-Reform", NDV 1983, 118). Da sich der Begriff des "notwendigen Lebensunterhaltes" nicht ohne Bezug zu den Verhältnissen der Gesellschaft bestimmen läßt, muß also auch auf die "Dichte" der Versorgung mit Verbrauchs- und anderen Gütern abgestellt werden. Jeder andere Ansatz führt zur Beliebigkeit dieser Begriffsbestimmung (vgl. Trenk-Hinterberger, Würde des Menschen und Sozialhilfe - Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, zu § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG, ZfSH 1980, 46).

14

Allerdings ist mit der Bestimmung der "Versorgungsdichte" der "notwendige Lebensunterhalt" i.S. von § 12 BSHG nicht bereits abschließend beschrieben. Es läge ein Mißverständnis vor, wenn die Rechtsprechung des Senates dahin verstanden würde, es komme nur auf die "Dichte der Ausstattung" der Haushalte mit einem Gegenstand des Bedarfs an. Der Senat hat vielmehr in ständiger Rechtsprechung angenommen, daß ein bestimmter Gegenstand trotz einer hohen "Versorgungsdichte" dann nicht zum "notwendigen Lebensunterhalt" rechnet, wenn er nur eine Annehmlichkeit darstellt, etwa dann, wenn der Hilfeempfänger auf den Gegenstand nicht angewiesen ist, weil er einen anderen für denselben Zweck verwenden kann und ihm dies auch zuzumuten ist, weil dessen Gebrauch beispielsweise nur geringen zeitlichen und körperlichen (Mehr-)Aufwand erfordert. Insoweit hat der Senat in ständiger Rechtsprechung bedacht, daß "es ... nicht Aufgabe der Sozialhilfe" ist, "eine höchstmögliche Ausweitung der Hilfen zu gewährleisten" (vgl. BVerwG, Urt. v. 26. 1. 1966, BVerwGE 23, 149 = FEVS 14, 81). In ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urt. v. 8. 3. 1989 - 4 VG A 121/87 -) hat der Senat zudem bei der Bestimmung des "notwendigen Lebensunterhaltes" § 3 Abs. 1 BSHG angewandt und (aaO) beispielsweise ausgeführt, für einen Hilfesuchenden sei eine eigene Waschmaschine dann nicht notwendig, wenn er in einem Mehrfamilienhaus lebe, in dem der Vermieter eine Gemeinschaftswaschanlage eingerichtet habe, und es dem Hilfesuchenden zuzumuten sei, diese zu benutzen. Jedoch ist nur dann auf § 3 Abs. 1 BSHG einzugehen, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles dazu Anlaß geben. Geht es darum, (sozial-)typische Sachverhalte zu betrachten, und weicht der vom Gericht zu beurteilende Fall nicht von einer typischen Fallkonstellation ab, so hilft § 3 Abs. 1 BSHG nicht weiter, also etwa dann, wenn zwischen dem Haushalt eines Hilfeempfängers und den Haushalten der Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen keine entscheidungserheblichen Unterschiede bestehen. Dementsprechend wird in dem "Statistikmodell", das in Zukunft der Bemessung der Regelsätze zugrunde liegen soll, auf das typische Verbraucherverhalten der Referenzgruppe abgestellt.

15

Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die begehrte Hilfe zu gewähren. Die vom Senat beigezogenen Unterlagen zeigen, daß Schulkinder in der Bundesrepublik Deutschland durchweg mit Fahrrädern ausgestattet sind. Anhaltspunkte dafür, daß die Verhältnisse im Bereich des Beklagten anders liegen könnten, sind nicht ersichtlich; solche Anhaltspunkte hat der Beklagte auch nicht vorgetragen. Daraus folgt, daß auch im Bereich des Beklagten Schulkinder durchweg Fahrräder haben, also auch Kinder, deren Eltern ein niedriges Einkommen beziehen. Die "Dichte der Versorgung" spricht also dafür, daß nach der Anschauung der Bevölkerungsgruppe mit niedrigem Einkommen die Ausstattung eines Schulkindes mit einem Fahrrad zum notwendigen Lebensunterhalt rechnet.

16

Ein Fahrrad ist für Kinder dieses Alters auch nicht nur "Annehmlichkeit"; vielmehr sind Schulkinder - jedenfalls wenn sie in Regionen wohnen, in denen öffentliche Nahverkehrsmittel selten fahren - darauf angewiesen, ein Fahrrad zu benutzen (a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 19. 8. 1981 - 8 A 1671/80; Beschl. v. 17. 10. 1988, FEVS 38, 94). So setzen auch die "Rahmenrichtlinien für Verkehrserziehung im Lande Niedersachsen" des Niedersächsischen Kultusministers voraus, daß bereits Kinder im Grundschulalter ein Fahrrad benutzen. Dort ist ausgeführt: Während der Grundschulzeit soll der Schüler außerdem lernen, sich zumindest im Nahbereich der Schule und seiner Wohnung verkehrssicher zu bewegen, und auch dort, wo er sich während seiner Freizeit häufiger aufhält. Er wird während dieser Zeit nicht nur als Fußgänger und Mitfahrer im privaten Fahrzeug, sondern auch in öffentlichen Verkehrsmitteln und als Radfahrer am Verkehr teilnehmen. Bis zum Verlassen der Grundschule sollte er daher nicht nur als Fußgänger, sondern auch als Radfahrer gelernt haben, sich selbständig dort sicher zu bewegen, wo er die Verkehrsverhältnisse kennt und sie bewältigen kann.

17

Demzufolge geht auch die Verkehrsplanung davon aus, Kinder ab dem Grundschulalter benutzten Fahrräder fast durchweg, zumal ihnen in diesem Alter keine anderen Möglichkeiten zur Verfügung stünden, und das Fahrrad gestatte es dem Kind erstmals, den Radius seiner Aktionen erheblich auszudehnen (vgl. Forschungsberichte der Bundesanstalt für Straßenwesen - Bereich Unfallforschung, Zur Bedeutung von Verkehrsraumkategorien für Verkehrssicherheitsempfehlungen zum Radfahren von Kindern). Darüber hinaus ist das Fahrrad für Kinder in diesem Alter nicht nur Transportmittel, sondern auch Sportgerät und Spielzeug, das dazu dient, sowohl die körperlichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln als auch die Umwelt zu erkunden und die Persönlichkeit zu bilden.

18

§ 3 Abs. 1 BSHG steht der Gewährung der Beihilfe nicht entgegen. Im Gegenteil, die Person der Klägerin, die Art ihres Bedarfes und die örtlichen Verhältnisse sprechen dafür, daß ihr diese Beihilfe gewährt wird. Die Klägerin lebt in einem Ort, in dem nach dem Vortrag ihrer gesetzlichen Vertreterin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (den der Beklagte nicht bestritten hat) Einrichtungen für kulturelle oder sportliche Aktivitäten nicht vorhanden sind. Alle Einrichtungen dieser Art, wie Sporthalle, Schwimmbad und ähnliches, befinden sich in dem etwa 3 km entfernten Ort Tostedt. Weil öffentliche Verkehrsmittel zu selten fahren, ist die Klägerin darauf angewiesen, ein Fahrrad zu benutzen, wenn sie solche Veranstaltungen besuchen will; nach Auffassung des Senates darf ein Kind dieses Alters von Veranstaltungen dieser Art nicht völlig abgeschnitten werden. Auch muß es der Klägerin ermöglicht werden, den Konfirmandenunterricht zu besuchen. Zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Bescheide besuchte die Klägerin diesen Unterricht zwar noch nicht, es war aber bereits vorauszusehen, daß sie in den Jahren 1988 und 1989 Konfirmandenunterricht erhalten werde, und deshalb ist dieser Umstand auch zu berücksichtigen. Bedenkt man noch, daß die Klägerin nach den von ihr vorgetragenen ärztlichen Empfehlungen Sport treiben soll, so rundet sich das Bild ab. Nach den besonderen örtlichen und den persönlichen Verhältnissen ist die Klägerin auf ein Fahrrad angewiesen.

19

Entgegen der Auffassung des Beklagten muß die Klägerin nicht deshalb auf ein eigenes Fahrrad verzichten, weil in ihrer Familie bereits mehrere Fahrräder vorhanden sind. Die Fahrräder ihrer Mutter und ihre Bruders sind ungeeignet. Das Fahrrad ihres Bruders ist zu klein, als daß die Klägerin es verkehrssicher fahren könnte. Zu diesem Ergebnis gelangt der Senat aufgrund seiner eigenen Erfahrungen, so daß es insoweit keiner Beweiserhebung bedarf. Das Fahrrad ihrer Mutter, auf das diese wegen ihrer Behinderung (Lungenkrankheit) angewiesen ist, ist zu wertvoll und empfindlich, (u.a. hat es schmale Sportfelgen), als daß es der Mutter zuzumuten wäre, es der Klägerin anzuvertrauen, weil die Mutter - zu Recht - befürchtet, die Klägerin werde es nach Kinderart nicht sorgfältig genug behandeln mit der Folge, daß es häufig repariert werden müßte. Schließlich ist es der Klägerin auch nicht zuzumuten, das ihrem Stiefvater gehörende Herrenfahrrad zu benutzen, das dieser zudem häufiger für eigene Zwecke benötigt.

20

Nach der Auffassung des Senates darf die Klägerin auch nicht darauf verwiesen werden, daß ihr Verwandte ein Fahrrad schenken. Die gegenteilige Rechtsansicht des Beklagten verstößt gegen Strukturprinzipien des Bundessozialhilfegesetzes. Der Träger der Sozialhilfe muß nämlich den notwendigen Bedarf decken und darf den Hilfeempfänger nicht darauf verweisen, daß zur Hilfe nicht verpflichtete Verwandte einspringen müßten.

21

Der Senat folgt auch nicht der Ansicht, die Weihnachtsbeihilfe müsse dazu verwandt werden, einen solchen Bedarf zu decken. Der Hilfeempfänger, der eine Weihnachtsbeihilfe erhält, ist nicht gehalten, Gegenstände des notwendigen Bedarfs mit dieser Beihilfe zu beschaffen und damit den Anspruch auf eine Beihilfe für die Beschaffung eines notwendigen Gegenstandes hinfällig zu machen; darüber hinaus benötige die Klägerin das Fahrrad schon zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidungen.

22

Aus alledem ergibt sich, daß auch dann, wenn dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. November 1988 (aaO) zu folgen wäre, die Klägerin Anspruch auf eine Beihilfe zur Beschaffung eines Fahrrades hat. Der Senat hat der Klägerin eine Beihilfe für die Beschaffung eines gebrauchten Fahrrades zugesprochen, weil zum notwendigen Lebensunterhalt i.S. von § 12 BSHG nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ein Hilfeempfänger auch auf gebrauchte Gegenstände verwiesen werden darf, solange es in den Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen üblich ist, den Bedarf auf diese Weise zu decken. So liegt der Fall hier. Dieser Umstand führt nicht dazu, daß die Berufung teilweise zurückgewiesen werden muß, denn die gesetzliche Vertreterin der Klägerin hat es in der mündlichen Verhandlung in das Ermessen des Senates gestellt, ob er den Beklagten verpflichtet, eine Beihilfe für ein neues oder für ein gebrauchtes Fahrrad zu gewähren.

23

Der Senat hat den Beschluß des Verwaltungsgerichtes vom 5. August 1988 dahin gedeutet, daß das Verwaltungsgericht den hier behandelten Teil des Streitgegenstandes von dem übrigen Verfahren getrennt hat, so daß sich auch die Kostenentscheidung des Senates auf diesen Teil beschränken kann.

24

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 1, 167, 188 Satz 2 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

25

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), bestehen nicht; denn wie bereits dargestellt, wäre der Senat zu demselben Ergebnis gelangt, wenn er dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. November 1988 (aaO) gefolgt wäre.

26

Jacobi

27

Zeisler

28

Atzler