Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.10.2018, Az.: 2 LA 1176/17

Unmöglichkeit des Wiedereinsetzungsantrags vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt; Unvollständige Übermittlung des Berufungszulassungsantrags an das Gericht

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.10.2018
Aktenzeichen
2 LA 1176/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 42074
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 08.06.2017

Fundstellen

  • DÖV 2019, 164
  • NVwZ-RR 2019, 128

Amtlicher Leitsatz

Höhere Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 3 VwGO liegt vor, wenn ein Rechtsmittel per Telefax eingelegt wurde, der Sendebericht des Rechtsmittelführers den OK-Vermerk trägt und die korrekte Zahl gesendeter Seiten ausweist und weder das Gericht noch der Rechtsmittelgegner innerhalb der Jahresfrist auf einen tatsächlich unvollständigen Eingang des Rechtsmittels bei Gericht hingewiesen haben.

Tenor:

Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 9. Kammer (Einzelrichterin) - vom 8. Juni 2017 zugelassen.

Das Berufungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen

2 LB 679/18

geführt.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.

Der Antrag ist ungeachtet der Tatsache, dass innerhalb der Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG lediglich die ersten neun von zwölf Seiten des per Fax übersandten Berufungszulassungsantrags bei Gericht eingegangen sind, zulässig. Diese neun Seiten enthalten zwar keine Unterschrift, und es fehlt darin auch eine den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügende Darlegung der Berufungszulassungsgründe, sodass sie den Anforderungen an einen ordnungsgemäßen Zulassungsantrag nicht genügen. Der Beklagten ist jedoch auf ihren Antrag vom 18. September 2018, dem sie den vollständigen und unterschriebenen Berufungszulassungsantrag beigefügt hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 60 Abs. 1 VwGO).

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen solchen Antrag liegen vor. Die Beklagte war gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ohne Verschulden verhindert, die gesetzliche Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG einzuhalten. Ein Sorgfaltsverstoß ist ihr nicht vorzuwerfen. Sie hat den Berufungszulassungsantrag deutlich vor Fristablauf am 23. Juli 2017 an das Verwaltungsgericht gefaxt. Ihr Sendebericht trägt den OK-Vermerk und weist die ordnungsgemäße Übermittlung der zwölf Seiten aus. Der mit einem "OK-Vermerk" versehene Sendebericht belegt zwar weder den für die Wahrung der Frist maßgeblichen Zugang des Zulassungsantrags beim Verwaltungsgericht, noch begründet er insoweit den Beweis des ersten Anscheins. Er belegt nur das Zustandekommen der Verbindung, nicht aber die erfolgreiche Übermittlung der Signale an das Empfangsgerät (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.6.2017 - 2 B 57.16 -, juris Rn. 2; BGH, Beschl. v. 12.4.2016 - VI ZB 7/15 -, juris Rn. 7). Für weitere Nachforschungen, etwa einen Anruf beim Verwaltungsgericht, bestand für die Beklagte dennoch kein Anlass, weil sie nach den ihr vorliegenden Erkenntnismitteln und allgemeiner Lebenserfahrung von einer ordnungsgemäßen Übermittlung ausgehen durfte (vgl. bereits Senatsbeschl. v. 14.9.2018 - 2 LA 1106/17 -, juris Rn. 8 f.).

Innerhalb der Monatsfrist des § 60 Abs. 2 VwGO, nämlich am 24. September 2018, hat die Beklagte zudem Wiedereinsetzung beantragt und die versäumte Prozesshandlung nachgeholt. Die Wiedereinsetzungsfrist begann mit Zugang des Hinweises des Senats auf die fehlerhafte Faxübermittlung am 17. September 2018 zu laufen. Zu diesem Zeitpunkt erhielt die Beklagte erstmals Kenntnis von ihrer Säumnis.

§ 60 Abs. 3 VwGO steht der Wiedereinsetzung nicht entgegen. Zwar ist danach nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist ein Wiedereinsetzungsantrag grundsätzlich unzulässig. Das gilt aber nicht, wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Der Begriff der höheren Gewalt ist zwar enger als der Begriff "ohne Verschulden" in § 60 Abs. 1 VwGO; entgegen einem durch die Wortwahl nahegelegten Verständnis setzt er jedoch kein von außen kommendes Ereignis voraus. Unter höherer Gewalt ist demgemäß ein Ereignis zu verstehen, das unter den gegebenen Umständen auch durch die größte, nach den Umständen des gegebenen Falles vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe - also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung - zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (stRspr.; vgl. BVerwG, Urt. v. 30.10.1997 - 3 C 35.96 -, juris Rn. 53 m.w.N.). Diese Anforderungen sind erfüllt. Für die Beklagte war - wie ausgeführt - unter den gegebenen Umständen auch bei größter Sorgfalt nicht erkennbar, dass ihr Zulassungsantrag unvollständig an das Gericht übermittelt worden war. Trotz mehrfacher Schriftwechsel hat der Senat auf diesen Umstand nicht in der Eingangsverfügung und auch nicht in weiteren Schreiben, sondern erstmals im September 2018 hingewiesen. Der Kläger, der sich zwei Mal zur Sache geäußert hat, hat die unvollständige Übersendung ebenfalls nicht beanstandet. Die Beklagte durfte und musste sich daher in Sicherheit wiegen.

In der Sache ist die Berufung wegen Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) zuzulassen. Die von der Beklagten als klärungsbedürftig aufgeworfene Frage, ob Wehrdienstentziehung ohne ein Hinzutreten individueller Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgung wegen der politischen Überzeugung führt, ist in der Rechtsprechung des Senats durch Urteil vom 27. Juni 2017 (- 2 LB 91/17 -, juris) mittlerweile geklärt, so dass deren grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) entfallen ist. Das Verwaltungsgericht hat die aufgeworfene Rechtsfrage jedoch abweichend von der vorgenannten Entscheidung beantwortet; die Entscheidung beruht auch auf dieser Abweichung.

Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 78 Abs. 5 S. 3 AsylG). Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, oder in elektronischer Form nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des 2. Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 VwGO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).