Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 20.01.2011, Az.: L 12 SB 54/09

Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" im Schwerbehindertenrecht

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
20.01.2011
Aktenzeichen
L 12 SB 54/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 35933
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2011:0120.L12SB54.09.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 24.06.2009 - AZ: S 9 SB 231/07

Redaktioneller Leitsatz

1. Für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" ("Blindheit") kommt es regelmäßig nicht darauf an, welche Ursachen der Störung des Sehvermögens zugrunde liegen oder ob das Sehorgan selbst geschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich, wenn sie bereits das Erkennen-Können und nicht erst das Benennen-Können betreffen. Mit diesem Verständnis ist es unvereinbar, die Fähigkeit des Erkennen-Könnens ausschließlich dem sog. "Sehapparat" (Auge, Sehbahn, äußere Sehrinde) zuzuordnen und jenseits dessen allein die Funktion des Benennen-Könnens zu vermuten.

2. Ob dem Erfordernis, dass die visuelle Wahrnehmung für den Nachweis faktischer Blindheit bei generalisierten cerebralen Schäden deutlich stärker als andere Sinnesmodalitäten betroffen sein muss, in jedem Fall zu folgen ist, oder ob dies im Einzelfall zu einer sachwidrigen Benachteiligung mehrfach schwerst (wahrnehmungs-)behinderter Menschen führen kann, bleibt offen. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 24.6.2009 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Kläger die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" (Blindheit) festzustellen sind.

2

Der 1997 geborene Kläger ist seit seiner Geburt mehrfach behindert, u.a. durch ein Anfallsleiden, eine schwere Tetraspastik mit multiplen Kontrakturen, vor allem der Hüft- und Kniegelenke, sowie einer psychomotorischen Retardierung. Daneben besteht bei dem Kläger eine erhebliche Beeinträchtigung der Sehfunktion, deren Ursachen und deren Ausmaß im Einzelnen zwischen den Beteiligten streitig sind.

3

Mit Bescheid vom 31.7.1998 stellte der Beklagte - Versorgungsamt L. - erstmals das Vorliegen dieser Behinderungen und einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung), "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung), "H" (Hilflosigkeit), "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) sowie "Bl" ab dem 1.1.1998 wegen "Entwicklungsstörungen mit Koordinationsstörungen, hirnorganischen Anfällen bei frühkindlichem Hirnschaden" und "Blindheit" fest. Später (Bescheid v. 9.9.1998) erweiterte der Beklagte diese Feststellungen auf den Zeitraum seit der Geburt (8.11.1997) des Klägers.

4

In den Jahren ab 1999 überprüfte der Beklagte die bisherigen Feststellungen. In diesem Zusammenhang verzichtete der Vater des Klägers als dessen gesetzlicher Vertreter mit Schreiben vom 30.2.2000 sinngemäß auf die weitere Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" (sowie die weitere Zahlung von Blindengeld), weil er dem Kläger keine weiteren Untersuchungen mehr zumuten wolle. Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 19.2.2002 den Verzicht auf das Merkzeichen fest und löschte das Merkzeichen "Bl" im Mai 2002 aus dem Schwerbehindertenausweis des Klägers.

5

Im Juni 2006 beantragte der Kläger durch seinen gesetzlichen Vertreter erneut das Merkzeichen "Bl" (sowie die Gewährung von Landesblindengeld). Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht des Augenarztes M. vom 18.7.2006 ein und ließ diesen in einer Stellungnahme seines Ärztlichen Dienstes (ÄD; Dr. N.) vom 26.7.2006 auswerten. Mit Bescheid vom 31.7.2006 lehnte er daraufhin den Antrag auf Feststellung der Voraussetzungen für das streitige Merkzeichen ab. Die letzte augenärztliche Untersuchung vom 14.7.2006 habe zur Diagnose einer visuellen Agnosie (mangelnde Fähigkeit zur Wahrnehmung/"Verarbeitung" visueller Reize) geführt. Danach bestehe entsprechend den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) keine Blindheit. Hiergegen erhob der Kläger unter Bezug auf ergänzende Ausführungen des Augenarztes M. vom 6.9.2006 Widerspruch. Der Beklagte zog daraufhin weitere Befundunterlagen vom Kinderarzt Dr. O. bei, unter denen sich u.a. auch ein Arztbrief der neurologischen Abteilung des Krankenhauses P., Q., vom 7.11.2006 befand. Diese Unterlagen ließ der Beklagte erneut durch seinen ÄD (Dr. R., Stellungnahme v. 28.11.2006) auswerten. Ergänzend forderte der Beklagte Kernspintomographie-Aufnahmen über den Kläger vom S. Klinikum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, T., an und ließ diese von dem Radiologen Dr. U. (Bericht v. 29.1.2007) auswerten. Schließlich veranlasste der Beklagte eine Begutachtung des Klägers durch die Augenärztin Dr. V., T ... In ihrem Gutachten vom 4.5.2007 gelangte die Gutachterin nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 17.4.2007 zu der Beurteilung, dass sich trotz weitestgehend normalem morphologischem Befund bei dem Kläger nur rudimentäre Reaktionen auf Licht, gar keine Reaktionen auf Objekte, kein okulo-kinetischer Nystagmus (experimentell ausgelöstes "Augenzittern") und keine gezielten Augenbewegungen nachweisen lassen. Nur das rechte Auge zeige eine direkte Lichtreaktion, so dass insoweit von einer zumindest rudimentären Verarbeitung visueller Reize auszugehen sei, während auf der linken Seite "eine Störung irgendwo im Bereich der afferenten Pupillenbahn" vorliegen müsse. Beim Kläger sei nicht von einer vollkommen gleichmäßig generalisierten Herabsetzung seiner Wahrnehmung und Verarbeitungsfähigkeit auszugehen, sondern von einem in besonderem Maße reduzierten Sehvermögen. Die Minderung der Sehfunktion werde bei ihm durch eine Kombination einer Störung des Sehvermögens im Sinne einer Schädigung der tiefen Sehbahn mit einer visuellen Verarbeitungsstörung und einer Störung gezielter Augenbewegungen sowie einer fehlenden Fixationsfähigkeit verursacht. Eine visuelle Agnosie im engeren Sinne liege nicht vor. Er leide unter einer Minderung der Sehfunktion die in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleich zu achten sei; daher sei der Kläger "faktisch blind". Der Beklagte ließ dieses Gutachten in einer weiteren Stellungnahme seines ÄD (Dr. R.) vom 4.6.2007 auswerten. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.6.2007 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Der Beweis des Vorliegens von Funktionsstörungen der Augen im Sinne einer Sehschärfenminderung oder einer Gesichtsfeldeinschränkung sei nicht erbracht worden. Beim Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden müsse sich im Vergleich zu anderen Hirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Eine solche starke Betroffenheit des "Sehapparates" habe aber nicht festgestellt werden können. Auch wenn die Gutachterin Dr. V. zu einer anderen Einschätzung gelangt sei, könne das Merkzeichen "aus den dargelegten Gründen" nicht "zuerkannt" werden. Hiergegen hat der Kläger durch seine Eltern am 9.7.2007 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben und zur Begründung u.a. geltend gemacht, er sei, wie von verschiedenen Ärzten festgestellt worden sei, faktisch blind. Er könne weder Objekte noch Licht fixieren, auch ein Nystagmus sei nicht auslösbar. Lediglich sein rechtes Auge reagiere leicht auf direkten Lichteinfall. Damit leide er unter einer Sehstörung, die verhindere, dass er überhaupt Gegenstände erkenne. Demgegenüber sei die von der Beklagten zugrunde gelegte Diagnose einer visuellen Agnosie von keinem seiner behandelnden Ärzten je gestellt worden. Eine visuelle Agnosie sei nicht die Ursache seiner Blindheit. Die Beklagte verkenne im Übrigen die Anforderungen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl". Der Kläger hat ergänzend Arztbriefe der Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde des W. aus den Jahren 1998 bis 2000 vorgelegt, wonach er auf akustische Reize reagiere und eine Kontaktaufnahme über die Stimme möglich sei. Demgegenüber erfolgte jedoch keine Fixation von Gegenständen; eine Lichtreaktion liege nur diskret und verzögert vor.

6

Der Beklagte ist der Klage aus den von ihm bereits im Widerspruchsbescheid genannten Gründen sowie unter Bezug auf die Stellungnahme des ÄD (Dr. R.) vom 4.6.2007 entgegengetreten. Ergänzend hat er eine weitere Stellungnahme von Dr. R. vom 24.1.2008 vorgelegt.

7

Das SG hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts ein Gutachten von Prof. Dr. Dr. X., Leiter der Abteilung für Experimentelle Ophthalmologie in der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde des W., eingeholt. In dem Gutachten vom 14.9.2008 gelangt der Sachverständige nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 1.9.2008 u.a. zu der Feststellung, dass der morphologische Befund der Augen und ihrer Adnexe (Anhänge) mit Ausnahme einer Makula-Unreife weitgehend normal ist und eine Erblindung nicht erklärt. In funktioneller Hinsicht reagiere der Kläger nur rudimentär und nicht reproduzierbar auf Lichtquellen ohne dabei gezielte Blickwendungen oder gar Folgebewegungen auszuführen. Eine Pupillenreaktion sei zwar träge aber beidseits vorhanden und als Zeichen dafür zu werten, dass Lichtreize vom Auge in das Gehirn gelangen. Auch die elektrophysiologische Ableitung von visuell evozierten Potentialen (VEP) zeige keine Unterbrechung der aufsteigenden Sehbahn und lasse eine komplette Zerstörung der Sehrinde mit nachfolgender Rindenblindheit sehr unwahrscheinlich erscheinen. Damit spreche mehr dafür als dagegen, dass sich der Schaden jenseits der primären Sehhirnrinde befinde und es sich um eine zentrale Verarbeitungsstörung der von der primären Sehrinde weitergeleiteten visuellen Information handele. Gesehene Objekte würden demnach nicht als solche erkannt und eingeordnet; dies entspreche dem Bild einer visuellen Agnosie. Eine Blindheit nach den Richtlinien der DOG könne nur angenommen werden, wenn ein diese erklärender Befund vorliege. Dies sei jedoch nicht der Fall. Allerdings bewiesen die funkionellen Befunde, dass beim Kläger ein Gesamtzustand vorliege, der einer "faktischen Erblindung" entspreche. Die Ursache der faktischen Erblindung liege im Bereich einer sehwahrnehmungsbetonten Agnosie (visuellen Agnosie), die mit der Herabsetzung des Sehvermögens durch die Makula-Unreife, der fehlenden Fixationsfähigkeit sowie mit der Störung der gezielten Augenfolgebewegungen kombiniert sei.

8

Mit Urteil vom 24.6.2009 hat das SG die angefochtenen Bescheide des Beklagten aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 20.6.2006 das Merkzeichen "Bl" "zuzuerkennen". Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, zwar sei nicht nachweisbar, dass der Kläger "faktisch blind" im Sinne von § 72 Abs. 5, 1. Alt. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) sei, da seine Sehschärfe wegen fehlender Fixationsmöglichkeit nicht feststellbar sei. Allerdings leide der Kläger an einer anderen Störung des Sehvermögens mit einem Schweregrad, der der Beeinträchtigung der Sehschärfe von 1/50 gleichzusetzen sei. Hierfür sei es nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruhe oder ob das Sehorgan selbst beschädigt sei. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führten, seien beachtlich, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Zwar sei nach der Rechtsprechung zu differenzieren, ob das Sehen- bzw. Erkennen-Können oder "nur" die Identifikation des Gesehenen beeinträchtigt sei. Allerdings genüge es, dass die visuelle Wahrnehmung bei zentralen Verarbeitungsstörungen deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Dies sei beim Kläger der Fall, wie der Sachverständige Prof. Dr. Dr. X. festgestellt habe. Zwar liege die Ursache der faktischen Erblindung des Klägers im Bereich einer (sehwahrnehmungsbetonten) Agnosie, die jedoch mit der Makula-Unreife, mit fehlender Fixationsfähigkeit und mit der Störung der gezielten Augenfolgebewegungen verbunden sei und imÜbrigen die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betreffe als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Aus den seit dem 1.1.2009 geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG; = Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung v. 10.12.2008, BGBl. I, 2412) ergebe sich keine andere Beurteilung, da diese bereits keine Vorschrift im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 der insoweit maßgeblichen Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) sei. Die Festsetzung in Teil A.6 VMG, wonach visuelle Agnosien oder andere gnostische Störungen nicht als Blindheit zu begreifen seien, weiche von der Begriffsbestimmung des § 72 Abs. 5 SGB XII, auf die § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV ausschließlich verweise, ab. Zudem sei von einem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit auszugehen. Demnach bestünden schon Zweifel, ob die Begriffsbestimmung der VMG bei der Feststellung, ob einem schwerbehinderten Menschen das Merkzeichen "Bl" "zuzuerkennen" ist, überhaupt anwendbar sei. Zudem sei Teil A.6 der VMG nicht von der Ermächtigungsnorm des § 30 Abs. 17 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gedeckt, da diese keine Ermächtigung zur Festlegung von Grundsätzen zur Bestimmung von gesundheitlichen Merkmalen wie Blindheit enthalte.

9

Gegen dieses ihm am 7.8.2009 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 3.9.2009 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Begründung hat der Beklagte sein Vorbringen aus der ersten Instanz bekräftigt und auf eine weitere Stellungnahme seines ÄD (Dr. R.) vom 21.8.2009 Bezug genommen. Er hat betont, der Kläger leide an einer visuellen Agnosie, bei deren Vorliegen sowohl nach den (früheren) "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) sowie nach den VMG Blindheit zu verneinen sei. Dies habe das SG selbst erkannt. Die Auffassung, dass der Blindheitsbegriff der VMG nicht anwendbar sei, sei nicht nachvollziehbar. Vielmehr entspreche es der gefestigten Rechtsprechung, dass der Blindheitsbegriff der AHP bzw. der VMG für die Feststellungen nach demSozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) heranzuziehen sei.

10

Der Beklagte beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 24.6.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

14

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und betont, dass es sich bei ihm "nicht allein" um eine visuelle Agnosie handele, sondern darüber hinaus weitere Beeinträchtigungen seines Sehvermögens bestünden.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und der zum Verfahren beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen sind.

16

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die angefochtenen Bescheide zu Recht aufgehoben und den Beklagten verurteilt, beim Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen bei Blindheit festzustellen. Die Überprüfung der Sach- und Rechtslage im Berufungsverfahren führt nicht zu einer anderen Beurteilung; der Kläger erfüllt vielmehr auch zurÜberzeugung des Senats die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl".

18

Das SG hat in seinem Urteil bereits den für die Entscheidung heranzuziehenden Maßstab des § 69 Abs. 1, 4 SGB IX, § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV und § 72 Abs. 5 SGB XII ausführlich und zutreffend dargestellt. Einer Wiederholung bedarf es daher hier nicht. Soweit sich daneben aus Nr. 23 Abs. 4 der AHP (2008) für den Zeitraum ihrer Geltung (bis 31.12.2008) ein Widerspruch zum Blindheitsbegriff des § 72 Abs. 5 SGB XII ergeben haben könnte, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Zwar war nach Nr. 23 Abs. 4 AHP der behinderte Mensch mit einer visuellen Agnosie oder einer anderen gnostischen Störung nicht "blind". Selbst wenn dies aber als genereller Ausschluss von "Blindheit" bei jedweder "visuellen Agnosie" verstanden werden könnte und beim Kläger unstreitig (u.a.) von dieser Diagnose auszugehen wäre, würde dies seinem Anspruch auf das Merkzeichen "Bl" nicht entgegenstehen. Denn die Festlegungen der AHP sind nach der Rechtsprechung des BSG dann nicht beachtlich, wenn sie hinter Erkenntnissen der Wissenschaft und der Rechtsprechung zurückbleiben, wie das BSG für die Definition der Blindheit bereits mit Urteil vom 20.7.2005 festgestellt hat (B 9a BL 1/05 R = SozR 4-5921 Art. 1 Nr. 2). Danach kann auch bei Vorliegen einer visuellen Agnosie ein behinderter Mensch jedenfalls dann als blind angesehen werden, wenn bei ihm ein kombiniertes Krankheitsbild vorliegt, das zumindest auch mit einer cerebralen Beeinträchtigung des Sehvermögens oder einer sonstigen Beeinträchtigung des Sehorgans einhergeht (BSG, aaO.; vgl. ferner LSG Niedersachsen-Bremen v. 30.6.2009 - L 13 SB 62/04 [unter weiterem Bezug auf BSG v. 23.4.2009 - B 9 SB 3/08] und v. 17.6.2008 - L 13 SB 51/05). Damit bedurften bereits die AHP einer differenzierenden Betrachtung, die einen pauschalen Ausschluss von "Blindheit" bei "visueller Agnosie" verbot (vgl. zur insoweit vergleichbaren Problematik der aktuellen Bewertung von Diabetes Mellitus aus jüngerer Vergangenheit nur u.a. BSG v. 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R = SozR 4-3250 § 69 Nr. 9). Für die Zeit ab dem 1.1.2009 kann offen bleiben, ob die VMG nunmehr als "entsprechende Vorschrift" gem. § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV anzuwenden wären und ob sie (auch insoweit) nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX, § 30 Abs.17 BVG ermächtigungskonform erlassen wurden (vgl. bejahend allerdings LSG Nordrhein-Westfalen v. 16.12.2009 - L 10 SB 39/09; LSG Baden-Württemberg v. 14.8.2009 - L 8 SB 1691/08; LSG Sachsen v. 21.12.2005 - L 6 SB 11/04; Schlette, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 72 Rn. 4; kritisch - mit anderer Begründung - auch: Dau, in: jurisPR-SozR 24/2009, Anm. 4; offen gelassen: SG Stuttgart v. 30.6.2010 - S 24 SB 1531/08). Denn anders als die AHP beanspruchen die nunmehr als Rechtsverordnung ergangenen VMG nicht mehr, eine allgemeingültige Definition von "Blindheit" vorzugeben: Der Verordnungsgeber hat vielmehr im Eingangssatz zu A.6 der VMG auf die noch in Nr. 23 Abs. 1 AHP enthaltenen Bezugnahme auf Teil 2 SGB IX, das Einkommenssteuergesetz (EStG) und das Straßenverkehrsgesetz (StVG) verzichtet (vgl. erneut Dau, aaO.). Maßgeblich ist mithin auch insoweit ausschließlich der sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV i.V.m. § 72 Abs. 5 SGB XII ergebende Maßstab. Dessen Voraussetzungen sind im Fall des Klägers indes erfüllt.

19

Der Kläger ist - wie das SG ebenfalls zutreffend erkannt hat - zwar nicht blind im engeren Sinne, weil ihm das Augenlicht nicht vollständig fehlt (vgl. zu diesem Maßstab ergänzend auch Schlette, in: Hauck/Noftz, aaO., m. zahlr. w.N.; Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 72 Rn. 4; Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII,§ 72 Rn. 4). Vielmehr reagiert er nach den Feststellungen sowohl der Gutachterin Dr. V. als auch des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. X., an deren Richtigkeit sich für den Senat keine Zweifel ergeben, zumindest rudimentär noch auf Lichtreize (insbesondere auf dem rechten Auge). Es kann auch nicht festgestellt werden, ob der Kläger wegen Herabsetzung seiner beidäugigen Gesamtsehschärfe auf 1/50 einem Blinden gleichzustellen ist (§ 72 Abs. 5, 1. Alt. SGB XII), denn eine Visusprüfung, die hierfür Voraussetzung wäre, ist beim Kläger nicht möglich. Er ist jedoch blinden Menschen im Sinne von§ 72 Abs. 5, 2. Alt. SGB XII gleichzustellen, weil bei ihm eine dem Schweregrad dieser (reduzierten) Sehschärfe gleichzuachtende, nicht nur vorübergehende Störung des Sehvermögens vorliegt ("faktisch blind").

20

Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, sind für die Beurteilung nicht nur die Beeinträchtigung der Sehschärfe und die Einschränkung des Gesichtsfeldes zu berücksichtigten, sondern alle Störungen des Sehvermögens, soweit sie in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleich zu achten sind (vgl. erneut BSG v. 20.7.2005, aaO., m. zahlr. Hinw. auf die vorangegangene Rspr.). Nicht maßgeblich ist dabei, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan (Auge, Sehbahn) selbst geschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans (vgl. bereits BSG v. 31.1.1995 - 1 Rs 1/93 = SozR 3-5920 § 1 Nr. 1). Allerdings ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen, d.h. das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Benennen-Könnens erfüllen mithin die Voraussetzungen faktischer Blindheit nicht, wie die Rechtsprechung wiederholt etwa in Bezug auf ein vollständiges apallisches Syndrom angenommen hat (BSG v. 20.7.2005, aaO.; LSG Berlin-Brandenburg v. 29.1.2009 - L 11 SB 284/09; LSG Bayern v. 1.8.2006 - L 15 BL 13/05 - sowie v. 17.1.2006 - L 15 BL 1/05; SG Stuttgart, aaO.).

21

Nach diesem Maßstab könnte sich der Senat einem Verständnis, das die Fähigkeit des Erkennen-Könnens ausschließlich dem sog. "Sehapparat" (Auge, Sehbahn, Sehrinde) zuordnet und jenseits der Sehrinde allein die Funktion des Benennen-Könnens vermutet, nicht anschließen. Hiervon scheint indes der Beklagte auszugehen. Die angesprochene Rechtsprechung versteht "Sehen" unter Bezug auf entsprechende neuropsychologische Erkenntnisse demgegenüber ausdrücklich als Prozess, der verschiedene Stufen durchläuft und auf jeder Stufe - bis in das Gehirn - eine "Verarbeitung" des visuellen Reizes bereits für das Erkennen erfordert (vgl. insb. erneut BSG v. 20.7.2005, aaO.). Anderenfalls könnten cerebrale Schäden allein nicht als ausreichend für die Annahme "faktischer Blindheit" betrachtet werden. Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden ist allerdings in Abgrenzung zu Störungen aus dem Bereich der geistig-seelischen Behinderungen eine weitere Differenzierung erforderlich: Hier muss es sich im Vergleich zu anderen, möglicherweise ebenfalls eingeschränkten Gehirnfunktionen um eine spezifische Störung des Sehvermögens handeln. Zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens hat es die Rechtsprechung dabei genügen lassen, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten (BSG v. 20.7.2005, aaO.; LSG Niedersachsen-Bremen v. 17.6.2008, aaO., sowie v. 13.7.2007 - L 5 SB 90/05; LSG Bayern v. 27.6.2006 - L 15 BL 4/03; LSG Sachsen v. 21.12.2005 - L 6 SB 11/04).

22

Ob dem Erfordernis, dass die visuelle Wahrnehmung bei allgemeinen cerebralen Schäden deutlich stärker als andere Sinnesmodalitäten betroffen sein muss, in jedem Fall zu folgen ist, oder ob dies im Einzelfall zu einer sachwidrigen Benachteiligung mehrfach schwerst (wahrnehmungs-)behinderter - und eben auch "blinder" - Menschen führen kann, muss im vorliegenden Fall nicht abschließend entschieden werden. Denn der Kläger leidet nach dem Ergebnis der aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Erkenntnisse jedenfalls u.a. an einer gerade auch das visuelle Erkennen-Können in schwerem Maße beeinträchtigenden Sehstörung. Hierbei stützt sich der Senat insbesondere wiederum auf die Mitteilungen der Gutachterin Dr. V. und des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. X. sowie die Angaben in den vorliegenden Krankenhausbehandlungsberichten: Danach war der Kläger bei den jeweiligen gutachterlichen Untersuchungen nicht in der Lage, visuellen Kontakt aufzunehmen. Er fixierte nicht, konnte die Blickrichtung nicht gezielt zu Geräuschquellen wenden und reagierte praktisch nicht auf visuelle Reize. Reflektorische Lidschlussreflexe auf plötzlich herannahende Objekte oder Abdeckversuche konnten beiderseitig ebenso wenig provoziert werden wie ein okulo-kinetischer Nystagmus. Vielmehr zeigten sich ein deutlicher, mittelfrequenter Vertikalnystagmus mit Komponente nach oben (Up-Beat-Nystagmus) sowie beidseitig unkontrollierte Augenbewegungen. Die Pupillenreaktion auf direkten und indirekten Lichteinfall war zwar vorhanden, jedoch sehr träge. Zudem besteht eine seitengleiche Makulahypoplasie. Demgegenüber zeigten sich andere Wahrnehmungsmodalitäten des Kläger nicht oder nur erheblich weniger beeinträchtigt: So zeigte der Kläger schon im frühen Säuglingsalter Schreck- und Lauschreaktionen und lautierte. Es erfolgte eine Blindenfrühförderung, die zu veranlassen ohne Wahrnehmungsfähigkeiten des Klägers in anderen Modalitäten wenig sinnvoll gewesen wäre. Bei beiden gutachterlichen Untersuchungen der Jahre 2007 (Dr. V.) und 2008 (Prof. Dr. Dr. X.) war er schließlich ansprechbar und zeigte eine gut entwickelte Wahrnehmungsfähigkeit für taktile und akustische Reize. Damit aber liegt beim Kläger u.a. auch eine spezifische Sehstörung vor, während andere Sinnesmodalitäten bei ihm wenigstens teilweise und in jedenfalls größerem Umfang vorhanden sind. Daran, dass es sich bei der Sehstörung des Klägers um eine dem Schweregrad eines Verlustes der Sehschärfe auf 1/50 gleichzuachtende, nicht nur vorübergehende Störung des Sehvermögens handelt, hat der Senat ebenfalls keine Zweifel; dem Kläger bieten sich nach allen vorliegenden Erkenntnissen keine visuellen Orientierungsmöglichkeiten, eine wesentliche Besserung seines Sehvermögens in absehbarer Zeit ist ebenfalls nicht ersichtlich.

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Der Senat hatte bei dieser Sachlage schließlich auch keine Veranlassung, den medizinischen Sachverhalt - etwa durch die Einholung eines neurophysiologischen oder neuropsychologischen Sachverständigengutachtens - weiter aufzuklären. Eine derartige ergänzende Sachverhaltsaufklärung wäre nur notwendig geworden, wenn sich die streitentscheidenden Fragen nicht bereits auf der Grundlage der vorhandenen (augenfachärztlichen) Feststellungen beantworten ließen. Dies ist jedoch nach dem Gesagten nicht der Fall: Die beim Kläger festgestellten Störungen des Sehvermögens betreffen bereits seine Fähigkeit des Erkennen-Könnens und rechtfertigen deshalb seine Gleichstellung mit blinden Menschen nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV i.V.m. § 72 Abs. 5 SGB XII. Streitrelevante Erkenntnisse durch eine ergänzende medizinische Sachaufklärung waren daher nicht zu erwarten.

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Der Senat setzt sich mit seiner Entscheidung schließlich nicht in Widerspruch zu anderen, insbesondere obergerichtlichen Entscheidungen. Soweit entsprechende Ansprüche behinderter Menschen in anderen Verfahren (außerhalb von Beurteilungen bei apallischem Syndrom) verneint wurden, handelte es sich durchweg um Fallgestaltungen, bei denen die Betroffenen entweder noch über ein signifikantes visuelles Vermögen verfügten (vgl. etwa LSG Niedersachsen-Bremen v. 30.6.2009, aaO.: Greifen nach Gegenständen, gezieltes räumliches Bewegen, Nutzen von Lichtquellen zur Betrachtung etc.; LSG Sachsen v. 21.12.2005, aaO.: Fixieren von Gegenständen vor den Augen) oder bei denen die Betroffenen auch in Sinnesmodalitäten außerhalb des visuellen Bereichs vergleichbar deutliche Einschränkungen zeigten (vgl. etwa LSG Niedersachsen-Bremen v. 13.7.2007, aaO.: parallele Einschränkung des Hör- und des Wärme-/Kälteempfindungsvermögens, orale Ernährung unmöglich etc.).

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Demnach war die Berufung zurückzuweisen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf den Vorschriften der §§ 183, 193 SGG.