Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 24.06.2009, Az.: S 9 SB 231/07

Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" für Blind für einen u.a. an visueller Agnosie leidenen Schwerbehinderten

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
24.06.2009
Aktenzeichen
S 9 SB 231/07
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 21828
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOSNAB:2009:0624.S9SB231.07.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
LSG Niedersachsen-Bremen - 20.01.2011 - AZ: L 12 SB 54/09

Redaktioneller Leitsatz

Eine faktische Blindheit im Sinne des § 72 Abs. 5 Alt. 2 SGB XII liegt auch dann vor, wenn nachgewiesen ist, dass die visuelle Wahrnehmung des Betroffenen deutlich stärker betroffen ist als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten.

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I. , vom 31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 11.06.2007 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 20.06.2006 das Merkzeichen "Bl" zuzuerkennen.

  3. 3.

    Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

1

Im vorliegenden Rechtsstreit begehrt der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" für Blind im Wege der Neufeststellung. Der 1997 geborene Kläger leidet u.a. unter schwerstgradiger spastischer Tetraparese, unter multiplen Kontrakturen der Hüft- und Kniegelenke sowie unter einer hochgradigen Sehminderung. Das Versorgungsamt J., Außenstelle I., stellte mit zuletzt bindend gewordenem Bescheid vom 31.7.1998 einen GdB von 100 fest und erkannte die Merkzeichen G, B, aG, Bl, H und RF zu. Der GdB-Feststellung lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde: "Entwicklungsstörungen mit Koordinationsstörungen, hirnorganische Anfälle bei frühkindlichem Hirnschaden" (Einzel-GdB 100); "Blindheit" (Einzel-GdB 100). Im Juli 1999 leitete der Beklagte ein Überprüfungsverfahren ein. Vor Abschluss des Verfahrens verzichteten die Eltern des Klägers gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 13.2.2002 auf weitere Ansprüche aus der Blindengeldkasse. Mit Bescheid vom 19.2.2002 stellte das Versorgungsamt fest, dass der Verzicht auf die mit Bescheid vom 31.7.1998 erfolgte Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" zulässig war. Am 20.6.2006 beantragte der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl". Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I., holte einen Befundbericht von dem Augenarzt K. ein. Anschließend lehnte es mit Bescheid vom 31.7.2006 die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" ab. Zur Begründung führte es aus, dass nach den Richtlinien der DOG keine Blindheit bestehe. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und veranlasste den behandelnden Augenarzt L., eine ärztliche Stellungnahme gegenüber dem Landesamt abzugeben. Das Landesamt holte Gutachten von M. (Radiologe) und von der Augenärztin N. ein. Nach der Auswertung dieser Unterlagen wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.6.2007 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine im Vergleich zu anderen Modalitäten starke Betroffenheit des Sehapparates nicht habe festgestellt werden können, da höhergradige Schädigungen im Bereich der Sehrinde, der Sehbahnen oder der Sehnerven nicht nachgewiesen seien. Hiergegen hat der Kläger am 9.7.2007 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung der Klage trägt er ergänzend und vertiefend vor, dass eine corticale Blindheit vorliege. Er fixiere keinerlei Objekte oder Licht. Ein Nystagmus sei nicht auslösbar. Lediglich das rechte Auge reagiere leicht auf direkten Lichteinfall. Eine spontane Reaktion der Pupillen finde nicht statt. Er sei in der Wahrnehmung von akustischen Reizen nicht eingeschränkt. Er leide unter einer faktischen Blindheit. Er beruft sich auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31.1.1995 (1 RS 1/93) und vom 20.7.2005 (B 9a BL 1/05 R). Der Kläger hat diverse Arztbriefe der Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde O. eingereicht.

2

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I. vom 31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 11.06.2007 aufzuheben,

  2. 2.

    den Beklagten zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "Bl" ab 20.06.2006 zuzuerkennen.

3

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

4

Der Beklagte meint demgegenüber, das Merkzeichen könne nicht zuerkannt werden. Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines schriftlichen augenfachärztlichen Sachverständigengutachtens vom 14.9.2008 von Prof. Dr. Dr. Thanos. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend verwiesen. Sie sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

5

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I. vom 31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 11.06.2007 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" ab 20.06.2006 (Antragsdatum), weil die entsprechenden medizinischen Voraussetzungen vorliegen. I. Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden im Verfahren nach § 69 Abs. 1 SGB IX neben dem Vorliegen einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die Blindheit. Ist ein schwerbehinderter Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) oder entsprechender Vorschriften, so ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "Bl" einzutragen. Blind ist derjenige, dem das Augenlicht vollständig fehlt (vgl. Baur in Mergler/Zink, SGB XII-Kommentar, § 72 Rn. 15 m.w.N.). Nach § 72 Abs. 5 SGB XII stehen blinden Menschen Personen gleich, deren beidäugige Gesamtsehschärfe nicht mehr als 1/50 beträgt oder bei denen dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleichzuachtende, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens vorliegen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen P. ist der Kläger zwar nicht blind nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG), da kein organischer Befund vorliegt. Die Augen und ihre Adnexe sowie die aufsteigende Sehbahn (Sehnerv, Sehtrakt, Sehstrahlung und Sehrinde) sind nach seinen Feststellungen weitgehend intakt. Es liegt lediglich eine Makulaunreife vor. Auch ist nicht nachweisbar, dass der Kläger faktisch blind im Sinne von § 72 Abs. 5 Alt. 1 SGB XII ist, da seine Sehschärfe wegen fehlender Fixationsmöglichkeit nicht feststellbar ist. Er reagiert nur rudimentär und nicht reproduzierbar auf Lichtquellen, ohne dabei gezielte Blickwendungen oder gar Folgebewegungen auszuführen. Es ist kein okulo-kinetischer Nystagmus vorhanden, eine Fixationsaufnahme ist beidseits negativ. Allerdings leidet der Kläger an einer anderen Störung des Sehvermögens mit einem solchen Schweregrad, die der Beeinträchtigung der Sehschärfe von 1/50 gemäß § 72 Abs. 5 Alt. 2 SGB XII gleichzusetzen ist. Schon nach dem Wortlaut des § 72 Abs. 5 Alt. 2 SGB XII ist es nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan selbst beschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans (so auch die ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. etwa Urteil vom 20.7.2005, B 9a Bl 1/05 R). Es ist nach der Rechtsprechung des BSG, der sich u.a. auch das LSG Niedersachsen-Bremen angeschlossen hat (vgl. etwa Urteile vom 17.6.2008, L 13 SB 51/05; vom 13.7.2007, L 5 SB 90/05), allerdings zu differenzieren, ob das Sehvermögen, d.h. das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob bei vorhandener Sehfunktion (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann. Bei umfangreichen cerebralen Schäden muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Dabei genügt zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Der Kläger leidet an einer faktischen Erblindung im vorgenannten Sinn. Nach den Feststellungen des Sachverständigen P. ist erwiesen, dass bei dem Kläger eine faktische Erblindung vorliegt. Die Ursache der faktischen Erblindung liegt im Bereich einer sehwahrnehmungsbetonten Agnosie (visuelle Agnosie), die mit einer Herabsetzung des Sehvermögens durch die Makulaunreife, mit fehlender Fixationsfähigkeit und mit einer Störung der gezielten Augenfolgebewegungen verbunden ist. Auf taktile und akustische Reize reagiert der Kläger. Die visuelle Wahrnehmung ist damit deutlich stärker betroffen als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. II. Etwas anderes ergibt sich ab dem 1.1.2009 auch nicht aus Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (VersMedV). Diese Vorschrift ist keine Vorschrift im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV, die dem § 72 Abs. 5 SGB XII entspricht. Nach Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 VersMedV ist ein behinderter Mensch mit visueller Agnosie oder anderen gnostischen Störungen nicht blind. Bei Zugrundelegung dieser Definition wäre dem Kläger das Merkzeichen "Bl" nicht zuzuerkennen. 1. Dieser Begriff der Blindheit weicht von der Begriffsbestimmung des § 72 Abs. 5 SGB XII ab. Das BSG ging bislang von einem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit aus (BSG a.a.O.). Daran ist auch nach Inkrafttreten der Versorgungsmedizinischen Grundsätze festzuhalten. 2. Weder § 69 SGB IX noch § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV verweisen für die Feststellung von weiteren gesundheitlichen Merkmalen wie der Blindheit ausdrücklich auf die VersMedV. a) Die Kammer hat schon Zweifel, ob die Begriffsbestimmung in Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 VersMedV bei der Feststellung, ob einem schwerbehinderten Menschen das Merkzeichen "Bl" zuzuerkennen ist, überhaupt anwendbar ist. Denn § 69 Abs. 4 SGB IX verweist nur hinsichtlich des Verfahrens auf Abs. 1. Bezüglich materieller Voraussetzungen findet sich kein Verweis auf Abs. 1. b) Nach systematischer Auslegung bezieht sich die in § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX angeordnete entsprechenden Geltung der Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung nur auf die Feststellungen nach § 69 Abs. 1 SGB IX. Dazu gehört nicht die Feststellung, wann jemand als blind anzusehen ist. Der Verweis in § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX selbst enthält keine Bezugnahme auf die Feststellung von weiteren gesundheitlichen Merkmalen wie der Blindheit. 3. Zudem ist Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 VersMedV nicht von der Ermächtigungsnorm § 30 Abs. 17 BVG gedeckt. Selbst wenn man vorgenannte Bedenken nicht teilt und über § 69 Abs. 4, Abs. 1 Satz 5 SGB IX den § 30 Abs. 17 BVG anwenden wollte, könnte Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 VersMedV nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Diese Norm ist nach Ansicht der Kammer nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 30 Abs. 17 BVG erfasst. Nach § 30 Abs. 17 BVG wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 BVG maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 BVG aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln. Nicht erfasst ist von dieser Ermächtigungsgrundlage die Festlegung von Grundsätzen zur Bestimmung von gesundheitlichen Merkmalen wie Blindheit.

6

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.