Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 21.02.2007, Az.: L 4 KR 78/05

Anspruch auf Erstattung von Kosten für eine durchgeführte stereotaktische Konvergenzbestrahlung; Erstattung der aufgewendeten Kosten für eine Bestrahlungsbehandlung nach den Grundsätzen über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch; Gesteigerte Beratungspflicht bei Vorliegen eines besonderen und langjährigen Krankheitsverlaufs

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
21.02.2007
Aktenzeichen
L 4 KR 78/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 30720
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0221.L4KR78.05.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 01.03.2005 - AZ: S 6 KR 93/02
nachfolgend
BSG - 02.11.2007 - AZ: B 1 KR 14/07 R

Fundstellen

  • Breith. 2007, 939-942
  • GesR 2007, 435

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 1. März 2005 sowie der Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2002 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.044,63 EUR zu zahlen. Die Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen.

Tatbestand

1

Der Rechtsstreit betrifft im Berufungsverfahren jetzt noch die Erstattung von Kosten für eine im Dezember 2001 durchgeführte stereotaktische Konvergenzbestrahlung.

2

Die im August 1961 geborene Klägerin erkrankte 1994 an einem Mamma-Carcinom. Im Jahre 1999 wurde ein Thoraxwandrezidiv links bei der Klägerin festgestellt. Im Mai 2000 erlitt die Klägerin einen Krampfanfall. In diesem Zusammenhang wurde im Gehirn der Klägerin eine Metastase festgestellt, die noch im Mai 2000 operativ entfernt wurde. Im April 2001 zeigten sich bei der Klägerin leichte Lähmungserscheinungen im Bereich des linken Beines. Nachfolgend wurde eine operative Entfernung einer weiteren Hirnmetastase erforderlich.

3

Bereits im August 2001 wurde wiederum eine Hirnmetastase gefunden. Die die Klägerin behandelnden Ärzte der Asklepios-Kliniken Schildautal hielten eine stereotaktische Konvergenzbestrahlung, die bisher noch nicht erfolgt sei, für nunmehr dringend indiziert. Man empfahl, die Behandlung in der Praxis des Radiologen und Strahlentherapeuten C. in Hannover auszuführen.

4

Die Klägerin ließ die Bestrahlungen durch den Radiologen und Strahlentherapeuten C. im August 2001 ausführen und beantragte mit Schreiben vom 26. Oktober 2001 bei der Beklagten die Übernahme der entstandenen und von ihr noch nicht bezahlten Kosten in Höhe von 4.003,53 DM. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 1. November 2001 mit dem Hinweis darauf ab, dass die durchgeführte Behandlung nicht zu den Leistungen gehöre, die von der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen sei. Auf den Widerspruch der Klägerin holte die Beklagte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vom 4. Dezember 2001 ein. In der Stellungnahme hieß es kurz, die Beschleunigerbestrahlung sei medizinisch notwendig, es gebe keine Behandlungsalternative, und es bestehe in Bezug auf die Behandlung keine Unaufschiebbarkeit. Der Radiologe C. erklärte in Bezug auf seine Rechnung vom 25. Oktober 2001 im Erörterungstermin vor der Berichterstatterin am 27. September 2006, dass er auf die Bezahlung dieser Rechnung verzichte.

5

Am 19. November 2001 wurde anlässlich einer Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT)-Untersuchung der Klägerin eine neue Hirn-Metastase festgestellt. Der Radiologe C. führte am 17. Dezember 2001 wiederum eine stereotaktische Bestrahlung der Metastase durch und stellte dafür einen Betrag von 3.998,94 DM (= 2.044,63 EUR) in Rechnung, den die Klägerin an den Behandler zahlte.

6

Nachdem die Beklagte zwischenzeitlich mit Bescheid vom 18. Dezember 2001 erneut die Übernahme der Kosten für die im August 2001 durchgeführte Strahlen-Behandlung abgelehnt hatte, beantragte die Klägerin neben ihrem Widerspruch gegen den Bescheid vom 18. Dezember 2001 die Erstattung der Kosten für die Strahlenbehandlung am 17. Dezember 2001 (Antrag vom 22. Februar 2002).

7

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 10. April 2002 zurück und lehnte auch die Erstattung der Kosten der Strahlenbehandlung im Dezember 2001 ab. Zur Begründung erläuterte sie, dass die Übernahme bzw. Erstattung von Kosten bereits deshalb nicht in Betracht käme, weil die Klägerin die Behandlungen jeweils habe ausführen lassen, ohne eine Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Im übrigen müsse darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der ausgeführten Behandlung nicht um eine Vertragsleistung handele. Der für die Bewertung der Leistungen zuständige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (BA) habe in Bezug auf diese Behandlungsmethode noch keine Entscheidung getroffen. Daher bestehe aus leistungsrechtlichen Gründen kein Kostenübernahme- oder Kostenerstattungsanspruch für die Klägerin, ebenso wenig wie unter dem Gesichtspunkt einer Notfallbehandlung.

8

Mit ihrer am 13. Mai 2002 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, dass die Bestrahlungsbehandlungen nach den Bekundungen der Ärzte der Schildautal-Kliniken dringlich gewesen seien. Die Ärzte hätten bei ihr den Eindruck erweckt, dass es sich dabei um eine Kassenleistung handele. Im übrigen sei der Argumentation der Beklagten in Bezug auf den Rechtsnormcharakter der Entscheidungen des BA auch gegenüber Versicherten entgegenzutreten.

9

Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Klage durch Urteil vom 1. März 2005 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Bestrahlungsbehandlungen bei der Klägerin nicht als Notfallbehandlungen zu qualifizieren seien. Die gesetzlich vorgesehene Erstattung von Behandlungskosten unter dem Gesichtspunkt einer zu Unrecht erfolgten Ablehnung der Versorgung mit der Leistung durch die Beklagte im Wege der Sachleistung komme nicht in Betracht, weil die Klägerin den Beschaffungsweg nicht eingehalten habe. Sie habe sich die Leistung beschafft, ohne vorher eine Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten.

10

Gegen dieses am 10. März 2005 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 31. März 2005 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass die Beklagte zu Unrecht die Erstattung der von ihr aufgewendeten Kosten für die stereotaktische Konvergenzbestrahlung im Dezember 2001 abgelehnt habe. Die sie behandelnden Ärzte hätten die Bestrahlungsbehandlung für dringlich indiziert gehalten, und sie sei davon ausgegangen, dass es sich um eine Kassenleistung handele.

11

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 1. März 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2002 aufzuheben;

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten für die Strahlenbehandlung am 17. Dezember 2001 in Höhe von 2.044,63 EUR zu erstatten.

12

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

13

Sie hält das erstinstanzliche Urteil und die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Sie habe keine Veranlassung bzw. Gelegenheit gehabt, die Klägerin gegebenenfalls auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass die stereotaktische Konvergenzbestrahlung auch in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hätte durchgeführt werden können und dann die Kosten auch von ihr übernommen worden wären. In Bezug auf die Behandlung im August 2001 habe sie davon erst im Oktober 2001, also im Nachhinein Kenntnis erhalten. Sie habe auch bei Erlass des Bescheides vom 1. November 2001 nicht Veranlassung gehabt, auf diese Behandlungsmöglichkeit in der MHH hinzuweisen, weil nicht absehbar gewesen sei, dass in Kürze erneut eine derartige Behandlung der Klägerin erforderlich werden würde.

14

Der Senat hat im Termin zur Erörterung des Sachverhalts und zur Beweisaufnahme am 27. September 2006 den Radiologen und Strahlentherapeuten C. durch seine Berichterstatterin vernommen. Wegen der Einzelheiten seiner Bekundungen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die gemäß § 143 und § 144 Abs. 1 Ziffer 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden, mithin zulässig.

17

Sie ist auch begründet, denn die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der von ihr aufgewendeten Kosten für die am 17. Dezember 2001 durchgeführte stereotaktische Konvergenzbestrahlung.

18

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch -Fünftes Buch- (SGB V) stellen die Krankenkassen den Versicherten die im Dritten Kapitel des SGB V genannten Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit das SGB V oder das Sozialgesetzbuch -Neuntes Buch- (SGB IX) nichts Abweichendes vorsehen.

19

§ 13 Abs. 1 SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl. I 1046) regelt, dass die Krankenkasse an Stelle der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten darf, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsieht.

20

Eine Erstattung der Kosten für die Strahlenbehandlung im Dezember 2001 kann nicht auf der Grundlage der Vorschrift des § 13 Abs. 2 SGB V erfolgen. Denn die Klägerin hat am Kostenerstattungsverfahren auf der Grundlage dieser Vorschrift nicht teilgenommen.

21

Auch § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V kann als Anspruchsgrundlage nicht herangezogen werden. Nach dieser Vorschrift hat die Krankenkasse dem Versicherten die durch die selbstbeschaffte Leistung entstandenen Kosten zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war und wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (1) oder soweit sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (2).

22

Bei der Bestrahlungsbehandlung am 17. Dezember 2001 hat es sich nicht um eine unaufschiebbare Leistung im Sinne eines Notfalles gehandelt (1). Das folgt daraus, dass es sich um eine geplante Behandlung auf der Grundlage des am 17. November 2001 erhobenen MRT-Befundes handelte. Eine Kostenerstattung kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer zu Unrecht abgelehnten Leistung erfolgen (2). Denn nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates setzt dies eine Kausalbeziehung zwischen der zu Unrecht erfolgten Ablehnung und der beim Versicherten entstandenen Kostenlast voraus. Diese Kausalbeziehung ist nicht gegeben, wenn der Versicherte sich die Leistung beschafft, ohne zuvor eine Entscheidung der Krankenkasse einzuholen (vergleiche zuletzt Senatsbeschluss vom 6. November 2006, AZ L 4 KR 267/05 mit weiteren Nachweisen).

23

Die Klägerin hat sich die Bestrahlungsbehandlung am 17. Dezember 2001 beschafft, ohne zuvor eine Entscheidung der Beklagten herbeizuführen. Soweit die Beklagte bereits mit Bescheid vom 1. November 2001 die beantragte Erstattung von Kosten für die Bestrahlungsbehandlung im August 2001 abgelehnt hatte, kann diese Entscheidung nicht auf die im Dezember 2001 erfolgte Behandlung bezogen werden, weil sich die Notwendigkeit dieser Behandlung erst durch eine Untersuchung mittels MRT am 17. November 2001 herausgestellt hatte.

24

Die Klägerin hat aber einen Anspruch auf Erstattung der von ihr aufgewendeten Kosten für die Bestrahlungsbehandlung am 17. Dezember 2001 nach den Grundsätzen über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Dieser ist auf die Vornahme der notwendigen Amtshandlungen zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsenen Nebenpflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (vgl. BSG in SozR 3-1200 § 14 Nr. 22). Das einen Herstellungsanspruch auslösende Verhalten des Sozialleistungsträgers kann zum Beispiel in einer Verletzung der Beratungspflicht des § 14 SGB I bestehen, aber auch in der Erteilung einer unrichtigen oder unvollständigen (und dadurch unrichtigen) Auskunft oder in der Unterlassung eines sich nach Sachlage aufdrängenden Hinweises zum Beispiel über erforderliche Anträge, rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch in dem nicht rechtzeitigen Erlass eines rechtsbegründenden Verwaltungsaktes liegen (vgl BSG a.a.O.).

25

Der Senat ist der Auffassung, dass der besondere, langjährige Krankheitsverlauf bei der Klägerin für die Beklagte eine gesteigerte Beratungspflicht auslöste. Die Klägerin war bereits 1994 an einem Mamma-Ca erkrankt und im Jahre 1999 wurde ein Rezidiv im Bereich der linken Thoraxwand erkannt. Im Mai 2000, im April 2001 und im Juli 2001 wurden Metastasen im Gehirn der Klägerin festgestellt. Unter diesen Umständen hätte bereits bei Erlass des Bescheides vom 1. November 2001 für die Beklagte die Notwendigkeit bestanden, die Klägerin auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass eine derartige Bestrahlungsbehandlung in der MHH auch zu ihren Lasten hätte durchgeführt werden können. Dazu bestand um so mehr Anlass, als die Beklagte noch bis 1999 die Kosten für stereotaktische Strahlenbehandlungen bei dem Radiologen und Strahlentherapeuten C. übernommen hat, wie dieser im Erörterungstermin vor der Berichterstatterin bekundet hat. Der Wortlaut des Bescheides der Beklagten vom 1. November 2001 war aber so gehalten, als ob stereotaktische Strahlenbehandlungen überhaupt nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen hätten erbracht werden dürfen. Es dürfte sehr viel dafür sprechen, dass sich die Klägerin für die Durchführung einer weiteren Strahlenbehandlung in die MHH begeben hätte, wenn sie die entsprechenden Informationen von der Beklagten bekommen hätte. Damit ist auch die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Kostenlast gegeben. Aufgrund der Verletzung der Beratungspflicht durch die Beklagte steht der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung der Behandlungskosten bei dem Radiologen und Strahlentherapeuten Brenneisen zu. Denn ein Herstellungsanspruch ist auf Vornahme des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsene Beratungspflicht ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Die fehlende Beratung kann die Beklagte nicht nachholen. Der Zeitraum, in dem die Klägerin die Behandlung in Anspruch nehmen wollte und in Anspruch genommen hat - nämlich Dezember 2001 -, ist längst verstrichen. Nach dem Sinn und Zweck des Herstellungsanspruches ist die Beklagte daher zur Erstattung der Behandlungskosten verpflichtet, die sie bei korrektem Verwaltungshandeln aufzuwenden gehabt hätte (vgl. hierzu gefestigte Rechtsprechung des Senats: Urteil vom 28. August 1996 - L 4 Kr 143/95 - mN).

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

27

Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen.