Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 16.12.2019, Az.: L 10 SB 107/19 B
Beschwerde gegen die Ablehnung eines Prozesskostenhilfeantrags; Prognostische Beurteilung der Möglichkeiten eines Klageerfolgs; Erforderlichkeit weiterer entscheidungserheblicher Ermittlungen oder Beweiserhebungen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 16.12.2019
- Aktenzeichen
- L 10 SB 107/19 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 63855
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 26.08.2019 - AZ: S 8 SB 337/18
Rechtsgrundlagen
- § 73a Abs. 1 S. 1 SGG
- § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO
Redaktioneller Leitsatz
Ein Begehren im sozialgerichtlichen Klage- und Berufungsverfahren hat in der Regel insbesondere auch dann hinreichende Erfolgsaussicht, wenn es im Rahmen der dem Gericht obliegenden Pflicht zur Sachaufklärung noch weiterer entscheidungserheblicher Ermittlungen oder Beweiserhebungen bedarf.
Tenor:
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 26. August 2019 aufgehoben. Dem Kläger wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin F., ohne Ratenzahlung bewilligt. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die form- und fristgerecht (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) am 26. September 2019 eingelegte Beschwerde des Antragstellers, Klägers und Beschwerdeführers (im Folgenden Kläger) gegen den Prozesskostenhilfe (PKH) versagenden Beschluss des Sozialgerichts (SG) Braunschweig vom 26. August 2019 ist zulässig.
Die Beschwerde ist auch begründet. Das SG hat den Antrag auf Gewährung von PKH zu Unrecht abgelehnt. Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinreichend in diesem Sinne sind die Erfolgsaussichten einer Klage nicht erst dann, wenn bei der notwendigerweise prognostischen Beurteilung der Möglichkeiten eines Klageerfolgs ein späteres Obsiegen bereits wahrscheinlicher erscheint als ein Unterliegen. Vielmehr genügt es für die Bewilligung von PKH, wenn die Klage auf der Grundlage eines vorläufig vertretbaren, diskussionswürdigen Rechtsstandpunkts schlüssig begründbar ist und in tatsächlicher Hinsicht die gute Möglichkeit der Beweisführung besteht (Leitherer in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Aufl., § 73 a Rn. 7a). Schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ist bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten insoweit eine nicht zu strenge Prüfung geboten. Artikel 3 Abs. 1, 20 Abs. 3 und 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gebieten eine weitgehende Gleichstellung von bemittelten und unbemittelten Personen hinsichtlich ihrer jeweiligen Möglichkeiten, effektiven Rechtsschutz in Anspruch nehmen zu können (Gebot der Rechtsschutzgleichheit - Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, vgl. etwa Beschluss vom 24. März 2011 - 1 BvR 2493/10 = ZfSH/SGB 2011,475f; vom 14. Oktober 2008 - 1 BvR 2310/06 = NJW 2009, 209 (Beratungshilfe); vom 26. April 1988 - 1 BvL 84/86 = BVerfGE 78, 104 vgl. dazu auch Gaier, NJW 2013, 2871, 2872.; Schweigler, SGb 2017, 314 ff.). Dabei würde insbesondere die Rechtsweggarantie des Artikel 19 Abs. 4 GG gegenüber hoheitlichem Handeln von Sozialleistungsträgern verfehlt, wenn die erst als Ergebnis eines gerichtlichen Verfahrens zu erwartende Klärung rechtlich und tatsächlich entscheidungserheblicher Zweifel im Sinne einer allzu vergröbernden Entscheidungsprognose in das PKH-Bewilligungsverfahren vorverlagert würde. PKH darf deshalb unter dem Gesichtspunkt der nicht hinreichenden Erfolgsaussicht nur verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache, wenn schon nicht auszuschließen, so doch wenigstens gänzlich fernliegend ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. April 2000 - 1 BvR 81/00 = NJW 2000, 1936 ff zur PKH-Bewilligung bei offenen Rechtsfragen).
Hinreichende Erfolgsaussicht besteht hiernach im sozialgerichtlichen Klage- und Berufungsverfahren in der Regel insbesondere auch, wenn es im Rahmen der dem Gericht obliegenden Pflicht zur Sachaufklärung noch weiterer entscheidungserheblicher Ermittlungen oder Beweiserhebungen bedarf (ständige Spruchpraxis des erkennenden Senats vgl. dazu aus jüngerer Zeit etwa Beschluss vom 2. Januar 2018 L 10 SB 144/17 B; Beschluss vom 15. März 2018 L 10 VE 3/18 B; Beschluss vom 9. Oktober 2018 L 10 VE 52/18 B; Beschluss vom 11. Oktober 2018 L 10 VE 40/18 B; vgl. auch Beschluss des 9. Senats des erkennenden Gerichts vom 13. Dezember 2005, L 9 B 37/05 U; Meyer-Ladewig, a.a.O., § 73 a Rn 7 a); dies gilt jedenfalls, wenn ein günstiges Ergebnis der Beweisaufnahme nicht unwahrscheinlich bzw. die Erfolgsaussicht nur eine entfernte ist.
Der für die Beurteilung der Voraussetzungen der PKH maßgebliche Zeitpunkt ist dabei grundsätzlich der der Entscheidungsreife des Bewilligungsgesuchs, d.h. der Zeitpunkt, in dem alle für die Entscheidung über den Antrag erforderlichen rechtlichen und wirtschaftlichen Tatsachen gemäß §§ 117, 118 ZPO aus dem Vortrag des Antragstellers/Klägers und den Akten zu entnehmen sind (Leitherer, a.a.O., § 73a Rn. 7d). Andernfalls würde der Zweck der PKH verfehlt, auch dem Bedürftigen Rechtsschutz zu ermöglichen. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG gebieten Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (Beschluss vom 26. Juni 2003 - 1 BvR 1152/02SozR 4 - 1500 § 73a Nr.1). Abzustellen hatte das SG somit auf die Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Prüfungszeitpunkt, der hier im August 2018 lag, denn seit dem 18. Juli 2018 lag das vollständig ausgefüllte und mit den geforderten Anlagen versehene Formular des Klägers nach § 117 ZPO (Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse) beim SG vor, der Kläger hatte am 8. August die Schweigepflichtentbindungserklärung und den Fragebogen über medizinische Behandlungen eingereicht und der Beklagte hatte bereits mit Schriftsatz vom 3. August 2018 zu der am 18. Juli 2018 erhobenen Klage nebst dem damit verbundenen PKH-Antrag Stellung genommen und deren Abweisung beantragt.
Aufgrund der vorliegenden Unterlagen hat sich das SG veranlasst gesehen, Ermittlungen vorzunehmen. Denn es hat mit richterlicher Verfügung vom 1. November 2018 Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte jeweils mit sehr detaillierten Zusatzfragen (Bl. 23 f der Gerichtsakte) eingeholt. Hierbei ist es ausweislich seines angefochtenen Beschlusses selbst davon ausgegangen, dass es damit Beweisaufnahme betreibt (S. 3 oben der Beschlussausfertigung).
Das Einholen von Befundberichten rechtfertigt aber jedenfalls dann die Annahme hinreichender Erfolgsaussichten im oben dargelegten Sinn, wenn es - wie hier - mit der Stellung spezifischer, weiterer Fragen verbunden ist, die den Sachverhalt weiter aufklären sollen und nicht nur dazu dienen sollen, Behauptungen des Klägers zu überprüfen (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Juni 2018, L 3 R 821/17 B PKH Rn 6 zitiert nach juris). Es ist - angesichts der oben dargelegten verfassungsrechtlichen Funktion der Gewährung von PKH - rechtswidrig, aufgrund eingeholter, spezifischer Befundberichte (also getätigter Ermittlungen) die Erfolgsaussichten zu beurteilen und anschließend auf dieser Basis über den Anspruch auf PKH zu entscheiden, wenn Entscheidungsreife schon zu einem Zeitpunkt vor Anforderung der Befundberichte vorlag (anderer Ansicht wohl LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 18. Juni 2008, L 12 B 2/08 SB; Bayerisches LSG Beschluss vom 5. Februar 2007 L 6 SB 22/07 R PKH; differenzierend LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 8. September 2011 L 3 87/11 B; LSG Thüringen Beschluss vom 6. März 2015 L 6 R 866/14 alle Entscheidungen zitiert nach juris zum Streitstand auch Gall in jurisPK-SGG § 73a Rn 47 zu Fußnote 126). Bei der Beiziehung jedenfalls solcher Befundberichte handelt es sich nämlich um eine von Amts wegen erfolgende Beweiserhebung in Form einer schriftlichen Zeugenvernehmung gemäß §§ 118 Abs. 1 SGG, 377 Abs 3 ZPO (Leopold in Roos/Wahrendorf, SGG, § 73a Rn 38).
Dem Kläger ist die Aufbringung der Kosten der Prozessführung nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht möglich, auch nicht zum Teil oder nur in Raten. Er steht im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Die Beiordnung der Rechtsanwältin beruht auf der Anwendung von § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten, § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).