Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 19.12.2019, Az.: L 10 VE 44/15

Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz; Beweismaßstab für einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff bei sexuellem Missbrauch von Kindern; Anforderungen an die Anwendbarkeit der Beweiserleichterung im Sinne von § 15 KOVVfG beim Vorhandensein eines Zeugen; Keine Gewalttat durch Vernachlässigung von Kindern und die missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
19.12.2019
Aktenzeichen
L 10 VE 44/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 63731
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 11.06.2015 - AZ: S 3 VE 28/12

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 11. Juni 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf höhere Versorgungsleistungen als nach einem GdS von 30 gemäß § 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Die 1983 geborene Klägerin beantragte im März 2010 bei der Beklagten Beschädigtenversorgung. Zum Tatvorgang gab sie an, einerseits im Alter von 10 Jahren Opfer von sexuellem Missbrauch durch einen ihr unbekannten Täter geworden zu sein. Andererseits habe sie ab ca. 12 Jahren mit ihren drei jüngeren Halbgeschwistern bei ihrem Stiefvater gelebt und sei dort andauernder körperlicher Gewalt, tätlichen Verfolgungsjagden durch die Wohnung und täglichen verbalen Abwertungen ausgesetzt gewesen. Wiederholt seien durch den Stiefvater Androhungen wie Heimunterbringung, Rauswurf, etc. ausgesprochen worden, so dass eine ständige Unsicherheit bestanden habe. Ihr Stiefvater sei an den Kindern desinteressiert und mit ihnen überfordert gewesen, so dass es zu einer extremen Vernachlässigung aller Kinder und ihrer persönlichen Überlastung gekommen sei, weil sie ihre jüngeren Geschwister habe betreuen und den Haushalt führen müssen. Gelitten habe sie auch unter anhaltender psychischer Gewalt sowie Ablehnung ihrer Person als Familienzugehörige, unter der Abwesenheit der Mutter durch deren Auszug sowie Einbeziehung in deren Bedrohung durch einen Stalker. Durch die Taten seien eine Borderline-Störung, eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende Depressionen, selbstverletzendes Verhalten, Alpträume und Dissoziation entstanden.

Die Beklagte zog Berichte der behandelnden Ärzte der Klägerin, eine Auskunft der Krankenkasse der Klägerin und Unterlagen vom Jugendamt bei. Darüber hinaus holte die Beklagte Aussagen einer früheren Schulfreundin der Klägerin sowie deren Eltern zum Geschehen im Haushalt der Klägerin ein. Außerdem ersuchte die Beklagte den Stiefvater der Klägerin, Heinz I., schriftlich um Stellungnahme zu den Tatvorwürfen. Dieser führte unter dem 9. Mai 2011 aus, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht nachvollziehen zu können, er bestreite diese entschieden.

Unter dem 16. November 2010 beschrieb die Klägerin den Tatablauf zum sexuellen Übergriff im Jahr 1993 wie folgt: Dieser habe sich in J., am K. (L.) auf dem FKK-Gelände zugetragen. An jenem Tag habe ihre Mutter in der Sonne geschlafen. Ihre Brüder hätten im Sand gespielt, während sie zum See und ein paar Schritte am Strand entlanggegangen sei. Sie sei von einem älteren Herrn angesprochen worden. Dieser habe sich besorgt gezeigt, dass sie sich ohne genügend Sonnenschutz in der Sonne bewege. Er habe sie zu sich gerufen und ihr erklärt, dass er sie eincremen müsse, um einen Sonnenbrand zu verhindern. Er habe sie zunächst am Rücken und später am ganzen Körper eingecremt. Er habe sie auch zwischen den Beinen angefasst. Sie habe weglaufen wollen. Er habe sie zurückgehalten und gesagt, das müsse so sein, um sie vor der Sonne zu schützen. Rundherum seien andere Badegäste gewesen, niemand habe reagiert, was sie darin bestärkt habe, dass es wohl so sein müsse. Es sei ihr sehr unangenehm gewesen und sie sei mehr und mehr vor Angst erstarrt. Sie habe Blickkontakt zur Mutter gesucht, dabei festgestellt, dass diese noch schlafe. Der Mann habe ihr befohlen hinter ein Gebüsch im nahegelegenen Wäldchen mitzukommen. Er habe begonnen, sie noch zudringlicher zwischen den Beinen anzufassen. Sie sei in Panik gewesen. Hier ende ihre Erinnerung und setze wieder in dem Moment ein, in dem plötzlich ihre Mutter neben ihr und dem Mann gestanden und sie streng aufgefordert habe, "geh dich waschen". Sie habe gehorcht und sei zum See ins Wasser gegangen. Anschließend sei sie aufgefordert worden, zusammenzupacken, um nach Hause zu gehen. Die Mutter habe sie danach mit keinem Wort auf den Vorfall angesprochen. Es habe keine ärztliche Untersuchung gegeben. Ansonsten habe sie sich keiner Person anvertraut.

In ihrer schriftlichen Auskunft, die die Mutter der Klägerin, Y. M. unter dem 18. Januar 2011 der Beklagten übersandte, schrieb diese, zu dem Vorfall am See nicht viel beitragen zu können. Ihre Tochter habe ihr bereits vor 12 Jahren - also 1999 - von diesem Übergriff berichtet, jedoch habe sie schon damals nichts zur Klärung beitragen können. Allerdings wolle sie nicht ausschließen, dass dieser Vorfall stattgefunden habe. Möglicherweise sei sie durch die Beaufsichtigung von vier Kindern - darunter zwei Nichtschwimmern - zu sehr in Anspruch genommen gewesen.

Mit Schreiben vom 5. Juli 2011 konkretisierte die Klägerin gegenüber der Beklagten ihren Antrag dahingehend, dass zu Hause die Situation zwischen ihrem Stiefvater und ihrer Mutter in ihrem 11. Lebensjahr eskaliert sei: Es sei zu anhaltenden schweren, körperlich gewalttätigen Auseinandersetzungen und nahezu täglich heftigen tätlichen Streitereien gekommen. Stiefvater und Mutter hätten sich angeschrien, sich mit schweren Gegenständen beworfen und mit Fäusten aufeinander eingeschlagen. Dabei sei es auch zu Verletzungen gekommen. Drei Mal habe sie bei der Polizei angerufen, weil der Streit so bedrohlich geworden sei. Nach dem Auszug der Mutter aus der gemeinsamen Wohnung sei sie mit ihren drei jüngeren Halbgeschwistern bei dem Stiefvater zurückgeblieben. Es habe häufige körperliche Übergriffe mit unterschiedlicher Intensität gegeben. Der Stiefvater habe oft sehr impulsiv gehandelt. Er sei unvermittelt und ohne erkennbaren Anlass auf die Kinder losgegangen und habe diese geschlagen. Von einer Ohrfeige bis hin zum Einprügeln mit Fäusten sei es gegangen. Häufig habe er mit Gegenständen (Töpfe, Gläser, Essen) nach ihr und ihren Geschwistern geworfen. Es sei zu Verfolgungsjagden durch die ganze Wohnung gekommen. Sie habe als Älteste in der Erziehungsfunktion viel Verantwortung übertragen erhalten. Die tätlichen Übergriffe des Stiefvaters hätten kurz nach dem Auszug der Mutter begonnen und über Jahre angehalten, sie habe diese bis zu ihrem Auszug erlebt. Sie habe sich immer auch für ihre Geschwister eingesetzt, wenn es zu tätlichen Übergriffen gekommen sei, sei auch dazwischen gegangen, um die Geschwister zu schützen und habe dann oft selbst Schläge abgekriegt. Es habe Wochen gegeben, da habe es mehrmals täglich Übergriffe durch Schlagen gegeben. In anderen Wochen sei es etwas ruhiger gewesen. Aber auch da habe sie nicht aufatmen können, weil es jederzeit - quasi aus heiterem Himmel - wieder zu Schlägen gegen sie oder ihre Geschwister habe kommen können. Es habe in der Zeit zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr so viele tätliche Übergriffe auf sie gegeben, dass sie sie nicht einzeln auflisten könne. Das Klima zu Hause sei von der plötzlichen Gewaltbereitschaft geprägt gewesen. Auch habe ihr Stiefvater immer gedroht, die Kinder ins Heim zu schicken und habe diese Drohung, als sie 12 Jahre alt gewesen sei, auch wahrgemacht, indem er ihre Geschwister habe abholen lassen und sie selbst angewiesen habe, ihre Sachen zu packen und ebenfalls ins Heim zu fahren. Zweieinhalb Wochen später habe er die Kinder dann wieder nach Hause geholt. Danach hätten sie versucht, sich anzupassen und seien vorsichtig damit gewesen, andere um Hilfe zu bitten, damit sich dies nicht wiederhole. Als ein Beispiel für einen tätlichen Übergriff könne sie einen der vielen tätlichen Übergriffe beim Essen beschreiben. Sie hätten zusammen am Mittagstisch gesessen. Komplett ohne Vorwarnung habe der Stiefvater während eines Wortwechsels mit seiner Hand ausgeholt und mit aller Wucht mit seinem Handrücken auf ihre Nase geschlagen. Ihre Nase habe begonnen, heftig zu bluten, das Blut habe in den Essensteller getropft, so dass ihr Stiefvater den Geschwistern bepfohlen habe, auf ihr Zimmer zu gehen, um das nicht weiter mit ansehen zu müssen. Um ihre Verletzungen habe sie sich so gut es ging alleine gekümmert und sei damit nicht zum Arzt gegangen, auch wenn es aus heutiger Sicht manchmal nötig gewesen wäre. Als sie 17 Jahre alt gewesen sei (Anmerkung des Senats: also zwischen November 2000 und November 2001), habe ihr Stiefvater ihr einen monatlichen Betrag von 60,00 Euro (Zitat der Klägerin aus dem Schriftsatz vom 5. Juli 2011) ausgezahlt. Von diesem Geld habe sie alles, inklusive ihr Essen, finanzieren müssen. Er habe ihr verboten, am gemeinsamen Essen teilzunehmen, sie habe auch von den vorhandenen Vorräten nichts nehmen dürfen, habe permanent Hunger gehabt und stark abgenommen.

Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung der Klägerin durch die Neurologin und Psychiaterin Dr. E ... Dem Gutachtenauftrag lag dabei die Annahme der Beklagten zugrunde, dass der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch im Alter von 10 Jahren als nicht nachgewiesen anzusehen sei. Im Hinblick auf die körperlichen Übergriffe durch den Stiefvater in der Zeit von 1993 bis 2001 hingegen sah die Beklagten den Tatbestand des § 1 OEG als erfüllt an, so dass die Gutachterin Stellung zu der Frage nehmen sollte, welche Gesundheitsstörungen im ursächlichen Zusammenhang mit den schädigenden Einwirkungen der Geschehnisse von 1993 bis 2001 stünden. Außerdem wies die Beklagte die Sachverständige darauf hin, dass die psychischen Folgeschäden durch die Gewalttaten abzugrenzen seien von sog. "Milieuschäden", die ohne körperliche Übergriffe stattgefunden hätten. Diese Übergriffe könnten nicht im Sinne des OEG anerkannt werden, auch wenn diese möglicherweise für psychische Gesundheitsstörungen (mit-)ursächlich seien. In ihrem Gutachten vom 21. März 2012 gelangte Dr. E. zu den Diagnosen "komplexe posttraumatische Belastungsstörung, posttraumatische Belastungsstörung, emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, anorexia nervosa" sowie der zusammenfassenden Beurteilung, dass die Klägerin in ihrer Kind- und Jugendzeit vielfachen traumatisierenden Schädigungen ausgesetzt gewesen sei. Insbesondere die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung ließen sich identifizieren, was für die tätlichen Übergriffe des Stiefvaters von 1993 bis 2001 gelte. So leide die Klägerin an Flashbackepisoden, z. B. in den Situationen, wenn sie Hände auf Gesichtshöhe auf sich zukommen sehe, was sie an die vielfältigen Übergriffe des Stiefvaters am Esstisch erinnere, wo er sie häufig völlig unkontrolliert ins Gesicht geschlagen habe. Auch die anderen Kriterien für die Diagnosestellung seien erfüllt. Zwar verwundere auf den ersten Blick, dass Ohrfeigen, Schläge, Knüffe und Schubsen das A-Kriterium der Diagnose erfüllen könnten. Hier sei aber zu berücksichtigen, dass es sich um eine Folge unzähliger Übergriffe handele, die für die Klägerin völlig unkontrollierbar gewesen seien und dass die Klägerin während dieser Vorfälle schon in einer psychisch destabilisierten Lage gewesen sei. Die Reaktion der Klägerin, die ein zeitweise völlig abgestumpftes, apathisches Verhalten beschrieben habe, eine Flucht in Tagträume aber auch provozierendes Verhalten, lasse keinen Zweifel daran, dass sie auf die Vorfälle damals mit völliger Hilflosigkeit reagiert habe. Die PTBS sei im Sinne der Entstehung auf die schädigenden Einwirkungen der Geschehnisse von 1993 bis 2001 ursächlich zurückzuführen. Es sei zu vermuten, dass ein Teil der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung auch auf die schädigenden Einwirkungen der Geschehnisse von 1993 bis 2001 zurückzuführen sei. Hier ließen sich jedoch die Wirkungen der multiplen schädigenden Ereignisse von vielerlei Seiten ausgehend nicht mehr auseinanderdividieren. Infolge der schädigenden Ereignisse liege bei der Klägerin ein GdS von 30 vor. Nach Auswertung dieses Gutachtens sowie der übrigen beigezogenen Unterlagen erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Mai 2012 an, dass die Klägerin im Zeitraum von 1993 bis 2001 Opfer einer Gewalttat im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG geworden ist. Als Schädigungsfolgen wurden anerkannt: "Posttraumatische Belastungsstörung". Außerdem bewilligte die Beklagte der Klägerin Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 30 v.H. ab dem 1. März 2010, wobei über die besondere berufliche Betroffenheit im Sinne von § 30 Abs. 2 BVG noch keine Regelung getroffen worden war. Hierzu sollte ein separater Bescheid ergehen.

Gegen diese Entscheidung erhob die Klägerin Widerspruch, den sie im Wesentlichen damit begründete, dass dem eingeholten Gutachten falsche Anknüpfungstatsachen zugrunde lägen. Es sei fehlerhaft unterlassen worden, die ihr gegenüber verübten Gewalttaten vollständig zu berücksichtigen. Im Hinblick auf den erlittenen sexuellen Übergriff im Alter von 10 Jahren hätte ihre Mutter als Zeugin weiter befragt werden müssen. Zu Unrecht seien auch die psychischen Beeinträchtigungen, die durch den Stiefvater ausgegangen seien, nicht bei der Bewertung der Schädigungsfolgen einbezogen worden. Die psychischen Beeinträchtigungen seien kausale Folge in Form einer gesundheitlichen Schädigung als Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriffs. Es sei nur die Absicht der körperlichen Beeinträchtigung erforderlich, nicht jedoch eine Körperberührung als solche. Die bei ihrem Stiefvater vorliegende gravierende Erziehungsunfähigkeit sei als Misshandlung von Schutzbefohlenen anzusehen. Das über Jahre andauernde gewalttätige Verhalten des Stiefvaters stelle ein rohes Misshandeln dar. Insgesamt sei eine Gesundheitsschädigung durch böswillige Vernachlässigung der Fürsorgepflicht zu Unrecht nicht näher geprüft worden. Zu berücksichtigen sei auch, dass die "gewaltlosen" feindseligen psychischen Übergriffe des Stiefvaters jeweils im Zusammenhang mit den tatsächlichen körperlichen Übergriffen stattgefunden hätten. Damit verbiete sich eine Entkoppelung der psychischen Übergriffe von den körperlichen Übergriffen. Außerdem sei die Gutachterin Dr. E. auch zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Teil der bei ihr diagnostizierten komplexen posttraumatischen Belastungsstörung ebenfalls auf die von dem Stiefvater ausgehenden schädigenden Einwirkungen zurückzuführen sei. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. September 2012 zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass für die Annahme eines tätlichen Angriffs im Sinne von § 1 OEG eine "gewaltlose", insbesondere psychische Einwirkung, auf das Opfer nicht ausreichend sei. Zu berücksichtigen seien damit nur die körperlichen Übergriffe in der Zeit zwischen 1993 und 2001.

Mit ihrer zum Sozialgericht (SG) Bremen erhobenen Klage hat die Klägerin das Ziel der Feststellung weiterer Schädigungsfolgen sowie einer höheren Beschädigtenversorgung als nach einem GdS von 30 weiterverfolgt. Sie hat im Wesentlichen ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und betont, einen Anspruch darauf zu haben, dass die gesamten, bei ihr diagnostizierten psychischen Leiden, insbesondere die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, anorexia nervosa, komplexe traumatische Belastungsstörung und die rezidivierende Depression als Schädigungsfolgen anerkannt werden. Die angegriffene Entscheidung lasse fehlerhaft unberücksichtigt, dass sich aus der Gesamtschau der bei ihr diagnostizierten psychischen Beeinträchtigungen eine schwere soziale Anpassungsschwierigkeit ergeben habe, durch welche sie massiv in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sei. Eine vollständige und dauerhafte Integration in die Lebensbereiche der Arbeitswelt und des täglichen Lebens sei auch mit umfassender Unterstützung dauerhaft nicht möglich. Sie werde in ihrer Lebensführung von dem gemeinnützigen Verein "Die Initiative e.V." unterstützt und befinde sich in unregelmäßigen Abständen immer wieder in stationärer Behandlung. Im Hinblick auf den von ihr erlittenen sexuellen Missbrauch seien ihre Angaben in sich schlüssig und widerspruchsfrei, diese müssten als glaubhaft angesehen werden. Die Beklagte habe es außerdem fehlerhaft unterlassen, sich mit der Tatsache zu beschäftigen, dass ein Rückschluss von einer Krankheit bzw. Diagnose auf die Ursache ihres Entstehens nach wissenschaftlichen Erkenntnissen möglich sei. Sexueller Missbrauch sowie anhaltende im Kindesalter ausgeübte psychische Gewalt seien ein hoher Risikofaktor für die psychischen Beeinträchtigungen, wie sie bei ihr vorlägen. Die Klägerin hat sich für ihr Vorbringen auf von ihr vorgelegte ärztliche Unterlagen bezogen.

Das SG hat eine schriftliche Aussage der Mutter der Klägerin, Y. M., eingeholt. Das SG hat außerdem am 8. Dezember 2014 einen Termin zur mündlichen Verhandlung durchgeführt und dabei die Klägerin persönlich angehört. Danach hat es die Beteiligten darauf hingewiesen, keinen Zweifel daran zu haben, dass der von der Klägerin geschilderte sexuelle Übergriff am Badesee im Jahr 1993 stattgefunden hat. Außerdem hat das SG darauf hingewiesen, dass die zahlreichen körperlichen Übergriffe des Stiefvaters in vielen Fällen nicht von den psychischen Misshandlungen getrennt werden könnten. Insofern liege ein einheitlicher Geschehensablauf vor. Nach diesem Hinweis an die Beteiligten hat das SG die mündliche Verhandlung vertagt und die Psychiaterin und Neurologin Dr. N. mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. Die Sachverständige ist unter dem 4. Mai 2015 zu den Diagnosen "posttraumatische Belastungsstörung mit Übergängen zur Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, emotional instabile Persönlichkeitsstörung Borderline-Typ, anorexia nervosa, rezidivierende depressive Störung, zur Zeit mittelschwer bis schwere depressive Episode" gelangt sowie zu der zusammenfassenden Beurteilung, dass die Klägerin Opfer schwerster traumatisierender Erlebnisse durch die Mutter und den Stiefvater in den Jahren 1990 bis 2001 mit sowohl kontinuierlichen gewalttätigen Übergriffen in Form von Schlägen, Misshandlungen, Foltermaßnahmen durch Nahrungsmittelentzug als auch psychische Traumatisierungen durch Erniedrigungen, Demütigungen, ausbeuterisches Verhalten, Bedrohungen und Entwertungen geworden sei. Als weiteres schweres Trauma sei die Vergewaltigung 1993 am Bremer Badesee zu erwähnen. Mit dem bisher angenommenen GdS von 30 werde nur ein Bruchteil der Traumafolgestörung berücksichtigt. Die Gutachterin Dr. E. habe die die Klägerin auf das Stärkste traumatisierende Vergewaltigung im Jahr 1993 nicht berücksichtigt. Zusammenfassend bestünden schwere Störungen vergleichbar mit einer schweren Zwangskrankheit mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die sich in nahezu allen Lebensbereichen zeigen, das Leistungsvermögen sei als aufgehoben einzuschätzen. Die posttraumatische Belastungsstörung mit Übergängen zur Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung sei unmittelbar auf den sexuellen Missbrauch im Jahr 1993 sowie die durch die Eltern erlittenen Gewalttaten zurückzuführen. Die rezidivierende depressive Störung sei überwiegend als Folge der Gewalttaten in den Jahren 1990 bis 2001 sowie des sexuellen Missbrauchs im Jahr 1993 zu sehen. Auch die anorexia nervosa und die Borderline-Persönlichkeitsstörung seien ursächlich auf die erlittenen Angriffe zurückzuführen. Der GdS für die anzuerkennenden Schädigungsfolgen betrage 80.

Mit Urteil vom 11. Juni 2015 hat das SG den hier angefochtenen Bescheid abgeändert und die Beklagte verurteilt, bei der Klägerin als Schädigungsfolge aufgrund der im Zeitraum von 1993 bis 2001 erlittenen Gewalttaten eine "psychische Störung" festzustellen und der Klägerin Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 80 ab dem 1. März 2010 zu gewähren. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, davon überzeugt zu sein, dass die Klägerin Opfer des von ihr geschilderten sexuellen Übergriffs am Badesee im Jahr 1993 geworden sei. Hinsichtlich der Tat selbst leide die Klägerin zwar an einer kurzzeitigen Amnesie. Unter Berücksichtigung des von ihr geschilderten Gesamtgeschehens bestünden aber keine ernsthaften Zweifel daran, dass die Tat wie von der Klägerin geschildert geschehen sei. Fest stehe außerdem, dass die Klägerin regelmäßig Opfer tätlicher Übergriffe durch den Stiefvater geworden sei. Diesbezüglich sei davon auszugehen, dass einige dieser körperlichen Übergriffe nicht von mit diesen in engem zeitlichen Zusammenhang stehenden psychischen Misshandlungen getrennt bewertet werden könnten. Ferner sei davon auszugehen, dass das strikte Verbot des Stiefvaters gegenüber der Klägerin, sich aus dem gefüllten Kühlschrank zu versorgen, einen Angriff im Sinne des § 1 OEG darstelle. Die Klägerin habe durch dieses Verbot unmittelbare körperliche Auswirkungen erlitten und Gewicht verloren, weil sie nicht genügend Nahrungsmittel zur Verfügung gehabt habe. Aufgrund dieser erlittenen Gewalttaten habe die Klägerin Anspruch auf Beschädigtenversorgung, die nach den schlüssigen und überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen Dr. N. nach einem GdS von 80 zu bemessen sei.

Gegen das ihr am 23. Juni 2015 zugestellte Urteil wendet sich die am 21. Juli 2015 eingegangene Berufung der Beklagten. Sie weist darauf hin, dass die körperlichen Übergriffe des Stiefvaters zum Nachteil der Klägerin anerkannt worden seien. Die rein psychische Einwirkung auf das Opfer (Erniedrigungen etc.) beinhalteten gerade keine physische Einwirkung auf den Körper, so dass die Voraussetzungen des tätlichen Angriffs nicht erfüllt seien. Allein daraus ergebe sich, dass die Ausführungen der Sachverständigen Dr. N. fehlerhaft seien, weil diese auch die psychischen Einwirkungen auf die Klägerin zur Grundlage der Einschätzung der Schädigungsfolgen und des GdS gemacht habe. Im Hinblick auf den sexuellen Übergriff am Badesee habe die Mutter der Klägerin zeugenschaftlich vernommen werden müssen. Das SG habe eine Fremdsuggestion ausgeschlossen, was bei der seit 2006 andauernden Traumatherapie nicht ohne Risiko sei. Aus der für die Klägerin gestellten Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung könne nicht auf den behaupteten erlittenen sexuellen Missbrauch zurückgeschlossen werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 11. Juni 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 11. Juni 2015 zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig und meint, dass entgegen der Auffassung der Beklagten ein Entschädigungsanspruch auch aufgrund der psychischen Misshandlungen sowie des Essensentzugs bestehe und der sexuelle Übergriff am Badesee hinreichend glaubhaft gemacht worden sei. Dementsprechend zutreffend sei die Sachverständige Dr. N. von den richtigen Anknüpfungstatsachen für ihr Gutachten ausgegangen.

Außer der Prozessakte hat dem Senat die Verwaltungsakte der Beklagten vorgelegen. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung einer schriftlichen Zeugenaussage der Mutter der Klägerin, Y. M. vom 12. Juli 2018. Außerdem hat der Senat den Stiefvater der Klägerin, Heinz I. zur Beweisaufnahme geladen. Dieser hat unter dem 9. August 2018 erklärt, sich auf sein Aussageverweigerungsrecht zu berufen. Auch die Geschwister der Klägerin, die Zeugen V. I., W. I. und X. I. haben nach ihrer Ladung als Zeugen erklärt, ihre Aussage vollständig zu verweigern. Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin Dr. O. und Dr. P. pp. beigezogen und sodann Beweis erhoben durch Vernehmung der Mutter der Klägerin, Y. M. wegen der Einzelheiten des Sachverhalts, des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie der Aussage der Zeugin wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig und begründet.

Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin demzufolge nicht in ihren Rechten. Der Klägerin steht kein weitergehender Anspruch auf Feststellung von Schädigungsfolgen sowie auf Gewährung von Beschädigtenrente gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 30 ff. Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu, als dies durch den angefochtenen Bescheid geregelt worden ist.

1. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin im Sommer 1993 am R. in J. Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG geworden ist.

a) Grundsätzlich bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG auch im Opferentschädigungsrecht anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf mit der Schädigung im Zusammenhang stehende Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az.: B 9 V 3/12 R).

Selbst wenn unter Zugrundelegung dieser Grundsätze der erleichterte Beweismaßstab des § 15 KOVVfG angewendet werden könnte - wovon der Senat aber ausdrücklich nicht ausgeht, vgl. dazu b) - wäre das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch einen unbekannten Täter im Sommer 1993 an dem R. in J. zur Überzeugung des Senats nicht glaubhaft gemacht i.S.d. § 15 KOVVfG.

Glaubhaftmachung i.S. des § 15 Satz 1 KOVVfG bedeutet die Darlegung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, 2014, § 128, RdNr. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 f m.w.N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, 2014, § 128, RdNr. 3d m.w.N.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht dagegen nicht aus, um die Beweisanforderung zu erfüllen.

Die diesbezüglichen Tatschilderungen der Klägerin sind schon aus sich heraus nicht glaubhaft (aa) und konnten außerdem von der Zeugin nicht bestätigt werden (bb).

aa) Die Tatschilderungen der Klägerin zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit zunehmendem Zeitabstand zu der behaupteten Tat einen ansteigenden Detailreichtum aufweisen und sich die Erinnerungen der Klägerin rund um das Tatgeschehen mehr und mehr ausdehnen. Bei zusammenfassender Würdigung der vorliegenden Tatschilderungen sowie der Einbettung der "Aufarbeitung" der Erinnerungen der Klägerin in verschiedenen Therapien lässt sich zur Überzeugung des Senats kein glaubhafter Handlungsverlauf nachvollziehen.

Ausweislich der für den Senat erlangbaren frühesten Tatschilderung der Klägerin vom 16. November 2010 berichtete sie damals, am See ein paar Schritte am Strand entlanggegangen zu sein, als sie von einem älteren Herrn angesprochen worden sei. Dieser habe sich besorgt gezeigt, dass sie sich ohne genügend Sonnenschutz in der Sonne bewege, habe sie zu sich gerufen und ihr erklärt, dass er sie eincremen müsse, um einen Sonnenbrand zu verhindern. Er habe sie zunächst am Rücken und später am ganzen Körper eingecremt. Er habe sie auch zwischen den Beinen angefasst. Sie habe weglaufen wollen. Er habe sie zurückgehalten und gesagt, das müsse so sein, um sie vor der Sonne zu schützen. Der Mann habe ihr sodann befohlen hinter ein Gebüsch im nahegelegenen Wäldchen mitzukommen und habe dort begonnen, sie noch zudringlicher zwischen den Beinen anzufassen. Sie sei in Panik gewesen, hier ende ihre Erinnerung und setze wieder in dem Moment ein, in dem plötzlich ihre Mutter neben ihr und dem Mann gestanden und sie streng aufgefordert habe, "geh dich waschen". Sie habe gehorcht und sei zum See ins Wasser gegangen. Anschließend sei sie aufgefordert worden, zusammenzupacken, um nach Hause zu gehen. Die Mutter habe sie danach mit keinem Wort auf den Vorfall angesprochen. Es habe keine ärztliche Untersuchung gegeben. Ansonsten habe sie sich keiner Person anvertraut.

Deutlich detailreicher beschrieb die Klägerin den sexuellen Missbrauch einige Jahre später während ihrer Behandlung im Zentrum für Integrative Psychiatrie. Ausweislich des Therapieberichtes vom 9. Mai 2014 soll der Mann bereits während des Eincremens auf seinem Strandhandtuch die Klägerin im Genitalbereich angefasst haben und bereits hier sei es zu einem Einführen der Finger in die Vagina gekommen. Der Mann habe die Klägerin daraufhin am Handgelenk gegriffen und sie in ein anliegendes Waldstück geführt. Dies habe er ihr gegenüber damit begründet, dass die Sonnencreme einziehen müsse und sie deshalb eine Runde um den See laufen würden. Der Mann sei mit der Klägerin dann zu einer Stelle im Wald gegangen, die von anderen Badegästen nicht hätte eingesehen werden können. Dort habe er sie erneut am ganzen Körper angefasst. Gegen ihren Willen seien sexuelle Handlungen vorgenommen worden, die durch die körperliche Überlegenheit des Täters erzwungen worden seien. Es sei so groben Berührungen der Geschlechtsteile gekommen, ein erneutes Einführen der Finger in die Vagina sei heftiger und brutaler durchgeführt worden. Dies habe zu starken Schmerzen geführt. Dann sei es zu einem dissoziativen Zustand gekommen, der Klägerin sei es nicht möglich, das weitere Geschehen zu erinnern. Das nächste Ereignis, das die Klägerin zu diesem Zeitpunkt zu erinnern vermochte, war das Erscheinen der Mutter im Wald. Diese habe die Klägerin angesprochen, dass sie sich waschen gehen solle, weil die Familie fahren wolle. An eine Interaktion zwischen der Mutter und dem Mann konnte die Klägerin sich nicht erinnern. Die Klägerin konnte allerdings erinnern, dass sie in diesem Moment auf dem Waldboden gesessen habe. Außerdem sei sie durch den Boden verschmutzt gewesen, was sie vermuten ließ, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt auf dem Boden gelegen haben müsse. Nachdem die Mutter sie zum Waschen geschickt habe, sei die Klägerin zum See zurückgegangen. Sie habe im Vaginalbereich geblutet und starke Schmerzen gehabt. Während des Waschens im See habe sie übermäßige Scham erlebt. Auch zu diesem Zeitpunkt sei die Situation so belastend gewesen, dass sich die Klägerin weiterhin in einem teildissoziativen Zustand befunden habe. Nach dem Waschen im See habe die Familie das Badegelände verlassen; eine Klärung der Situation habe auch im Nachhinein nicht stattgefunden.

Eine mit weiteren - im Vergleich zu den vorherigen Bekundungen teilweise abweichenden - Details versehene Schilderung der Vorgänge gab die Klägerin gegenüber der Sachverständigen Dr. N. im Mai 2015. Danach habe die Klägerin, nachdem sie mit dem Mann zu dem Gebüsch gegangen war und er sie am Handgelenk gepackt hatte, zu ihrer Mutter gehen wollen, aber der Mann habe zu ihr gesagt, sie solle nicht gestört werden. Ein wenig habe sie, die Klägerin, es genossen, Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie sei überfordert gewesen, habe das Ganze nicht verstanden, im Schambereich könne man doch keinen Sonnenbrand bekommen. Sie sei nicht aufgeklärt gewesen und habe es nicht sofort hergeben wollen, dass sich mal jemand um sie gekümmert habe. Auch sei ein Erwachsener ja eine Autorität für sie gewesen. Im Übrigen habe sie den Griff nicht lösen können. Irgendetwas sei nicht richtig gewesen, das habe sie gespürt. Es sei für sie stimmig gewesen, dass die Mutter beim Schlafen nicht gestört werden durfte. Der Mann sei sehr bestimmend gewesen, er habe alles plausibel erklärt. Dann sei dieser Wald da gewesen, dieses Gebüsch, das nicht einsehbar gewesen sei. Er habe weiter den Finger reingesteckt, es habe sie verletzt und geschmerzt und schließlich auch geblutet. Ihre Erinnerung habe aufgehört. Sie habe schließlich auf den Boden gelegen und ihr Unterleib habe fürchterlich geschmerzt. Sie sei schmutzig gewesen und habe nicht gewusst, was passiert sei. Plötzlich sei die Mutter dazugekommen. Die Klägerin sei sehr irritiert gewesen, dass die Mutter diese Stelle gefunden habe, es könne sein, dass sie das Ganze verfolgt habe, aber nicht eingegriffen habe. Die Mutter habe dann gesagt, sie solle sich waschen gehen und habe sie wieder allein gelassen, sei einfach gegangen. Das sei ihre letzte Reaktion darauf gewesen. Sie müsse es mitbekommen haben. Manchmal frage sie - die Klägerin - sich, ob die Mutter den Mann vielleicht beauftragt habe. Sie, die Klägerin habe für ein derartiges Verhalten keinerlei Erklärung, wie könne eine Mutter sich so verhalten? Vom See seien sie nach Hause gefahren und es sei nie wieder darüber geredet worden. Nie wieder ein Wort bis sie in Therapie gegangen sei.

Vor dem Hintergrund, dass sich die Berichte der Klägerin mit zunehmenden Zeitablauf durch einen wachsenden Detailreichtum auszeichnen und sich damit über die letzten Jahre ein sich stetig weiter entwickelnder Handlungsverlauf ergeben hat, erachtet der Senat im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit der Aussage zwei Umstände als besonders problematisch: Einerseits räumt die Klägerin selbst ein, dass ihre Erinnerungen an den Missbrauch (teilweise) verlorengegangen sind und "Erinnerungsfetzen" weiterhin nach und nach auftreten. Und andererseits kann aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen eindeutig entnommen werden, dass die Erinnerungen der Klägerin - zumindest teilweise - im Rahmen von Therapien erarbeitet worden sind. So lässt sich dem Bericht der S. -Klinik vom 14. Februar 2007 entnehmen, dass die Klägerin seit 2 ½ Jahren eine ambulante analytische Therapie zweimal wöchentlich wahrgenommen hat und im Rahmen dieser Therapie Erinnerungen aufgetaucht seien, die mit familiärer Gewalterfahrung und Missbrauch zusammenhingen. In der T. I wurde die Klägerin während des dortigen Aufenthaltes Ende 2007/Anfang 2008 mit tiefenpsychologisch fundierten integrativen Traumatherapiesettings behandelt und es erfolgte eine Traumaexposition mit Hilfe der Bildschirmtechnik. Im Jahr 2014 bezog sich der Schwerpunkt der Behandlung im Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZiP) sogar auf das einzelne Trauma des sexuellen Missbrauchs im Alter von 10 Jahren, wobei hauptsächlich die Technik des Imagery Rescripting (nach Smucker) eingesetzt worden ist. Hierbei handelt es sich um eine Therapietechnik, die sich durch die Arbeit in der Imagination auf der "inneren Bühne" des Patienten und der Hilfestellung des Therapeuten an den Patienten, Wissen "zu entdecken" auszeichnet. So stand in der letzten Intensivbehandlung im Juli 2014 im ZIP die imaginierte Konfrontation des Täters durch die erwachsene Klägerin im Vordergrund. Von den durchgeführten Imaginationen wurden außerdem Audioaufnahmen hergestellt, die sich die Klägerin weiter eigenständig anhören konnte (Entlassungsbrief des ZiP vom 29. Juli 2014).

Nach Kenntnis des Senats aus einer Vielzahl vergleichbarer Fälle beinhalten sämtliche o.g. Therapien ohnehin die Gefahr der suggestionsbedingten Ausbildung von Scheinerinnerungen. Berücksichtigt man außerdem, dass gerade bei psychisch sehr labilen Personen - wie der Klägerin - die Gefahr deutlich erhöht ist, dass Autosuggestionen entstehen, indem Erinnerungsfragmente ausgeweitet, verfälscht oder uminterpretiert werden (vgl. nur beispielhaft: Urteil des Senats vom 28. März 2019, L 10 VE 28/16), so kann bei zusammenfassender Betrachtung der nicht kohärenten, sich mit fortschreitendem Zeitablauf durch einen zunehmenden Detailreichtum auszeichnenden Geschehensschilderungen ein Überzeugungsbildung des Senats zu dem behaupteten sexuellen Missbrauch nicht gelingen. Beweise für das Behauptete sind deshalb außerhalb der eigenen Angaben der Klägerin zu suchen.

bb) Die Mutter der Klägerin, die Zeugin Y. M. konnte die Angaben der Klägerin zu den Geschehnissen am Badesee nicht bestätigen; sie hat stattdessen Aussagen getätigt, die sich nicht mit dem durch die Klägerin geschilderten Tathergang in Einklang bringen lassen.

So hat die Zeugin erklärt, dass sie aus ihrer heutigen Erinnerung noch vage sagen könne, dass dort am See Schilf stehe. Dies stehe auch heute noch da und habe da - so glaube die Zeugin - schon immer gestanden. Der sexuelle Missbrauch der Klägerin habe "sich wohl im Schilf" zugetragen. Sie erinnere einen Fall, da habe sie am See aufbrechen wollen und die Klägerin habe geweint und sie darauf aufmerksam machen wollen, dass etwas passiert sei, was für sie schlimm gewesen sei. Ohne, dass die Zeugin hierzu konkret befragt worden ist, hat sie von sich aus zu den Geschehnissen ausgeführt: "Ich kann heute nicht mehr genau erinnern, ob wir sowieso aufbrechen wollten oder ob das Ereignis dazu geführt hat, dass wir aufgebrochen sind. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich mit Elisabeth vielleicht zum See gegangen bin, um ihre Beine zu waschen". Auf Nachfrage des Gerichts hat die Zeugin sodann bekräftigt: "Es steht außer Frage, dass es den Vorfall gegeben hat, weil mir meine Tochter darüber immer wieder erzählt hat, weil es dieses Verfahren gibt und weil damals am See auch wirklich etwas passiert ist und ich damals nur die Bedeutung falsch eingeschätzt habe. Ich weiß, dass ein aufgelöstes Kind vor mir stand und mir klarmachen wollte, belästigt worden zu sein". Auch, wenn die Erinnerungen der Zeugin - so ihre eigene Aussage - sehr verwischt sind und Dinge verschwimmen, vermochte sie jedoch klar zu benennen, dass "das Einzige, was ich wirklich weiß, ist, dass Elisabeth auf mich zukam und sehr aufgelöst war. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, dass ich ihr in dieser Situation offensichtlich nicht ausreichend geholfen habe".

Damit aber ergeben sich zwei vollkommen unterschiedliche Geschehensschilderungen: Hat die Klägerin wiederholend bekundet, mit dem ihr unbekannten Täter in das nahegelegene Wäldchen hinter ein Gebüsch gegangen, dort missbraucht worden und in dieser Situation von der Mutter aufgefunden worden zu sein, so hat die Zeugin erklärt, dass sich der Missbrauch "wohl im Schilf" zugetragen habe und ein sehr aufgelöstes Kind auf sie zugekommen sei. Davon, dass die Zeugin die Klägerin gesucht und im naheliegenden Wäldchen mit dem Mann aufgefunden hat, hat die Zeugin von sich aus nichts berichtet. Im Gegenteil hat die Zeugin auf Vorhalt des Gerichtes deutlich ausgesagt, sich nicht daran erinnern zu können, zu der Missbrauchssituation zwischen dem Mann und der Klägerin hinzugekommen zu sein. Auf weitere Nachfrage des Gerichts zum Hinzutreffen der Mutter während oder kurz nach der Missbrauchsituation hat die Zeugin außerdem entschieden erklärt, dass sie "nun nicht glaube, dass ich nicht reagiert hätte oder diesen Mann einfach des Weges hätte ziehen lassen". Dabei hat die Zeugin eingeräumt, dass sie als Mutter vieles falsch gemacht habe. Sie hat gleichwohl bekräftigt, dass sie bestimmt eingeschritten wäre, wenn sie zu der von der Klägerin geschilderten Situation dazugekommen wäre. Abschließend hat die Zeugin erklärt, keine Situation vor Augen zu haben, in der sie im Schilf oder im Wald dazugekommen ist, als ein Mann die Klägerin befingert hat.

Auch im Hinblick auf die Verletzungen, das Blut und das Waschen am See gibt es keine übereinstimmenden Darstellungen der Klägerin und ihrer Mutter. So hat die Zeugin offenbar selbst nicht wahrgenommen, dass die Klägerin geblutet hat, denn zu den Verletzungen der Klägerin befragt, hat die Zeugin lediglich angegeben, dass ihre Tochter ihr erzählt habe, Blut an den Beinen gehabt zu haben. Außerdem hat die Zeugin erklärt, sich vage daran zu erinnern, mit der Klägerin zum See gegangen zu sein und sie dort gewaschen zu haben. Hingegen hat die Klägerin selbst erklärt, dass ihre Mutter sie alleine zum See geschickt habe und für die Mutter nach der Aufforderung "geh dich waschen" die Sache erledigt gewesen sei.

Zusammenfassend konnte die Zeugin die Behauptungen der Klägerin nicht stützen. Dabei hat der Senat durchaus den Eindruck gewonnen, dass die Zeugin der Klägerin mit ihrer Aussage grundsätzlich helfen wollte, weil sie mehrfach bekräftigt hat, dass nach ihrer Einschätzung die Behauptungen der Klägerin zutreffend sein müssen. Offenkundig konnte aber eine Erhärtung der Tatschilderung durch die Zeugin mangels deren Kenntnis des detailreichen Vortrages der Klägerin nur schlecht gelingen. Dies mag womöglich darauf beruhen, dass zwischen der Klägerin und ihrer Mutter nur sporadisch und eher unter schwierigen Vorzeichen Kontakt besteht, was sich nicht nur der Aktenlage entnehmen lässt, sondern was die Klägerin auch gegenüber dem Senat in der mündlichen Verhandlung noch einmal erklärt hat. Ein Anhaltspunkt dafür, dass die Zeugin im Hinblick auf den Geschehensablauf zu Ungunsten der Klägerin bewusst falsche Angaben gemacht, hat der Senat gleichwohl nicht.

b) Die Klägerin hat vorliegend ihre Mutter als Zeugin benannt, die zu den Geschehnissen des sexuellen Missbrauchs hinzugestoßen sein soll. Damit ist die Anwendbarkeit von § 15 KOVVfG ausgeschlossen. Denn es stellt einen Unterschied dar, ob ein Zeuge nicht vorhanden ist, oder ob ein vorhandener Zeuge das Behauptete schlicht nicht bestätigen kann. Dies ist keine Frage des fehlenden (Zeugen-)Beweises, wie ihn § 15 KOVVfG im Blick hat, sondern eine Frage der Beweiswürdigung. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Mutter der Klägerin während eines Teiles des Geschehensablaufes womöglich geschlafen hat, so dass ihr "eigene Wahrnehmungen" insofern nicht möglich gewesen sein können. Denn vor dem Hintergrund des behaupteten Hinzutretens der Zeugin im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch der am Boden liegenden, schmutzigen und blutenden zehnjährigen Klägerin durch einen fremden, erwachsenen Mann, ist es durchaus von Wert für die Beweiswürdigung, wenn die von der Klägerin benannte Zeugin insoweit nichts beobachtet, gehört oder sonst wahrgenommen hat. Dies gilt umso mehr, als die Zeugin die Mutter der damals zehnjährigen Klägerin gewesen ist. Die innerfamiliäre Situation der Klägerin zum damaligen Zeitpunkt war sicherlich prekär und wenig fürsorglich. Der Senat kann sich gleichwohl nicht vorstellen, dass die Zeugin in der geschilderten Situation nicht reagiert hätte oder aber das Ereignis etwa vergessen hätte.

Ist aber § 15 KOVVfG nicht anwendbar, so bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises. Weil der Senat den sexuellen Missbrauch am R. in J. schon nicht für glaubhaft hält, kann er erst recht nicht im Vollbeweis festgestellt werden.

2. Die von dem Stiefvater der Klägerin ausgehende psychische Gewalt (in Gestalt von Beschimpfungen, Erniedrigungen, Drohungen mit Heimunterbringung), die Bedrohung mit einem Messer, das Verbot, sich aus dem Kühlschrank zu bedienen, das Verlassenwerden durch die Mutter und die Einbeziehung in das der Mutter geltende Stalking stellen unter Anwendung der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) keine tätlichen Angriffe i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG dar.

Die Vernachlässigung von Kindern und auch eine missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge - selbst wenn sie das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährden oder schädigen - können nicht als Gewalttat im Sinne des OEG angesehen werden (vgl. Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 1 OEG, Rdnr. 51; vgl. auch BSG, Beschluss vom 10.05.2017, B 9 V 75/16 B - zu "desolaten Familienverhältnissen"). Eine erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle rein seelischer Misshandlungen verbietet sich. Im Gegensatz zum sexuellen Missbrauch von minderjährigen Kindern, bei dem das BSG eine erweiternde Auslegung zugelassen hat, fehlt es bei rein seelischen Misshandlungen an Tätlichkeiten, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R). Auch im Zusammenhang mit der Vernachlässigung von Minderjährigen setzt die Annahme eines tätlichen Angriffs i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG voraus, dass dieser auf eine körperliche Einwirkung gerichtet ist; eine allein intellektuell vermittelte bzw. psychische Einwirkung genügt nicht (vgl. BSG, Beschluss vom 23. März 2015, B 9 V 48/14 B; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13. Mai 2019, L 7 VE 11/18). Auch die Vorenthaltung der für das psychische Wohlbefinden eines Kindes notwendigen emotionalen Zuwendung durch die Eltern erfüllt nicht die Voraussetzungen eines tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 S 1 OEG. Hieran ändert auch nichts, dass die "psychische Gewalt" des Stiefvaters der Klägerin teilweise mit dessen physischer Gewalt im engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang einherging. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts umfasst der schädigende Vorgang i.S. des § 1 Abs. 1 S.1 OEG nur den konkreten tätlichen Angriff und das diesem unmittelbar folgende gewaltgeprägte Geschehen (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VG 2/10), sodass gewaltsame Schläge des Stiefvaters der Klägerin nicht zusammen mit einer Vernachlässigung des Kindes zu einem "Handlungsbündel" zusammengefasst werden können (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25. September 2014, L 12 VE 22/11 sowie BSG, Beschluss vom 23. März 2015, B 9 V 48/14 B).

Die Vernachlässigung des Kindes durch die Eltern in Gestalt unzureichender Ernährung und Pflege stellt keinen vorsätzlichen tätlichen Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S 1 OEG dar, wenn die Eltern kein Bewusstsein für die dadurch erfolgte gesundheitliche Schädigung des Kindes hatten und mit der Verantwortung für das Kind überfordert waren (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25. September 2014, L 12 VE 22/11 sowie BSG, Beschluss vom 23. März 2015, B 9 V 48/14 B). Insoweit aber trägt schon die Klägerin selbst vor, ihr Stiefvater habe aus Desinteresse an den Kindern gehandelt und sei mit der Haushaltsführung und der Kindeserziehung überfordert gewesen. Außerdem ist im Hinblick auf das gegenüber der Klägerin ausgesprochene Verbot, an gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen und sich aus dem Kühlschrank zu bedienen, Folgendes festzustellen: Die Klägerin hat insoweit vorgetragen, dass sie zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt gewesen sei. Außerdem habe ihr der Stiefvater monatlich 60,00 Euro zur Verfügung gestellt. Einerseits ist in diesem Zusammenhang die Behauptung der Klägerin, der Stiefvater habe ihr Euro zur Verfügung gestellt - auffällig, denn die Deutsche Mark wurde erst am 1. Januar 2002 als Bargeld durch den Euro ersetzt. Andererseits ist auch nicht erkennbar, dass durch das entsprechende Verhalten des Stiefvaters überhaupt eine gesundheitliche Schädigung der Klägerin eingetreten ist, noch, dass eine solche gesundheitliche Schädigung etwa von ihm beabsichtigt oder bewusst in Kauf genommen worden ist. Immerhin hatte der Stiefvater der beinahe erwachsenen Klägerin ein monatliches Taschengeld zur Verfügung gestellt - wenn auch in viel zu geringem Umfang. Ärztliche Berichte, die für die Klägerin durch eine mangelnde Ernährung hervorgerufene Gesundheitsstörungen dokumentierten, liegen nicht vor.

Auch "Stalking" ist nicht generell als tätlicher Angriff i.S.d. OEG zu werten (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011, B 9 VG 2/10 R; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21. Februar 2013, L 10 VE 28/10). Der Senat hat keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es im Rahmen der - nach Aussage der Klägerin eigentlich ihrer Mutter geltenden - Stalkinghandlungen in irgendeiner Art und Weise zu einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegenüber der Klägerin gekommen ist.

Schließlich hat der Senat keinen Anhaltspunkt dafür, dass die stattgehabte Bedrohung der Klägerin mit einem Messer durch ihren Stiefvater von derart großer objektiver Gefahr für Leib und Leben der Klägerin gewesen ist, dass hierin eine Gewalttat gesehen werden könnte. Die Drohung mit Gewalt ist nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 2. Oktober 2008, B 9 VG 2/07 R) umso eher als tätlicher Angriff zu bewerten, je größer die objektive Gefahr für Leib und Leben des Bedrohten ist, wobei eine feste Grenzziehung nicht möglich ist. Das BSG ist z.B. von einer Gewalttat ausgegangen, wenn der Täter das Opfer vorsätzlich mit einer scharf geladenen und entsicherten Schusswaffe bedroht hat, auch wenn es an einem Tötungs- und Verletzungsvorsatz des Täters gefehlt hat (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juli 2002, B 9 VG 4/01 R). Ausweislich der Mitteilung des Polizeipräsidiums Bremen über eine im Rahmen des Polizeidienstes bekanntgewordene erhebliche soziale Notlage vom 11. Mai 1996 soll nach Aussagen der Klägerin der Stiefvater "bereits öfter mit einem Küchenmesser in der Hand durch die Wohnung gelaufen sein und gedroht haben, alle umzubringen". Weiter hielten die Polizeibeamten fest, dass nach einer Streiterei am Abend der Vater einem der Kinder ein Glas Milch ins Gesicht geschüttet habe, und sich dieses Kind mit der Klägerin sodann auf die Straße geflüchtet hätte. Von einer Telefonzelle aus riefen beide Kinder über Notruf 110 die Polizei um Hilfe, da sie sich nicht wieder ins Haus trauten. Bei dem Eintreffen der Polizeibeamten empfingen die beiden Kinder diese auf der Straße, im Haus wurde ein Gespräch mit dem Vater geführt. Dieser schilderte die Situation und machte seine Hilflosigkeit deutlich. Nach einer Rücksprache mit den beiden Kindern, die auf der Straße gewartet hatten, wurden diese sodann wieder in das Haus geschickt. Ausweislich des Vermerkes des Amtes für Soziale Dienste vom 24. Mai 1996 teilte der Stiefvater später telefonisch mit, dass er die Kinder nicht mit einem Messer bedroht, dem Kind wohl aber Milch in das Gesicht geschüttet habe. Im Übrigen ergibt sich aus diesem Vermerk, als auch aus dem Bericht desselben Amtes vom 1. August 1996 die deutliche Überforderungssituation des Stiefvaters, die mit einer Vernachlässigung der Kinder einherging und zu zwei Kriseneinsätzen der Polizei und des sozialpsychiatrischen Dienstes führte. Dafür, dass der Stiefvater am 11. Mai 1996 oder zu einem anderen Zeitpunkt ein Messer gezielt gegen die Klägerin gerichtet hat, gibt es hingegen keine Anhaltspunkte. Das konkrete Risiko der Klägerin, durch die Bedrohung mit dem Messer einen körperlichen Schaden zu erleiden, hat nach Auffassung des Senats deshalb nicht dasjenige Maß erreicht, wie dies in dem gedachten Fall gewesen wäre, dass der Täter eine geladene und entsicherte scharfe Schusswaffe unmittelbar auf die Klägerin gerichtet hätte.

3. In Bezug auf die Höhe des GdS vermag der Senat den Überlegungen der Sachverständigen Dr. N. nicht zu folgen. Denn das Gutachten dieser Sachverständigen ist mit dem Mangel behaftet, dass es als Anknüpfungstatbestände zur Bestimmung der Schädigungsfolge auch den von der Klägerin behaupteten sexuellen Missbrauch am R. sowie die von dem Stiefvater ausgeübte psychische Gewalt einhergehend mit der (emotionalen) Vernachlässigung und Überforderung der Klägerin sowie das Verbot, sich aus dem Kühlschrank zu bedienen, einbezieht. Außerdem hat diese Sachverständige in ihrem Gutachten vom 4. Mai 2015 notiert, dass die Klägerin besonders belastet gewesen sei durch den Schlaganfall ihrer Oma, die sie in U. betreut habe. Und weiterhin sei für die Klägerin sehr belastend gewesen, dass ihre Schwester ihr erzählt habe, dass ihr Bruder sie vergewaltigt habe. Das habe die Klägerin "umgeworfen", da sie beide möge und der Bruder damals erst 12 oder 13 Jahre alt gewesen sei. Dieses Ereignis habe die Klägerin aus der Bahn geworfen, sie habe immer wieder stationär psychiatrisch aufgrund ihrer Erkrankungen behandelt werden müssen. Auch bezüglich dieser Feststellungen finden sich in dem Gutachten dieser Sachverständigen keinerlei differenzierende Überlegungen zu der Frage, welche Gesundheitsstörungen der Klägerin Folge der durch den Stiefvater erlittenen Schläge/Prügel sind - und welche nicht.

Sowohl nach der Einschätzung der Klägerin, als auch der Gutachterin Dr. E. sowie der Sachverständigen Dr. N. können die bei der Klägerin vorliegenden psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht nur auf das Schlagen/die Prügel des Stiefvaters zurückgeführt werden; vielmehr sind die Ursachen für das bei der Klägerin bestehende Krankheitsbild multifaktoriell und insbesondere auch durch solche Geschehnisse wesentlich mitgeprägt, die nicht als tätlicher Angriff nach § 1 Abs. 1 OEG qualifiziert werden können. Für den Senat nachvollziehbar und überzeugend hat insoweit bereits die Gutachterin Dr. E. darauf hingewiesen, dass sich im Hinblick auf die Frage der Ursächlichkeit die Wirkungen der multiplen schädigenden Ereignisse von vielerlei Seiten ausgehend nicht mehr auseinanderdividieren lassen. Insoweit lasse sich lediglich vermuten, dass die schädigenden Ereignisse einen Teil der bei der Klägerin bestehenden Schädigungsfolge, nämlich der posttraumatischen Belastungsstörung mit verursacht hätten. Dabei hat die Gutachterin den Schädigungsanteil (als Folge der durch den Stiefvater erlittenen Prügel/Schläge) mit einem GdS von 30 bemessen. Der Senat hat dazu keine besseren Erkenntnisse als die Ausführungen der Sachverständigen Dr. E ...

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.