Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 04.07.2012, Az.: S 81 R 84/11

Kostenerstattung für bereits beschaffte Hörgeräte i.R.d. gesetzlichen Krankenversicherung

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
04.07.2012
Aktenzeichen
S 81 R 84/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 32559
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOLDBG:2012:0704.S81R84.11.0A

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid der Beklagten vom 22.09.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2011 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Die Beigeladene zu 1. wird verpflichtet, ihren Bescheid vom 19.05.2010 zu ändern.

  3. 3.

    Die Beigeladene zu 1. wird verurteilt, der Klägerin Kosten in Höhe von 2111,00 EUR zu erstatten.

  4. 4.

    Die Beigeladene zu 1. trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der anderen Beteiligten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt Kostenerstattung für bereits beschaffte Hörgeräte in Höhe von 2.111 EUR. Die am 30.06.1953 geborene Klägerin ist rentenversichert bei der Beklagten und krankenversichert bei der Beigeladenen zu 1.). Sie leidet nach mehreren Hörstürzen unter Schwerhörigkeit und einem Tinnitus. Sie ist berufstätig bei dem E. Hilfsdienst und betreut dort den Hausnotruf, wobei sie Notrufe entgegen nehmen und Telefongespräche sowie direkte Gespräche mit Kunden führen muss. Sie erledigt aber auch administrative Aufgaben im Büro. Am 06.05.2010 erhielt die Klägerin eine Verordnung ihres HNO-Arztes über eine Hörgeräteversorgung beidseits. Daraufhin testete sie bei einem Hörgeräteakustiker, dem Beigeladenen zu 2.), verschiedene Hörgeräte. Darunter: eigenanteilsfreie Geräte: Oticon Go Pro VC Sprachverstehen 90% (85% im Störschall) Nova 2 Sprachverstehen 90% (85% im Störschall) eigenanteilspflichtige Geräte: Next 4 Moci Sprachverstehen 90% Sprass Premium 10er Batt Sprachverstehen 100% (90% im Störschall). Der Beigeladene zu 2.) beantragte für die Klägerin im Mai 2010 bei der Krankenversicherung der Klägerin, der Beigeladenen zu 1.), die Kostenübernahme für die Geräte Sprass Premium 10 er Batt, indem er die durch den Vertrag zur Komplettversorgung mit Hörsystemen zwischen der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker KdöR und dem Verband der Angestellten Krankenkdassen e.V. (im Folgenden: BIHA-Vertrag) vereinbarte Versorgungsanzeige ausgefüllt einreichte. Mit Bescheid vom 19.05.2010 übernahm die Beigeladene zu 1.) die Kosten für die Geräte in Höhe der Versorgungspauschale von 1192,80 EUR. Die Klägerin beantragte am 26.07.2010 bei Deutschen Rentenversicherung Bund die Kostenübernahme in Höhe des über die Versorgungspauschale hinausgehenden Eigenanteils für die Hörgeräteversorgung. Sie legte eine Bescheinigung ihres Arbeitgebers bei, wonach eine fehlerfreie Kommunikation am Telefon, im Büro und in unterschiedlichen Umgebungen erforderlich sei. Missverständnisse könnten Leben und Gesundheit der Hausnotrufteilnehmer gefährden. Der Antrag wurde seitens der DRV Bund an die Beklagte weitergeleitet. Am 01.09.2010 bestätigte Klägerin bei dem Beigeladenen zu 2.) den Erhalt der Geräte Sprass Premium. Am 06.09.2010 unterschrieb sie, über das Angebot einer eigenanteilsfreien Versorgung informiert worden zu sein und sich für eine Versorgung mit Eigenanteil entschieden zu haben Mit Rechnung vom 27.09.2010 berechnete der Beigeladene zu 2.) der Klägerin einen über die Versorgungspauschale hinausgehenden einen Eigenanteil in Höhe von 2.111 EUR. Der Betrag wurde von der Klägerin beglichen. Mit Bescheid vom 22.09.2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Es liege kein berufsspezifischer Mehrbedarf vor, da Mitarbeitergespräche, Kunden- und Telefongespräche sowie das Führen von Kraftfahrzeugen und das Hören im Störgeräusch Bestandteil jeder Berufsausübung seien. Die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit an sich gehöre zu den elementaren Grundbedürfnissen, die von der Krankenversicherung zu ermöglichen sei. Die Klägerin sei generell auf Hörhilfen angewiesen, nicht nur in ihrem Beruf. Die Klägerin legte am 13.10.2010 Widerspruch ein. Die Kassengeräte seien nicht in der Lage gewesen, sie angemessen zu versorgen. Die von der Krankenversicherung angebotene Versorgung würde nicht die heutigen technischen Möglichkeiten berücksichtigen. Im häuslichen Bereich sei sie mit den Kassengeräten zurechtgekommen, aber nicht im Beruf. Mit Widerspruchsbescheid vom 01.02.2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie wiederholte und vertiefte ihr Vorbringen aus dem Bescheid. Die Klägerin hat am 21.02.2011 Klage erhoben. Sie trägt vor, eine gestörte Kommunikation könne in ihrem Beruf Leib und Leben gefährden. Für den Fall, dass kein berufsspezifischer Mehrbedarf angenommen werde, bestehe jedenfalls ein Anspruch gegen die Beigeladene zu 1.).

2

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Bescheid der Beklagten vom 22.09.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2011 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beigeladene zu 1. zu verurteilen, ihren Bescheid vom 19.05.2010 zu ändern,

  3. 3.

    die Beigeladene zu 1. zu verurteilen, der Klägerin Kosten in Höhe von 2111,00 EUR zu erstatten.

3

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

4

Sie beruft sich weiter auf eine Zuständigkeit der Krankenversicherung.

5

Die Beigeladene zu 1.) beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Sie verweist auf den BIHA-Vertrag, wonach die Klägerin ihrer Ansicht nach hätte eigenanteilsfrei versorgt werden können. Erst durch die Beiladung habe sie erfahren, dass ein Eigenanteil erhoben werde. Sie habe keine Möglichkeit gehabt, Einfluss auf die Versorgung zu nehmen. Zudem habe die Klägerin unterschrieben, mit einer Versorgung mit Eigenanteil einverstanden zu sein. Der Beigeladene zu 2.) stellt keinen Antrag. Er ist der Meinung, die eigenanteilsfreien Geräte seien für den häuslichen Bereich ausreichend gewesen. Es liege ein berufsspezifischer Mehrbedarf vor. Die vertraglich festgelegte Mindestausstattung entspreche nicht dem aktuellen Stand der Technik und diese sei auch kostenmäßig mit den Festbeträgen nicht zu realisieren. Aus den Anpassberichten sei erkennbar, dass er im Rahmen des BIHA-Vertrages arbeite. Das Gericht hat die Beigeladene zu 1.) als erstangegangener Leistungsträger notwendig beigeladen, da sie als leistungspflichtiger Versicherungsträger in Betracht kommt. Das Gericht hat zudem den Beigeladenen zu 2.) als versorgenden Akustiker einfach beigeladen. Der Rechtsstreit betrifft ihn, da nicht auszuschließen ist, dass er in der Folge des Rechtsstreits durch die Beigeladene zu 1.) in Regress genommen wird. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen zu 1.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

7

Die Klage hat Erfolg. Sie ist in dem durch den Tenor ausgesprochenen Umfang zulässig und begründet. Die Klägerin hat gegen die Beigeladene zu 1.) einen Anspruch auf Kostenerstattung für die bereits beschafften Hörgeräte.

8

1.

Der Anspruch richtet sich nicht gegen die Beklagte, sondern gegen die Beigeladene zu 1.), denn diese war erstangegangener Leistungsträger und damit endgültig zuständig für die Hörgeräteversorgung der Klägerin. Zwar war der zweite Antrag vom 26.07.2010 von der Deutschen Rentenversicherung Bund an die Beklagte weitergeleitet worden, so dass diese den Antrag nach § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) nicht mehr weiterleiten durfte (vgl. zur Anwendbarkeit des § 14 SGB IX zwischen zwei Rentenversicherungsträgern BSG, Urt. v. 20.04.2010 - B 1/3 KR 6/09 R, zitiert nach [...]). Es war jedoch bereits zuvor im Mai 2010 ein Antrag bei der Beigeladenen zu 1.) auf Kostenübernahme gestellt und mit Bescheid vom 19.05.2010 entschieden worden. Die Beigeladene zu 1.) ist daher erstangegangener Leistungsträger durch Erhalt der Versorgungsanzeige des Beigeladenen zu 2.). Die Versorgungsanzeige des Akustikers gegenüber der Krankenkasse, die dieser namens und in Auftrag des Versicherten mit der Bitte um Bewilligung einreicht, ist als Sozialleistungsantrag zu werden, der mit Eingang bei der Krankenversicherung anhängig ist (so auch Sächsisches LSG, Urt. v. 07.02.2012 - L 5 R 286/11, zitiert nach [...]). Denn in jedem Leistungsbegehren nach § 16 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) ist ein Antrag zu sehen. (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.11.2010 - L 31 R 37/10; Sächsisches LSG, Urt. v. 07.02.2012 - L 5 R 286/11, zitiert nach [...]). Die Zuständigkeit des Leistungsträgers richtet sich durch § 14 SGB IX nicht mehr nach dem materiellen Recht der einzelnen Leistungsgesetze, sondern nach dem Verhalten des Trägers, bei dem der Antrag zuerst eingeht. Da die Beigeladene zu 1.) den Antrag nicht weitergeleitet sondern bearbeitet hat, ist sie endgültig zuständig geworden. Sie musste den Antrag nach allen in Betracht kommenden Leistungsgesetzen prüfen. Der behinderte Mensch soll nur einen Ansprechpartner haben, aber inhaltlich so gestellt werden, als hätte er bei allen Rehabilitationsträgern gleichzeitig einen Antrag gestellt. Der Zuständigkeit der Beigeladenen zu 1.) steht auch nicht ihr mittlerweile Bestandskräftiger Bescheid vom 19.05.2010 entgegen, mit dem Sie die Versorgungspauschale übernommen hat. Hat der erstangegangene Leistungsträger mit seiner Entscheidung über die Leistungsablehnung bereits im Rahmen ihrer Zuständigkeit nach § 14 SGB IX (konkludent) eine Leistung nach dem SGB V abgelehnt hat, kommt § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zur Anwendung, sofern ein Widerspruch nicht mehr möglich sein sollte. Die formelle Zuständigkeit des erstangegangenen Trägers ändert sich nicht dadurch, dass dieser das Verwaltungsverfahren durch Erlass eines - und sei es auch bindenden - Verwaltungsaktes abließt. (BSG, Urt. V: 21.08.2008 - B 13 R 33/07 R; BSG, Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 19/08 R; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.11.2010 - L 31 R 37/10, zitiert nach [...]) Der spätere Antrag bei der Beklagten ist insofern gegenüber der Beigeladenen zu 1.) als Widerspruch (gegen den mangels Rechtsbehelfsbelehrung damals noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt) auszulegen. Auch nach Erlass des Bescheides der Beigeladenen zu 1.) am 19.05.2010 ist diese also erstangegangener und damit zuständiger Leistungsträger im Sinne des § 14 SGB IX geblieben. Die Zuständigkeit der Beigeladenen zu 1.) im Außenverhältnis zur Klägerin ist auch nicht dadurch entfallen, dass die Klägerin nach der Ablehnung von Leistungen nach dem SGB V durch die Krankenkasse mögliche Ansprüche nach dem SGB VI nicht mehr dieser gegenüber, sondern gegenüber dem Rentenversicherungsträger verfolgt hat; eine nach§ 14 SGB IX begründete Zuständigkeit ist endgültig § 14 SGB IX soll nicht nur im Interesse des behinderten Menschen Zuständigkeitszweifel beseitigen; die Vorschrift soll vielmehr auch Rechtssicherheit schaffen, indem eine - im Außenverhältnis - einmal begründete Zuständigkeit erhalten bleibt (BSGE 93, Seite 283; BSGE 101, Seite 207; BSG, Urt.v.29.09.2009 - B 8 SO 19/08 R). Die Vorschrift trägt dem Bedürfnis Rechnung, im Interesse behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Systems entgegenzuwirken. (vgl. BSG, Urteil v. 20.10.2009, B 5 R 5/07 R, zitiert nach [...])

9

2.

Anspruchsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch der Klägerin gegen die Beigeladene zu 1.) ist § 13 Abs. 3 Satz 1, 2. Fall Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) (vgl. BSG, Urt. v. 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, zitiert nach [...]). Danach besteht der Anspruch auf Kostenerstattung, wenn die Krankenkasse die Erfüllung eines Naturalleistungsanspruchs rechtswidrig abgelehnt und der Versicherte sich die Leistung selbst beschafft hat, wenn zudem ein Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung besteht, die selbst beschaffte Leistung notwendig ist und die Selbstbeschaffung eine rechtlich wirksame Kostenbelastung des Versicherten ausgelöst hat. Diese Anspruchsvoraussetzungen liegen hier vor.

10

a)

Die Beigeladene zu 1.) hat die Leistung zu.U.nrecht abgelehnt. Die Klägerin hatte einen Anspruch auf eigenanteilsfreie Versorgung mit den begehrten Hörgeräten. Rechtsgrundlage des primär verfolgten Leistungsanspruchs ist § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Hiernach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, wenn sie erstens nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder nach § 34 Abs. 4 SGB V aus der Versorgung ausgeschlossen sind und zweitens im Einzelfall erforderlich sind, um entweder den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Beklagte hätte den Antrag der Klägerin von Mai 2010 so auslegen müssen, dass die Klägerin auch die Übernahme des Eigenanteils begehrt. Ein Antrag ist ohne Rücksicht auf den Wortlaut umfassend zu prüfen. Im Zweifel will der behinderte Mensch die ihm günstigste Art der Leistungsgewährung - bei Hörgeräten eine zuzahlungsfreie, seinen Bedürfnissen entsprechende Versorgung. Die Übermittlung der Versorgungsanzeige durch den Hörgeräteakustiker an die Krankenkasse ist ein Antrag des Versicherten auf Gewährung eines Hörgerätes auch über den Festbetrag hinaus. Eine Aufspaltung in einen Antrag in Höhe des Festbetrages und einen separaten Antrag in Höhe des überschießenden Eigenanteils kommt nicht in Betracht. (LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.11.2010 - L 31 R 37/10, zitiert nach [...]) Dies würde zu einer Aufspaltung der Leistungsansprüche und der angegangenen Leistungsträger führen und dadurch eine Situation des Bürgers gegenüber mehreren Leistungsträgern mit unter Umständen differierenden Rechtsansichten führen, die der§ 14 SGB IX gerade verhindern wollte. Die Bewilligung nur in Höhe der Versorgungspauschale ist als Ablehnung des darüberhinausgehenden Eigenanteils zu werten. Insofern war die Ablehnung der Beigeladenen zu 1.) rechtswidrig. Die Klägerin hatte einen Sachleistungsanspruch gegen die Beigeladene zu 1.) auf Versorgung mit den beantragten Hörgeräten ohne Eigenanteil nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, da diese erforderlich waren, um eine Behinderung auszugleichen. Die Hörgeräteversorgung dient dem unmittelbaren Behinderungsausgleich. Die Krankenversicherung schuldet die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder nach dem Stand der Hörgerätetechnik, soweit dies im Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil bietet. Dazu gehört auch das Hören in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen (BSG, Urt. v. 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, zitiert nach [...]). Die selbstbeschafften Hörgeräte ergaben ausweislich der Messergebnisse des zu 2.) beigeladenen Hörgeräteakustikers das beste Hörvermögen. Mit Ihnen erzielte die Klägerin ein Sprachverstehen von 100% (statt 90% bei einem als eigenanteilsfrei angebotenen Gerät) und von 90% im Störgeräusch (gegenüber 85% bei einem als eigenanteilsfrei angebotenen Gerät). Die Klägerin hatte nicht nur im Rahmen ihres Berufs, sondern bereits im Rahmen der Grundversorgung des Krankenversicherungsrechts Anspruch auf Verschaffung der besten Geräte. Ein berufsbedingter Mehrbedarf ergab sich hingegen nicht. Die Versorgung liegt hier im materiellen Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung, weil die Hörhilfen notwendig zur Verwirklichung elementarer Grundbedürfnisse des täglichen Lebens sind, wie z.B. der Teilnahme am Straßenverkehr und sonstigen allgemeinen Hörsituationen mit gewissem Störschall. Der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ist für die Hilfsmittelversorgung nur dann originär zuständig wenn die Versorgung mit Hilfsmitteln nahezu ausschließlich den besonderen beruflichen Bedürfnissen des Versicherten an seinem konkreten Arbeitsplatz bzw. in seinem ausgeübten Beruf zu dienen bestimmt ist. Wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ausführte, konnte sie aber auch im privaten Bereit mit den jetzt beschafften Geräten am besten hören, so dass die Versorgung bereits in die Leistungspflicht nach Krankenkassenrecht fällt. Dies ist angesichts der Messergebnisse schlüssig. Eine besondere berufliche Betroffenheit der Klägerin liegt nach der Überzeugung der Kammer zudem schon nach der Tätigkeitsbeschreibung des Arbeitsgebers der Klägerin und nach den klarstellenden Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht vor. Die Klägerin führt danach Telefongespräche und Gespräche mit verschiedenen Kollegen. Diese Anforderungen entsprechen den elementaren Grundbedürfnissen, die an das Hören im täglichen Leben gestellt werden. Telefonische Kommunikation, auch mit Störgeräuschen, ist in beruflichen Tätigkeiten heute nahezu immer notwendig und gehört zu den üblichen Anforderungen einer jeden beruflichen Tätigkeit, die von den Krankenkassen sicherzustellen ist. Auch die Teilnahme an Besprechungen oder die Kommunikation in der Gruppe stellt zur Überzeugung der Kammer keine besonderen Anforderungen an das Hörvermögen eines Mitarbeiters. (vgl. auch Sächsisches LSG, Urt. v. 07.02.2012 - L 5 R 286/11, zitiert nach [...]) Als elementares Grundbedürfnis im Sinne der Leistungspflicht der Krankenversicherung zählt auch die Ausübung einer sinnvollen Tätigkeit überhaupt (BSG, Urt. v. 21.08.2008 - B 13 R 33/07 R, zitiert nach [...]). Damit war nicht nur formell sondern auch materiell die Beigeladene zu 1.) zuständig, die Klägerin im Rahmen der Krankenversorgung nach dem SGB V mit den erforderlichen Geräten zu versorgen. Diese Versorgung muss - von Zuzahlungen abgesehen - kostenfrei erfolgen (vgl. BSG, Urt. v. 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, zitiert nach [...]). Selbst wenn die Beigeladene zu 1.) der Ansicht gewesen wäre, es liege ein berufsspezifischer Mehrbedarf vor, so hätte sie im Rahmen ihres Verwaltungsverfahrens Ansprüche nach Rentenversicherungsrecht prüfen und bejahen müssen, so dass sie ebenfalls den gesamten Betrag hätte übernehmen müssen. Denn die Zuständigkeit eines Trägers im Sinne von § 14 Abs. 1 u. 2 SGB IX, hat zwingend zur Folge, dass im Verhältnis zwischen diesem und dem Leistungsberechtigten der Anspruch anhand aller Rechtsgrundlagen zu prüfen ist, die überhaupt in der konkreten Bedarfssituation in Betracht kommen. (vgl. BSG,Urteil v. 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R; BSG, Urteil v. 21.08.2008 - B 13 R 33/07 R; BSG, Urteil v. 26.06.2007 - B 1 KR 34/06 R) Dies gilt nach der Rechtsprechung des BSG unabhängig davon, ob "eigentlich" ein anderer Leistungserbringer für die Leistungserbringung zuständig wäre. Ist der formell zuständige Träger für eine Leistung der beantragten Art nicht originär zuständig, hat er die Leistung dem Antragsteller gegenüber nach den Vorschriften des "eigentlich" zuständigen Leistungsträgers zu erbringen und gegebenenfalls einen Erstattungsanspruch gegenüber jenem Träger geltend zu machen. (vgl. BSG, Urteil v. 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R, zitiert nach [...])

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b)

Der Beschaffungsweg ist ebenfalls eingehalten. Die Klägerin hat sich erst nach teilablehnendem Bescheid die Hörgeräte auf eigene Kosten beschafft. Es kommt für den Beschaffungsweg nicht auf den Bescheid der Beklagten an, sondern auf den Bescheid der Beigeladenen zu 1.). Denn die Beigeladene zu 1.) war allein zuständiger Rehabilitationsträger, die Beklagte konnte für die Entscheidung des Antrags nicht mehr zuständig werden. Die Klägerin hat sich die Hörgeräte erst auf eigene Kosten in Höhe des Eigenanteils selbst beschafft, nachdem die Beigeladene zu 1.) die Kostenübernahme auf die Versorgungspauschale beschränkt hatte. Die Kosten der Klägerin sind ihr demnach kausal durch die Teilablehnung entstanden. Anhaltpunkte dafür, dass die Versorgung mit den beschafften Hörgeräten unangemessen war, ergeben sich nicht.

12

c)

Unerheblich für den Ausgang des Rechtsstreits sind die Ausführungen der Beigeladenen zu 1.) zum BIHA-Vertrag. Im Außenverhältnis zur Versicherten ist nicht relevant, ob der Akustiker seine Verpflichtungen aus dem BIHA-Vertrag eingehalten hat. Ob die Beklagte im Innenverhältnis mit Ihren Hilfsmittellieferanten Verträge abschließt, kann im Außenverhältnis zur Versicherten nicht zu Einschränkungen von gesetzlichen Ansprüchen führen. (vgl. SG Oldenburg, Beschl. v. 20.03.2012 - Az. S 61 KR 6/12 ER, zitiert nach [...]). Festbetragsregelungen ermächtigen nicht zu Einschränkungen des GKV-Leistungskatalogs (BSG, Urt. vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, zitiert nach [...]). Ob es der Beigeladenen zu 1.) gegenüber eine Vertragsverletzung nach dem BIHA-Vertrag darstellt, dass der Beigeladene zu 2.) kein zuzahlungsfreies Gerät mit gleichen Messwerten angeboten hat, ist im Außenverhältnis zur Versicherten nicht von Relevanz. Es bleibt der Beigeladenen zu 1.) unbenommen, den Hörgeräteakustiker gegebenenfalls in Regress zu nehmen oder ihn gem. § 12 des BIHA-Vertrages abzumahnen oder den Vertrag mit ihm zu kündigen bzw. gem. § 15 des Vertrages eine Vertragsstrafe von bis zu 10.000 EUR zu verhängen. (Unerheblich ist insofern auch, dass der BIHA-Vertrag zum 30.06.2012 durch die Bundesinnung der Hörgeräteakustiker gekündigt wurde, zunächst aber bis zum 01.09.2012 weiterläuft.) Das Risiko, für überhöhte Vergütungsansprüche aufkommen zu müssen, trifft im Sachleistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherungen grundsätzlich die Krankenkassen, nicht die Versicherten (BSG, Urt. vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, zhitiert nach [...]).

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d)

Die Beklagte kann sich darüber hinaus nicht darauf berufen, sie habe nicht gewusst, dass die Klägerin die Geräte nicht eigenanteilsfrei angeboten bekommen habe. Denn die Aufklärung dieses Umstandes wäre in die Sachaufklärungspflicht der Krankenversicherung gefallen. Es kommt nicht darauf an, ob die Krankenkasse dem Antrag entnehmen konnte, dass eine über den Festbetrag hinausgehende Versorgung begehrt war; sie wurde unmissverständlich davon unterrichtet, dass die Klägerin eine Versorgung mit Hörgeräten wünscht. Der Umfang der Hörgeräteversorgung richtet sich nicht nach dem Antrag, sondern gemäß § 40 SGB I nach den rechtlichen Bestimmungen. (vgl. Sächsisches LSG, Urt. v. 07.02.2012 - L 5 R 286/11, zitiert nach [...]) Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Beigeladene zu 2.) das laut BIHA-Vertrag vorgegebene Formular ausgefüllt bei der Beigeladenen zu 1.) eingereicht hat. Das Formular des BIHA-Vertrages fragt jedoch gar nicht ab, ob die Versorgung durch den Akustiker eigenanteilsfrei oder eigenanteilspflichtig erfolgt. Wenn die Krankenversicherungen konsequent einen Umstand, der seit Jahren nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für den Leistungsanspruch relevant ist, in ihren Formularen nicht abfragen, liegt hierin ein Systemfehler.

14

e)

Dem Anspruch der Klägerin auf Erstattung des über die Versorgungspauschale hinausgehenden Eigenanteils steht auch nicht entgegen, dass sie unterschrieben hat, sie sei über das Angebot einer eigenanteilsfreien Versorgung informiert worden und habe sich für eine Versorgung mit Eigenanteil entschieden. Denn diese Belehrung ist unvollständig und kann daher Ansprüche nicht ausschließen. Die Klägerin ist, wie der Text der Belehrung ausweist und auch die mündliche Verhandlung nach übereinstimmenden Aussagen ergeben hat, gerade nicht darüber aufgeklärt worden, dass sie den Anspruch hatte, genau die von ihr begehrten Geräte, die die besten Messergebnisse erzielten, eigenanteilsfrei erhalten. Sie ist dahingehend beraten worden, dass sie schlechtere Geräte eigenanteilsfrei erhalten kann. Diese Beratung ist fehlerhaft. Sie entspricht nicht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach der Versicherte Anspruch auf Versorgung mit den Geräten hat, die eine bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder gewährleisten. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass dass der Hörgeräteakustiker als Hilfsmittellieferant im Lager der Krankenversicherung steht und diese sich sein Fehlverhalten im Verhältnis zum Versicherten daher grundsätzlich zurechnen lassen muss (vgl. SG Oldenburg, Beschl. v. 20.03.2012 - S 61 KR 6/12 ER, zitiert nach [...]).

15

f)

Der der Klägerin damit gegenüber der Beigeladenen zu 1.) zustehende Sachleistungsanspruch auf Versorgung hat sich im vorliegenden Fall in einen Kostenerstattungsanspruch auf Erstattung der Kosten für die selbstbeschafften Hörgeräte gewandelt, da die Klägerin die Geräte bereits gekauft und die Rechnung in Höhe des Eigenanteils beglichen hat. Der Umfang des Kostenerstattungsanspruches richtet sich nach den tatsächlich angefallenen Kosten für die von der Klägerin beschafften Hörgeräte.

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3.

Die Beigeladene zu 1.) war als erstangegangener Leistungsträger direkt zu verurteilen. Die Verurteilungsmöglichkeit des Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 SGG entspricht dem Charakter der Beiladung nach Abs. 2 zweite Alternative, mit der im Grunde eine Klageerweiterung oder Klageänderung vorgenommen wird (vgl. BSGE 14, 86, 89). Die Verurteilung des Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 setzt - jedenfalls soweit es um die Verurteilung zu einer Leistung geht - ein Vorverfahren nicht voraus (vgl. BSG, Urt. v. 30. 06. 2009, B 2 U 19/08 R; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 07.10.2009 - L 18 AS 2221/07, zitiert nach [...]). Ist beim Beigeladenen schon ein Vorverfahren durchgeführt worden und hat der Beigeladene den Anspruch durch bindenden VA abgelehnt, kann er zwar grundsätzlich nicht verurteilt werden (BSG SozR 1500 § 75 Nr. 38; LSG Nds SozVers 83, 303). Jedoch ist es entsprechend dem Schutzzweck des IX erforderlich, diese Rechtsprechung nicht auf Fälle der Geltendmachung von Rehabilitationsleistungen zu übertragen (vgl. hierzu auch BSG vom 21.8.2008 - B 13 R 33/07 R; BSG Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 19/08 R, zitiert nach [...]). Um entsprechend § 14 SGB IX einen effektiven Rechtsschutz des behinderten Menschen zu gewährleisten, war bezüglich des Bescheides der Beigeladenen zu 1.) vom 19.05.2010 kein Vorverfahren erforderlich. Die Beigeladene zu 1.) ist gem. § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) verpflichtet, den Bescheid, der der jetzigen Verurteilung entgegensteht, aufzuheben.

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4.

Die Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und waren daher aufzuheben. Die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers schließt im Außenverhältnis zum Versicherten diejenige aller anderen Träger aus (BSG Urt. v. 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.09.2011 - L 4 R 56/10, zitiert nach [...]). Wie bereits dargelegt blieb die Zuständigkeit der Beigeladenen zu 1.) auch nach Abschluss des bei ihr anhängigen Verwaltungsverfahrens durch Erlass eines Bescheides bestehen. Die Beklagte konnte also keine Entscheidungsbefugnis bezüglich des später bei ihr gestellten Antrages erlangen. Die Bescheide sind rechtswidrig wegen sachlicher Unzuständigkeit und daher aufzuheben. (vgl. BSG Urt. v. 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R ; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.09.2011 - L 4 R 56/10; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.11.2010 - L 31 R 37/10 zitiert nach [...]) Im Übrigen ist anzumerken, dass die Begründung, mit der die Beklagte den Antrag der Klägerin abgelehnt hat, nämlich die Versorgung habe sich nach Krankenversicherungsrecht zu richten, inhaltlich auch nicht tragen würde. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat klargestellt, dass die durch§ 14 SGB IX begründete Zuständigkeit die Erbringung von Leistungen anhand aller in der konkreten Bedarfssituation in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen, auch nach zuständigkeitsfremden Leistungsgesetzen erfasst. Dies gilt auch dann, wenn die Versorgung mit Hörhilfen nach dem Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung keine Leistung zur medizinischen Rehabilitation ist. Denn§ 14 SGB IX gilt seiner Intention nach auch in solchen Fällen, in denen eine Leistung nach dem Recht eines Leistungsträgers anders zu qualifizieren ist als nach dem Recht eines anderen Leistungsträgers. (vgl. Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts v. 04.10.2011 - L 5 R 132/11, zitiert nach [...])

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5.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz. Die Kosten waren nach billigem Ermessen der Beigeladenen zu 1.) aufzuerlegen, da sie im vorliegenden Fall leistungsverpflichtet war und den Antrag zu.U.nrecht in Höhe des Eigenanteils abgelehnt hatte.