Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 14.03.2012, Az.: S 10 SF 170/11 E
Feststellung der Rechtmäßigkeit einer Rechtsanwalts-Gebührenfestsetzung durch den Urkundsbeamten; Rechtfertigung der Festsetzungeiner oberhalb der Mittelgebühr liegenden Gebühr; Berücksichtigung eines überdurchschnittlichen Umfangs der Tätigkeit in einem Verwaltungsverfahren
Bibliographie
- Gericht
- SG Oldenburg
- Datum
- 14.03.2012
- Aktenzeichen
- S 10 SF 170/11 E
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 20013
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOLDBG:2012:0314.S10SF170.11E.0A
Rechtsgrundlagen
- § 14 Abs.1 S. 4 RVG
- Ziffer 3103 VV RVG
Tenor:
Die Erinnerung des Erinnerungsführers gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss des Urkundsbeamten vom 06. Sepember 2011 wird zurückgewiesen.
Gründe
I. Der Erinnerungsgegner ließ sich in einem Vorverfahren und einem Klageverfahren von einem Bevollmächtigten vertreten. Streitig waren in diesem Verfahren die Anerkennung als Schwerbehinderter sowie das Merkzeichen "G". Das Klageverfahren dauerte von November 2008 bis März 2011. Der Bevollmächtigte des Erinnerungsgegners legte in diesem Klageverfahren zahlreichen Befundberichte sowie Privatgutachten vor und es wurden zwei Gutachten im Klageverfahren vom Gericht eingeholt. Außerdem forderte das Gericht drei Befundberichte an. Mit dem vom Bevollmächtigten des Erinnerungsgegners angenommenen Teilanerkenntnisses vom 27.04.2011 wurde der GdB auf 60 erhöht, die Anerkennung eines Merkzeichens jedoch abgelehnt. Die Kosten wurden zur Hälfte anerkannt.
Mit Kostennote vom 24.05.2011 machte der Bevollmächtigte des Klägers folgende Gebühren für das Klageverfahren geltend: Ziffer 3103 VV 250,00 Euro Ziffer 3106 VV 100,00 Euro Ziffer 1006 VV 250,00 Euro Ziffer 7002 VV 20,00 Euro Ziffer 7000 VV 17,50 Euro Umsatzsteuer Ziffer 7008 VV 121,13 Euro Gesamtbetrag 758,63 Euro. Von diesem Betrag machte er die Hälfte geltend. Im Übrigen wurden Gebühren für das Vorverfahren beantragt.
Der Erinnerungsführer hielt die geltend gemachten Gebühren für das Vorverfahren für angemessen und war der Auffassung, dass für das Klageverfahren folgende Gebühren festgesetzt werden könnten: Ziffer 3103 VV 170,00 Euro Ziffer 3106 VV 190,00 Euro Ziffer 7001 VV 20,00 Euro Ziffer 7000 VV 17,50 Euro Mehrwertsteuer 75,53 Euro Gesamtsumme 473,03 Euro Von diesem Betrag erklärte er sich bereit, die Hälfte zu erstatten.
Der Urkundsbeamte setzte mit Beschluss vom 06.12.2011 die zu erstattenden Gebühren für das Widerspruchsverfahren antragsgemäß fest. Für das Klageverfahren erfolgte folgende Festsetzung: Gebühr Ziffer 3103 VV 250,00 Euro Gebühr Ziffer 1006 VV 190,00 Euro Gebühr Ziffer 3106 VV 100,00 Euro Gebühr Ziffer 7002 VV 20,00 Euro Umsatzsteuer 106,40 Euro Gesamtsumme 666,40 Euro
Gegen diesen Beschluss legte der Erinnerungsführer am 19.09.2011 bei dem Sozialgericht Erinnerung ein und vertrat die Auffassung, dass die Verfahrensgebühr nach Ziffer 3103 VV nur in Höhe der Mittelgebühr festgesetzt werden könne, weil nach der Rechtssprechung Schwerbehindertenverfahren durchschnittliche Bedeutung hätten. Die Terminsgebühr sei nicht angefallen. Nach der ständigen Rechtssprechung verschiedener Landessozialgerichte würde schon nach dem Wortlaut der Ziffer 3106 VV in einem Verfahren, dass nach einem Teilanerkenntnis und Klagerücknahme im Übrigen seine Beendigung finde, eine Terminsgebühr nicht anfallen. Aus diesem Grunde müsste sie gestrichen werden.
Der Erinnerungsgegner hält die Gebührenfestsetzung durch den Urkundsbeamten für zutreffend.
II.
Die nach § 197 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss ist nicht begründet. Die Kostenfestsetzung durch den Urkundsbeamten ist nicht zu beanstanden.
Nach § 14 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) bestimmt der Rechtsanwalt die Gebühr bei Rahmengebühren im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Ein besonderes Haftungsrisiko ist dabei zu berücksichtigen (§ 14 Abs.1 Satz 1 und 3 RVG). Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs.1 Satz 4 RVG). Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist die Gebührenfestsetzung durch den Urkundsbeamten der Höhe nach nicht zu beanstanden.
Maßgebend für die Gebührenbemessung der Verfahrensgebühr ist im vorliegenden Fall Ziffer 3103 VV. Danach bemisst dich der Gebührenrahmen der Verfahrensgebühr in Fällen, in dem eine Tätigkeit im Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist, in einem Rahmen von 20,00 Euro bis 320,00 Euro mit einer Mittelgebühr von 170,00 Euro. Im vorliegenden Fall war es gerechtfertigt, eine oberhalb der Mittelgebühr liegende Gebühr festzusetzen. Eine Gebühr von 250,00 Euro erscheint angemessen. Der Beklagten ist zwar zuzugeben, dass für ein Schwerbehindertenverfahren, auch wenn es um die Erlangung der Schwerbehinderteneigenschaft und die Anerkennung eines Merkzeichens geht, von einer durchschnittlichen Bedeutung des Verfahrens auszugehen ist. Auch die Einkommensverhältnisse des Erinnerungsgegners können im vorliegenden Verfahren als durchschnittlich angesetzt werden, da andere Anhaltspunkte nicht bestehen. Allerdings war das Verfahren überdurchschnittlich umfangreich. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Dauer des Verfahrens von November 2008 bis Mai 2011 sehr lang war und für den Umfang der Tätigkeit auch zu berücksichtigen ist, dass über die gesamte Zeit das Mandat zu betreuen war. Zudem wurden vom Bevollmächtigten des Erinnerungsgegners zunächst zahlreiche medizinische Befunde und sogar Privatgutachten selbst eingeholt und zur Akte gereicht und es wurden von Amts wegen auch noch mehrere Befundberichte eingeholt und ein Gutachten von Amts wegen und ein Gutachten nach § 109 SGG angefordert. Zu diesen medizinischen Unterlagen war Stellung zu nehmen und zum Zwecke der Stellungnahme waren sie zunächst durchzuarbeiten. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte muss zum Umfang der anwaltlichen Tätigkeit von einem erheblich überdurchschnittlichen Umfang im Vergleich zu sonstigen sozialgerichtlichen Verfahren ausgegangen werden.
Auch die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit kann als leicht überdurchschnittlich angesehen werden, weil die Verwertung der medizinischen Befunde für das Klageverfahren medizinischen Sachverstand voraussetzt. Insgesamt erscheint vor diesem Hintergrund der Ansatz einer oberhalb der Mittelgebühr liegenden Gebühr von 250,00 Euro für das Klageverfahren nicht unangemessen.
Entgegen der Auffassung des Erinnerungsführers ist auch eine fiktive Terminsgebühr nach Ziffer 3106 VV angefallen.
Das vorliegende Verfahren wurde beendet durch Abgabe eines Teilanerkenntnisses durch die Beklagte des Hauptsacheverfahrens und durch Annahme desselben und Rücknahme der Klage im Übrigen durch den Kläger des Hauptsacheverfahrens. Bei einer Erledigung des Rechtsstreits durch die Annahme eines Teilanerkenntnisses mit Klagerücknahme im Übrigen entsteht die fiktive Terminsgebühr nach Ziffer 3106 Ziffer 3 VV zum RVG.
Die Kostenkammer des Sozialgerichts Oldenburg hält trotz abweichender Entscheidungen verschiedener Landessozialgerichte (vgl. zur Rechtssprechung Thüringisches LSG vom 29.Dezember 2009, Az L 6 B 15/09 SF m.w.N.) an der bisher vertretenden Rechtsauffassung fest, dass die fiktive Terminsgebühr nach Ziffer 3106 VV zum RVG auch dann anfällt, wenn das Verfahren nach Annahme eines Teilanerkenntnisses ohne mündliche Verhandlung beendet wird (vgl. dazu Sozialgericht Oldenburg vom 11.07.2007, S 10 SF 103/07, zitiert nach [...] Datenbank).
Nach Auffassung der Kostenkammer des Sozialgerichts Oldenburg sprechen sowohl der Wortlaut der vorgenannten Norm, der Regelungszusammenhang zu Ziffer 3104 VV als auch Sinn und Zweck der Vorschrift für die Auslegung, dass auch in solcher Verfahrenssituation eine fiktive Terminsgebühr entsteht.
In der Gesetzesbegründung zur Terminsgebühr ist ausgeführt, dass der erweiterte Anwendungsbereich der Terminsgebühr es honorieren soll, wenn es der Anwalt unterlässt, einen gerichtlichen Verhandlungstermin anzustreben, in dem ein ausgehandelter Vergleich nach Erörterung der Sach- und Rechtslage protokolliert wird, um eine Verhandlungs- oder Erörterungsgebühr auszulösen (vgl. LSG NRW vom 16.08.2006, Az L 20 B 137/06 AS). Dieses Ziel kann bei der im sozialgerichtlichen Verfahren sehr häufigen außerterminlichen Erledigungen durch Annahme eines Teilanerkenntnisses und Rücknahme im Übrigen aber nur dann erreicht werden, wenn auch diese Erledigungsform in den Geltungsbereich der Ziffer 3106 VV einbezogen wird (vgl. dazu Sozialgericht Oldenburg a.a.o. Anmerk. 23).
Der Wortlaut der Ziffer 3106 VV spricht nicht ebenfalls für diese Auslegung. In Ziffer 3106 VV Satz 2 Ziffer 3 ist folgende Regelung getroffen worden: Die Gebühr entsteht auch, wenn 3. das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung endet.
Wenn der Gesetzgeber mit dieser Regelung ausschließlich die Beendigung eines Rechtsstreits durch Annahme eines vollständigen Anerkenntnisses ohne weitere Verfahrenshandlungen wie etwa Rücknahme oder Erledigungserklärung gefasst haben wollte, hätte er anstatt des Wortes nach das Wort durch verwenden müssen. Bei der Verwendung des Wortes durch wäre klargestellt gewesen, dass die Annahme des Anerkenntnisses als solche die Beendigung des Rechtsstreites herbeiführen muss, also allein ursächlich für die Erledigung gewesen sein muss. Durch die Verwendung des Wortes nach wird demgegenüber klargestellt, dass unter die Ziffer 3 auch solche Verfahrenssituationen gefasst werden können, in denen ein angenommenes Anerkenntnis vorgelegen hat und - zeitlich - nach Annahme des Anerkenntnisses eine Erledigung des Rechtsstreites unstreitig durch entsprechende Prozesserklärungen herbeigeführt wird. Vom Wortlaut der Norm wird also auch der Fall erfasst, dass nach dem angenommenen Anerkenntnis eine Rücknahmeerklärung im Übrigen erfolgt und dadurch das Verfahren ohne mündliche Verhandlung beendet wird. Lediglich Rücknahmeerklärungen oder übereinstimmende Erledigungserklärungen ohne vorhergehendes angenommenes Anerkenntnis können nach dem Wortlaut der Norm nicht unter Ziffer 3106 Satz 2 Ziffer 3 VV fallen.
Auch der Regelungszusammenhang mit der Ziffer 3104 VV kann nicht zu einer anderen Auslegung der Ziffer 3106 VV herangezogen werden. Zwar ist in Ziffer 3104 VV ausdrücklich die Beendigung des Rechtsstreits durch einen schriftlichen Vergleich genannt. Insofern besteht ein Unterschied zu der Regelung in Ziffer 3106 Satz 2 Ziffer 1 VV, in dem der Abschluss eines schriftlichen Vergleiches ausdrücklich nicht genannt wird.
Anders als im Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 11.07.2007 ausgeführt, hat sich mittlerweile in der Sozialgerichtsbarkeit die Auffassung durchgesetzt, dass als verfahrensbeendender Vorgang abweichend vom Wortlaut des § 101 Abs. 1 SGG auch ein schriftlicher Vergleich erfolgen kann, wenn dieser in entsprechender Anwendung des § 278 Abs. 5 Zivilprozessordnung (ZPO) durch Beschluss festgestellt wird. Zum Zeitpunkt der Schaffung des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes im Jahr 2004 konnte nach damals wohl herrschender Auffassung unter Geltung des SGG durch einen schriftlichen Vergleich das Verfahren jedoch nicht beendet werden (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage § 101 SGG Anmerk. 3 ff). Durch diese Unterschiede in den Verfahrensordnungen zum Zeitpunkt der Schaffung des RVG ist nach Auffassung des Gerichts zu erklären, dass der Gesetzgeber die Beendigung des Rechtsstreits durch einen schriftlichen Vergleich zwar in die Ziffer 3104 VV aufgenommen hat, der auch für andere Verfahrensordnungen als das Sozialgerichtsgesetz gilt, während dieses ausdrücklich in der ausschließlich auf die Sozialgerichtsbarkeit bezogenen Gebührenziffer 3106 VV nicht der Fall war. Demgemäß ist dem aktuellen Referentenentwurf zur Modernisierung zum RVG (Referentenentwurf des Bundesministeriums für Justiz vom 11.11.2011, Seiten 419/420) auch zu entnehmen, dass auch in die Ziffer 3106 VV der schriftliche Vergleich ausdrücklich aufgenommen werden soll, weil es keinen sachlichen Grund gibt, den schriftlichen Abschluss eines Vergleiches anders zu behandeln, nur weil keine Wertgebühren sondern Betragsrahmengebühren erhoben werden. Zur Überzeugung der erkennenden Kammer kann aus der unterlassenen Einbeziehung des Vergleiches in die bisherige Fassung der Ziffer 3106 VV nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Verfahrensbeendigung durch gegenseitiges Nachgeben nicht zum Entstehen einer fiktiven Terminsgebühr im Sinne der Ziffer 3106 VV führen kann.
Die Kostenkammer des Sozialgerichts Oldenburg hält vor diesem Hintergrund mit der wohl herrschenden Meinung in der Kommentarliteratur (vgl. nur Hartung-Schulz-Enders, RVG, § 3106 VV Anm. 11; Hartmann, Kostengesetze, 41 Auflage, Ziff. 3106 VV Anm. 1 m.w.N.; Gerold-Schmidt, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz,18 Aufl. Ziff.3106 VV Anm. 7 ff) daran fest, dass bei Beendigung eines Rechtsstreits durch Annahme eines Teilanerkenntnisses und Rücknahme des Rechtsstreits im Übrigen eine fiktive Terminsgebühr nach der vorgenannten Ziffer angefallen ist. Etwas anderes kann auch nicht bei Beendigung des Verfahrens durch schriftlichen Vergleich gelten.
Diese Entscheidung ist endgültig (§ 197 Abs.2 SGG).