Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 09.02.2006, Az.: L 7 AS 384/05 ER

Anforderungen an die Anrechenbarkeit von Zahlungen aus einem zivilrechtlichen Vergleich auf den Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Bemessung des Anspruchs auf Grundsicherung für Arbeitsuchende

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
09.02.2006
Aktenzeichen
L 7 AS 384/05 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 11983
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0209.L7AS384.05ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 20.09.2005 - AZ: S 33 AS 371/05 ER

Tenor:

Der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 20. September 2005 wird geändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen im Hauptsacheverfahren ab dem 01. Oktober 2005 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für den Zeitraum von 6 Monaten, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ohne Anrechnung des Betrages von 511,29 EUR monatlich zu zahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die Anrechnung von Zahlungen aus einem zivilrechtlichen Vergleich von 511,29 EUR monatlich auf seinem Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch -SGB II -.

2

Auf seinen Antrag wurden dem Antragsteller mit Bescheid vom 20. Dezember 2004 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01. Januar 2005 bis zum 30. September 2005 von monatlich 116,68 EUR bewilligt. Dabei wurde auf den Bedarf von 627,97 EUR ein Betrag von 511,29 EUR angerechnet. Dieser Betrag entspricht Zahlungen aus einem zivilgerichtlichen Vergleich vom 30. August 2001, in dem der dortige Schuldner sich verpflichtete, auf eine Forderung des Antragstellers einen Betrag von 54.250,00 DM in monatlichen Raten von 1.000,00 DM (= 511,29 EUR) zu zahlen.

3

Diese Forderung hatte der Antragsteller bereits am 06. Januar 2000 an seinen damaligen Rechtsanwalt, Herrn Dr. D., zur Begleichung von dessen Forderungen gegen den Antragsteller abgetreten. Eine weitere Abtretung vom 06. Januar 2000 existiert zu Gunstenzugunsten von Frau E. aufgrund von Unterhaltsforderungen, die diese gegen den Antragsteller hat und sich auf den Anteil der Forderung des Antragstellers aus dem Vergleich bezieht, der die Ansprüche von Dr. F. übersteigt.

4

Dieser Bescheid vom 20. Dezember 2004 wurde bindend, nachdem der Antragsgegner den Widerspruch des Antragstellers mit Widerspruchsbescheid vom 21. April 2005 zurückgewiesen hatte und dagegen keine Klage erhoben worden war. Am 08. Juni 2005 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner die Überprüfung nach § 44 SGB X, weil er die Anrechnung für unrechtmäßig hielt. Seiner Auffassung nach handele es sich bei dem Betrag von 511,29 EUR nicht um Einkommen, sondern um Vermögen. Wegen dieses Antrags läuft derzeit ein Widerspruchsverfahren, das, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden ist. Den Antrag des Antragstellers vom 11. Juni 2005 auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim mit Beschluss vom 20. September 2005 abgelehnt. Es hat darin die Auffassung vertreten, es fehle an einem streitigen Rechtsverhältnis, da der Bescheid vom 20. Dezember 2004 bestandskräftig geworden sei. Ein streitiges Rechtsverhältnis könne auch nicht durch das Verfahren nach § 44 Abs. 1 SGB X bewirkt werden.

5

Gegen den ihm am 26. September 2005 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 24. Oktober 2005 Beschwerde erhoben, der das SG nicht abgeholfen hat.

6

Er macht geltend, die Auffassung, es liege kein streitiges Rechtsverhältnis vor, sei unzutreffend. Der Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung habe sich nicht nur auf die Überprüfung vergangener Zeiträume bezogen, sondern sei auch auf die rechtmäßige Bewilligung der Leistungen nach dem SGB II ab Datum der Antragstellung gerichtet. Ein streitiges Rechtsverhältnis sei mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung am 06. Juni 2005, spätestens jedoch mit dem Bescheid des Beschwerdegegners vom 29. Juni 2005 entstanden, mit dem dieser die Abänderung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides abgelehnt habe. Der Antragsteller hält weiterhin daran fest, bei dem angerechneten Betrag handele es sich nicht um Einkommen, sondern um geschütztes Vermögen.

7

Der Antragsteller beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

den Beschluss des SG Hildesheim vom 20. September 2005 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller ab Juli 2005 Arbeitslosengeld II ohne Anrechnung der ihm aus einem früheren gerichtlichen Vergleich zugehenden Zahlungen in Höhe von 511,29 EUR monatlich zu bewilligen und auszuzahlen.

8

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

9

Er hält an seiner bisherigen Auffassung über die Anrechenbarkeit des streitigen Betrages fest und verweist insoweit auf sein bisheriges Vorbringen.

10

Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten und Verwaltungsakten G., die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

11

II.

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Beschwerde ist für den Zeitraum ab Oktober 2005 begründet.

12

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf das streitige Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Anordnungsanspruch, d.h. die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist, sowie der Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung, sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).

13

Dem Antragsteller stehen voraussichtlich Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II ohne Berücksichtigung des Betrages von 511,29 EUR monatlich zu.

14

Die Regelungen zur Anrechnung von Einkommen und Vermögen befinden sich in den §§ 11 und 12 SGB II. Zur Unterscheidung beider Begriffe orientiert sich der Senat an der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur früheren Arbeitslosenhilfe und des Bundesverwaltungsgerichts seit 1999 zur Sozialhilfe (vgl. dazu im Einzelnen: Eicher/Spellbrink SGB II § 11 Rdnr. 14 bis 19, insbesondere Rdnr. 18). Danach steht bei der Erfüllung von Geldforderungen der tatsächliche Zufluss gegenüber der ihm zugrunde liegenden Forderung im Vordergrund, so dass Einnahmen dann als Einkommen und nicht als Vermögen zu werten sind, wenn diese aus nicht realisierten Forderungen herrühren.

15

Genau dies ist bei dem Antragsteller der Fall. Der Betrag von 511,29 EUR monatlich stammt nicht aus zuvor angespartem Einkommen des Antragstellers, sondern aus einer Geldforderung gegen einen Dritten, die dieser zuvor nicht erfüllt hatte. Damit ist der Betrag von 511,29 EUR in dem Monat, in dem er zufließt, grundsätzlich jeweils als Einkommen anzusehen.

16

Dieser Betrag ist im Fall des Antragstellers jedoch derzeit deswegen nicht auf seinen Bedarf nach dem SGB II anzurechnen, weil er ihm tatsächlich nicht zufließt, bzw. nicht in einer Weise zufließt, dass der Antragsteller davon seinen notwendigen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Aufgrund der beiden Abtretungsverträge vom 06. Januar 2000 fließt der streitige Betrag nämlich nicht dem Kläger, sondern seinen Gläubigern zu. Damit steht das Geld dem Kläger zur Bestreitung seines Lebensunterhalts derzeit tatsächlich nicht zur Verfügung.

17

Zwar vertritt auch der Senat die Auffassung, dass Leistungen der öffentlichen Hand nicht dazu dienen können, bei Bedürftigen Schulden zu tilgen, doch kann dies nur dann zu einer Kürzung der eigentlich zustehenden Leistungen führen, wenn der Betreffende tatsächlich die Verfügungsgewalt über die grundsätzlich anrechenbaren Gelder hat. Dies ist nach Lage der Akten aufgrund der nach wie vor wirksamen Abtretungserklärungen nicht der Fall. Für die künftigen Leistungsansprüche des Antragstellers wäre ggf. zu prüfen, inwieweit der Antragsteller die Verfügungsgewalt über den hier streitigen Betrag von monatlich 511,29 EUR wiedererlangen kann und welche Schritte er dazu im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten unternehmen muss.

18

Eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung höherer Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vor dem 01. Oktober 2005 kommt nicht in Betracht, weil für diesen Zeitraum ein bestandskräftiger Bescheid existiert. Zwar hält der Senat mit dem 8. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen (vgl. Beschluss vom 16.08.2005 - L 8 B 96/05 AS -) den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 SGB X für grundsätzlich zulässig. Allerdings sind in einem derartigen Fall besonders strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zustellen, die nur ausnahmsweise den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung zulassen. Im vorliegenden Fall ist dem Antragsteller zuzumuten, für den von dem bestandskräftigen Bescheid erfassten Zeitraum die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

19

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abse. 1 und 4 SGG entsprechend. Da die Beschwerde teilweise erfolgreich war, spricht es nach Auffassung des Senats der Billigkeit, dass der Antragsgegner die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers erstattet.

20

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.