Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.04.2016, Az.: 10 LA 23/16

Betriebsprämie; Betriebsprämienregelung; CC; CC-Verstoß; Fahrlässigkeit; Kürzungssatz; Sanktionsarithmetik; Sanktionssystem; Vorsatz; Wiederholter Verstoß

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.04.2016
Aktenzeichen
10 LA 23/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 43229
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 28.01.2016 - AZ: 12 A 138/14

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Hat ein Betriebsinhaber in einem Kalenderjahr neben einem fahrlässigen Erstverstoß auch fahrlässig einen wiederholten Verstoß sowie zusätzlich vorsätzliche Verstöße jeweils in Bezug auf denselben Bereich der anderweitigen Verpflichtungen begangen, so ist der (Regel-)Kürzungssatz des Art. 72 Abs. 1 UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr.1122/2009 für einen vorsätzlichen Verstoß ermessensgerecht zu erhöhen.

Gründe

Der Zulassungsantrag der Beklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg und bleibt im Übrigen erfolglos.

Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2013, soweit darin seine Betriebsprämie für das Jahr 2013 im Umfang von 85% gekürzt worden ist. Die Kürzung in diesem Umfang beruht auf einer Mehrzahl dem Kläger vorgehaltener Verstöße gegen anderweitige Verpflichtungen (Cross - Compliance = CC). Das Verwaltungsgericht Oldenburg hat in seinem Urteil vom 28. Januar 2016 diese CC-Verstöße als gegeben angesehen, aber die erfolgte Addition bzw. Kumulation der für die einzelnen Verstöße angenommenen (Teil-)Kürzungssätze auf einen Gesamtsatz von 85% beanstandet und die Beklagte zur Neubescheidung unter Beachtung seiner Rechtsauffassung verpflichtet, soweit die Kürzung über einen Satz von 40% hinausgeht.

Im Einzelnen hat es folgende CC-Verstöße des Klägers bejaht:

- aus dem Bereich B „Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanze“ (Nrn. 6 bis 15 Anhang II Verordnung (EG) Nr. 73/2009):

- einen fahrlässigen, mit 5% zu bewertenden Verstoß gegen Nr. 10 durch unzulässige Verwendung eines Tierarzneimittels sowie

- einen vorsätzlichen, mit 20% zu bewertenden Verstoß gegen Nr. 11 durch mangelhafte Dokumentation über abgegebene Tierarzneimittel

- und aus dem Bereich C „Tierschutz“ (Nrn. 16 bis 18 Anhang II Verordnung (EG) Nr. 73/2009):

- einen vorsätzlichen, mit 20% zu bewertenden Verstoß gegen Nr. 16 durch Haltung von Kälbern auf Böden mit zu großer Spaltenbreite

- einen fahrlässigen, aber wiederholten und deshalb mit 15 % zu bewertenden Verstoß durch Haltung von Kälbern ohne ausreichenden Kontakt zu anderen Kälbern

- einen fahrlässigen, mit 5% zu bewertenden Verstoß gegen Nr. 18 durch die unterlassene Hinzuziehung eines Tierarztes zur Behandlung von Rindern und schließlich

- einen vorsätzlichen, mit 20% zu bewertenden Verstoß durch Haltung von Bullen in einem zu dunklen Stall.

Die o.a. einzelnen Kürzungssätze seien im Bescheid allerdings ermessensfehlerhaft addiert und „gekappt“ worden. Rechtsfehlerfrei sei lediglich ein Kürzungssatz von insgesamt 40% angenommen worden. Denn nach Art. 70 Abs. 6 Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 stellten die beiden erstgenannten Verstöße aus dem Bereich B nur einen einzigen Verstoß dar und hätten daher nur mit einem Kürzungssatz von 20% bewertet werden dürfen. Ebenso wenig habe danach die Beklagte die beiden fahrlässigen Verstöße aus dem Bereich C über die 20% für den vorsätzlichen Verstoß hinaus berücksichtigen dürfen. Zulässig sei lediglich eine im Ermessen der Beklagten stehende Erhöhung dieses Satzes von 20% wegen des weiteren vorsätzlichen Verstoßes. Der sich demnach für den Bereich B ergebende Satz von 20% und der Mindestsatz von 20% für den Bereich C seien nach Art. 71 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 auf 40 % zu addieren. Über die Erhöhung des Kürzungssatzes im Bereich C (wegen des weiteren vorsätzlichen Verstoßes) habe die Beklagte erneut zu entscheiden.

Der auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, weil in dem insoweit angegriffenen Umfang ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts Oldenburg bestehen und noch hinreichend dargelegt worden sind; der Zulassungsantrag hat insoweit allerdings nicht umfassend Erfolg, weil die Beklagte mit ihren auf diesen Zulassungsgrund bezogenen Ausführungen unter Ziffer 1 der Begründung ihres Zulassungsantrages ihren Bescheid selbst nicht mehr im vollem Umfang der Kürzung von 85%, sondern lediglich noch im Umfang von 55% verteidigt.

Sie billigt dabei ausdrücklich die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Beschränkung des Kürzungssatzes auf 20% für alle Verstöße aus dem Bereich B sowie die Addition dieses Kürzungssatzes von 20% mit dem „Teilkürzungssatz“, der sich für die Verstöße aus dem Bereich C ergibt.

Im Ergebnis zu Recht wendet sie sich allerdings gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, für den Bereich C habe der o.a. fahrlässige und mit 15% bewertete Wiederholungsverstoß („Kälberboxen ohne Sicht- und Berührungskontakt“) nicht zu den 20% für die vorsätzlichen CC-Verstöße im Bereich „Tierschutz“ addiert werden dürfen.

Die Beklagte stützt diese von ihr im Zulassungsverfahren verteidigte Addition zunächst auf Art. 71 Abs. 6 Satz 1 Verordnung (EG) Nr. 1122/2009; dieser Begründungsansatz überzeugt nicht. Denn nach der Systematik handelt es sich bei Art. 71 Abs. 6 (Satz 1) Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 um eine Regel für Kürzungen nur bei Fahrlässigkeit, wie sich auch aus der im folgenden Satz 2 enthaltenen Beschränkung des Gesamtkürzungssatzes auf 15% zeigt.

Vorliegend geht es aber um die davon abweichende Fallgestaltung, ob und ggf. inwieweit (u.a.) der Kürzungssatz für einen fahrlässigen Wiederholungsverstoß und der gesonderte Kürzungssatz für einen bzw. mehrere vorsätzliche (Erst-)Verstöße zu addieren oder zu kumulieren sind oder nur der jeweilige Höchstsatz maßgebend ist.

Soweit das Verwaltungsgericht eine Erhöhung des höheren Teilkürzungssatzes für den vorsätzlichen Verstoß auch in einem solchen Fall unter Berufung auf Art. 70 Abs. 6 Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 ausgeschlossen hat, überzeugt dies ebenfalls nicht. Dabei kann offen bleiben, ob sich die Norm überhaupt auf Wiederholungsfälle bezieht. Jedenfalls sieht sie als Rechtsfolge nur vor, dass dann rechtlich ein Verstoß vorliegt, nicht aber in welcher Höhe dieser Verstoß zu sanktionieren ist.

Stattdessen erscheint es in einem solchen Fall sachgerecht, der Kumulation u.a. eines fahrlässigen Wiederholungsverstoßes und eines bzw. mehrerer vorsätzlicher Verstöße wie bei der Kumulation mehrerer vorsätzlicher Verstöße durch eine ermessensgerechte Erhöhung des Regelkürzungssatzes von 20% für einen (einzigen) vorsätzlichen Verstoß nach Art. 72 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 Rechnung  zu tragen.

Insoweit greift daher die ergänzende Bezugnahme der Beklagten auf die von ihr sog. Additionsregel 3 durch. Diese ist Teil der umfangreichen, bereits in der ersten Instanz (in einer älteren Fassung) übersandten, vom Verwaltungsgericht unberücksichtigten sog. „Sanktionsarithmetik Cross - Compliance“, die sinngemäß eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift darstellt. Danach wird u. a. der Kürzungssatz von vorsätzlichen Verstößen „mit der Summe der Wiederholungsverstöße“ addiert. Eine Ermessensausübung i. d. S. erscheint nicht sachwidrig.

Bei Anwendung der sog. Additionsregel 3 ergibt sich also für den Bereich C durch Addition des Teilkürzungssatzes für vorsätzlichen Erstverstoß von 20% mit dem Teilkürzungssatz von 15% für den fahrlässigen Wiederholungsverstoß ein (Mindest-) Kürzungssatz für diesen Bereich von 35 %. Rechnet man die weiteren 20% für die Verstöße aus dem Bereich B hinzu, ergibt sich der von der Beklagten im Zulassungsverfahren noch geltend gemachte Gesamtkürzungssatz von 55%. Da das Verwaltungsgericht bereits eine Kürzung von 40% für rechtmäßig erachtet hat, ist die Berufung in Höhe der Differenz von 15% entsprechend einer Summe von 2.960, 61 EUR (bei einem Ausgangsbetrag nach „Modulation und Haushaltsdisziplin“ von 19.737, 39 EUR) zuzulassen.

Ob die Berufung insoweit aus anderen Gründen, etwa in Anwendung des sog. Günstigkeitsprinzips nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EG/EURATOM) Nr. 2988/95, erfolglos bleibt, ist im Berufungsverfahren zu klären.

Eine weitergehende Zulassung der Berufung kann nicht erfolgreich auf den von der Beklagten ergänzend geltend gemachten Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützt werden.

Die Beklagte wirft dazu die Frage auf,

„ob das Verwaltungsgericht bei CC-Verstößen anstelle der zuständigen Verwaltungsbehörde, welche bei festgestellten(m) Vorsatz eine Kürzung von 85 % vorgenommen hat, eine Ermessensentscheidung treffen darf … .“

Der Frage kommt die erforderliche grundsätzliche Bedeutung aus zwei Gründen nicht zu:

Sie ist zunächst schon nicht - wie erforderlich - entscheidungserheblich. Das Verwaltungsgericht hat die Ermessensentscheidung der Beklagten gerade nicht durch eine eigene ersetzt. Vielmehr hat es die getroffene und teilweise, nämlich im Umfang eines über 40% hinausgehenden Kürzungssatzes, für rechtswidrig befundene Ermessensentscheidung der Beklagten aufgehoben und die Beklagte in Übereinstimmung mit § 113 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO zur Neubescheidung verpflichtet.

Andernfalls wäre die Frage nach den §§ 113 Abs. 5, 114 VwGO ersichtlich zu verneinen, ohne dass es dazu der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedürfte.

Soweit die Berufung zugelassen worden ist, wird das Zulassungsverfahren als Berufungsverfahren unter dem neuen Aktenzeichen

10 LB 29/16

fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO).