Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 15.06.2012, Az.: S 61 KR 304/11

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
15.06.2012
Aktenzeichen
S 61 KR 304/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44308
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Wenn die Krankenversicherung den Versicherten mangels Abrechenbarkeit einer Leistung über die Krankenversicherungskarte auf eine Kostenerstattung nach eingereichter Arztrechnung verweist, besteht kein Raum für eine Kürzung des zur Kostenerstattung eingereichten Rechnungsbetrages. § 13 Abs. 3 SGB V legt fest, dass die Kosten einer Behandlung dem Versicherten in voller entstanden Höhe zu erstatten sind.

2. Materielle Einwände gegen die Richtigkeit der Rechnung kann die Krankenversicherung dem Versicherten nicht entgegen halten. Denn dieser ist einem fälligen Vergütungsanspruch des Arztes bereits dann ausgesetzt, wenn die formellen Voraussetzungen des § 12 GOÄ eingehalten sind. Auf eine materielle Berechtigung der in Rechnung gestellten Vergütung kommt es für die Fälligkeit nicht an.

Tenor:

1. Der Bescheid der Beklagten vom 16.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2011 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Kosten in Höhe von 667,35 € zu erstatten.

3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Kostenerstattung für das Medikament Lucentis© zur Behandlung einer Augenerkrankung.

Der am E. 1947 geborene Kläger leidet unter einer feuchten altersabhängigen Makuladegeneration (AMD). Mit Schreiben vom 10.08.2011 beantragte der Kläger die Kostenübernahme von drei Injektionsbehandlungen mit dem Medikament Lucentis©, das für diese Indikation zugelassen ist.

Mit Bescheid vom 16.08.2011 bewilligte die Beklagte die Kostenübernahme für die intravitreale Medikamentengabe von zunächst maximal drei Injektionen mit dem Medikament Lucentis©. Da eine Abrechnung der Behandlungskosten über die Krankenversicherungskarte noch nicht möglich sei, stelle der Arzt eine Rechnung aus, die der Kläger zunächst selbst bezahlen müsse. Es würden durch die Beklagte sodann für die gesamte ärztliche Behandlung pro Injektion maximal 188,- € erstattet. Für das Medikament an sich würden bei einem Kassenrezept neben der gesetzlichen Zuzahlung keine weiteren Kosten anfallen. Bei einem Privatrezept würden 10,- € Zuzahlung und 2,50 € Apothekerrabatt abgezogen. Eine Rechtsmittelbelehrung enthielt der Bescheid nicht.

Der behandelnde Augenarzt des Klägers stellte diesem in der Folge pro Injektionsbehandlung 410,45 € in Rechnung (Rechnung vom 16.09.2011, vom 07.10.2011 und vom 14.10.2011). Er berechnete den Betrag nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) und legte als Leistungsziffer A 1383 zugrunde, was laut der Gebührenordnung einer Vitrektomie entspricht.

Gegen den Bescheid legte der Kläger am 06.10.2011 Widerspruch ein. Es seien die gesamten Kosten der Behandlung zu übernehmen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.10.2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Leistung könne nicht über die Krankenversicherungskarte abgerechnet werden, da der Bewertungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen, der die Gebührenordnung der Kassenärzte vereinbare, bislang nicht über die Vergütung der für die Einbringung des Arzneimittels in das Auge notwendigen intravitrealen Injektion entschieden habe. Die Leistung sei dementsprechend noch nicht in Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) aufgenommen worden. Daher sei die Erbringung einer Sachleistung nicht möglich, so dass eine Kostenerstattung erfolge und vom Arzt eine Rechnung nach der GOÄ erstellt werden müsse.

Die Beklagte erläuterte, es bestünden unterschiedliche Auffassungen über die Höhe der möglichen Erstattung, da die GOÄ (ebenso wie der EBM) ebenfalls bisher keine Ziffer für die intravitreale Injektion vorsehe und deshalb eine Analogziffer ausgewählt werden müsse. Welche Ziffer analog einschlägig sei, sei streitig. Das Bundesversicherungsamt habe mit Schreiben vom 18.08.2010 die bundesunmittelbaren Krankenversicherungen über seine Rechtsauffassung unterrichtet, dass nach § 13 Abs. 3 SGB V die tatsächlichen Kosten in voller entstandener Höhe zu erstatten seien, wenn die Krankenversicherung eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen könne. Hingegen habe der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen eine andere Empfehlung zur Berechnung der Leistungen gegeben, wonach sich auf Grundlage einer bestimmten Ziffer der Gebührenordnung für Ärzte je Injektion ein Erstattungsanspruch in Höhe von 76,93 € ergebe. Die Bundesärztekammer habe wiederum am 09.07.2010 im Deutschen Ärzteblatt deutlich höhere Empfehlung gegeben, auf Grundlage einer anderen Analogziffer.

Die Beklagte führte aus, die Wertung der Bundesärztekammer (Ziffer A 1383) sei nicht sachgerecht, da die Ziffer einer Operation am Auge mit einem Zeitaufwand von einer halben Stunde und mehr entspreche. Die Beklagte wähle einen Mittelweg und halte eine Kostenerstattung für die Ziffern 257, 445 und 485 für gerechtfertigt. Die Summe von 188 € setze sich zusammen aus dem Vergütungsanspruch für eine Injektion in den Subarachnoidalraum (zwischen zwei Hirnhäuten) in Höhe von 53,61 €, einem Zuschlag bei ambulanter Durchführung von operativen Eingriffen in Höhe von 128,23 € und einer Lokalanästhesie des Trommelfells und/oder der Paukenhöhle in Höhe von 6,16 €.

Mit seiner am 10.11.2011 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren auf volle Kostenerstattung weiter. Die Behandlung mit dem Medikament Lucentis© sei medizinisch erforderlich gewesen. Die Kürzung widerspreche der Stellungnahme des Bundesversicherungsamtes.

Der Kläger reichte insgesamt 13 Rechnungen für Injektionsbehandlungen in einem Zeitraum vom 13.09.2011 bis zum 13.04.2010 zur Akte.

Der Kläger beantragt,

1. den Bescheid der Beklagten vom 16.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2011 aufzuheben und

2. die Beklagte zu verurteilen, ihm Kosten in Höhe von 667,35 € zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus, Beitragsmittel seien gem. § 12 SGB V wirtschaftlich zu verwenden. Aussagen des Bundesversicherungsamtes hätten keine Bindungswirkung für die Beklagte, da diese keine bundesunmittelbare Krankenkasse sei. Die Bescheide hinsichtlich der zehn später beantragten Injektionsbehandlungen seien Gegenstand des Verfahrens geworden. Zudem seien in den Rechnungen des Augenarztes Nachbehandlungen aufgeführt, deren Abrechnung über die Krankenversicherungskarte abgerechnet werden könnten. Eine Kostenerstattung für diese Vergütungsforderungen könnte nicht Gegenstand des Klageverfahrens sein.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sich rechtswidrig, da der Kläger einen Anspruch auf volle Kostenerstattung der ihm entstandenen Behandlungskosten hat.

Gegenstand des Verfahrens sind entgegen der Auffassung der Beklagten allein die Rechnung vom 16.09.2011, die Rechnung vom 07.10.2011 sowie die vom 14.10.2011. Die übrigen eingereichten Rechnungen sind nicht Gegenstand des Verfahrens nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geworden, da sie die hier angefochtenen Bescheide weder abändern noch ersetzen. Die hier in Streit stehenden Bescheide beziehen sich auf drei Injektionsbehandlungen. Die späteren Bescheide beziehen sich auf gänzlich andere, zeitlich danach liegende Injektionen. Eine Klageerweiterung erschien nicht sachdienlich, da hinsichtlich der späteren Bescheide ein Vorverfahren noch nicht durchgeführt wurde und das gerichtliche Verfahren zunächst hätte ausgesetzt werden müssen, um die Vorverfahren abzuschließen.

Abzüglich einer Erstattung von 188 € sind dem Kläger pro Rechnung, die Gegenstand des Verfahrens ist, selbst getragene Kosten in Höhe von (410,45- 188 € =) 222,45 € entstanden, für drei Injektionen also insgesamt 667,35 €.

Der Anspruch auf Kostenerstattung in Höhe von 667,35 € ergibt sich vorliegend aus § 13 Abs. 3 Satz 1 i.V. mit § 27 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Ob sie notwendig war richtet sich danach, ob der Versicherte einen Sachleistungsanspruch gehabt hätte. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sei notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst dabei sowohl die ärztliche Behandlung als auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Grundsätzlich erbringt die Krankenversicherung ihre Leistungen als Sachleistung gem. § 2 Abs. 2 SGB V.

Die Voraussetzungen dieser Normen liegen hier vor. Dass die Behandlung der Augenerkrankung AMD hier erforderlich war, steht nicht in Streit. Ebenso ist unstreitig, dass das Medikament Lucentis© zugelassen für die Behandlung von AMD ist. Der Medizinische Dienst erklärte in seiner Stellungnahme vom 15.8.2011, die beantragte Behandlung sei indiziert. Daraus folgt, dass ein Sachleistungsanspruch des Klägers auf die Behandlung mit dem Medikament bestand.

Der Kläger hat Anspruch auf Kostenerstattung dem Grunde nach, da die Beklagte die Erbringung der Behandlung als Sachleistung abgelehnt und der Kläger sich die Leistung daher selbst beschafft hat. Die Beklagte hat, entgegen ihrer Verpflichtung, Behandlungen grundsätzlich als Sachleistung zu erbringen, den Kläger auf die Ebene der Kostenerstattung gleich eines Privatpatienten verwiesen und die Abrechnung über die Krankenversicherungskarte abgelehnt. Diese Teilablehnung der Beklagten war kausal für die Selbstbeschaffung. Denn der Kläger hat versucht, im Vorfeld der Behandlung eine Kostenübernahme zu erwirken und sich erst zeitlich nach Erlass des teilablehnenden Bescheides in Behandlung begeben.

Der danach grundsätzlich gegebene Anspruch auf Kostenerstattung besteht inhaltlich in voller entstandener Höhe. Denn die Krankenversicherung ist im Rahmen des § 13 Abs. 3 SGB V zur Herstellung desjenigen Zustandes verpflichtet, der bestehen würde, wenn sie ihrer Leistungspflicht systemgemäß nachgekommen wäre. In diesem Falle wären dem Kläger für die Behandlung keinerlei eigene Kosten entstanden. Es besteht der Anspruch gerade nicht nur auf die Erstattung der Kosten, die die Krankenkasse für den Fall der Erbringung der Sachleistung aufgewendet hätte, sondern auf Kosten in der dem Versicherten entstandenen Höhe (vgl. Becker/Kingreen, Kommentar SGB V, 2. Aufl. 2010§ 13 Rn. 29). Es ist keinerlei Raum für eine Kürzung der Erstattungsforderung gegenüber den tatsächlich entstandenen Kosten.

Die einzige Ausnahme, bei der ein Kostenerstattungsanspruch ausgeschlossen wäre, nämlich wenn der Versicherte keinem rechtswirksamen Vergütungsanspruch des Leistungserbringers ausgesetzt wird, ist hier nicht einschlägig. Denn der Vergütungsanspruch des Augenarztes besteht. Unabhängig von der Frage, ob der Arzt die richtige Anaolgziffer der GOÄ entsprechend § 6 Abs. 2 GOÄ zugrunde gelegt hat, ist dessen Vergütungsanspruch fällig, da er eine formell korrekte Abrechnung erteilt hat. Nach § 12 GOÄ ist die Vergütung fällig, wenn dem Zahlungspflichtigen eine der Verordnung entsprechende Rechnung erteilt worden ist. Auf die materielle Berechtigung der zugrunde gelegten Ziffer kommt es nicht an, allein die formellen Voraussetzungen des § 12 GOÄ müssen erfüllt sein (vgl. LG Hamburg, Urt. v. 07.02.2007 – 318 S 145/05, zitiert nach Juris). Dies ist hier der Fall. Materielle Einwände gegen die Richtigkeit der Rechnung kann die Krankenversicherung dem Versicherten nicht dementsprechend nicht entgegen halten. Denn dieser ist einem fälligen Vergütungsanspruch des Arztes bereits dann ausgesetzt, wenn die formellen Voraussetzungen des § 12 GOÄ eingehalten sind. Ob die Krankenversicherung gegen den Versicherten gegebenenfalls einen Anspruch auf Abtretung etwaiger Rückzahlungsansprüche gegen den Arzt wegen materiell unrichtig erteilter Rechnung hat, war hier nicht zu entscheiden.

Auch der Einwand der Beklagten, von dem Augenarzt auf seinen Rechnungen aufgeführte Nachbehandlungen hätten über die Krankenversicherungskarte abgerechnet werden können und könnten nicht vom Kostenerstattungsanspruch umfasst sein, greift nicht. Die Beklagte hat in Ihrem Bescheid vom 16.08.2011 dem Grunde nach die Kostenübernahme für die „Behandlungskosten“ erklärt. Sie hat jedenfalls keine ausdrückliche Beschränkung der Kostenerstattung allein auf den Behandlungsteil der Injektion vorgenommen, sie hat nicht ausdrücklich klargestellt, dass andere Teile der Behandlung, die theoretisch über die Krankenversicherungskarte abgerechnet werden können, auch hierüber abzurechnen seien. Sie hat die Erbringung einer Sachleistung abgelehnt und den Kläger auf den für ihn nachteiligen und umständlichen Weg der nachträglichen Kostenerstattung verwiesen. Sie kann nicht im Nachhinein eine einheitliche Behandlung in mehrere Einzelteile aufgliedern und unterschiedlich behandeln.

Dementsprechend war der Klage stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.