Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 21.03.2012, Az.: S 61 KR 6/12 ER

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
21.03.2012
Aktenzeichen
S 61 KR 6/12 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44291
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Eine gesetzliche Krankenversicherung kann sich im Außenverhältnis zum Versicherten nicht darauf berufen, ein Hörgeräteakustiker habe seine Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Komlettversorgung mit Hörsystemen zwischen der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker und dem Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. sowie dem Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V. (BIHA-Vertrag) nicht eingehalten. Ein solcher Vertragsverstoß ist allein eine Frage im Innenverhältnis der Krankenversicherung zum Akustiker, der unter Umständen zu einem Regress, einer Abmahnung oder einer Vertragsstrafe berechtigen kann.

2. Die Krankenversicherung muss, wenn sie behauptet, es sei eine Versorgung zum Festbetrag möglich, ein konkretes, ihrer Meinung nach geeignetes Gerät sowie einen Hörgeräteakustiker bennen, der bereit wäre, dieses Gerät anzupassen. Der Versicherte muss nicht so lange weitere Hörgeräte ausprobieren, bis ein gleichgeeignetes eigenanteilsfrei angebotenes gefunden ist. Er ist seinen Mitwirkungspfichten ausreichend nachgekommen, wenn er verschiedene Hörgeräte (hier sechs) ausgetestet hat und später auf Bitten der Krankenversicherung noch weitere Geräte erprobt hat.

3. Es obliegt der Krankenversicherung, ihre Vertragspartner (in diesem Fall Hörgeräteakustiker als Hilfsmittelerbringer) zu einem vertragskonformen Verhalten zu bewegen. Das Risiko, dass der Hörgeräteakustiker (evtl. entgegen Verpflichtungen aus dem BIHA-Vertrag) keine geeigneten zuzahlungsfreien Geräte anbietet, trägt in letzter Konsequenz die Krankenversicherung.

Tenor:

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zur Neuversorgung vorläufig beidseitig Hörgeräte des Typs Epoq XW/AGIL Power (HmvNr. 13.20.03.0466) als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenkasse im Wege der Sachleistung zu verschaffen.

2. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin die Versorgung mit den Hörgeräten Epoq XW/Agil Power.

Die im Jahre 1950 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Sie ist versicherungspflichtig als Bibliothekarin beschäftigt, arbeitet allerdings nicht mehr, da sie sich in der zweiten Phase einer Altersteilzeitregelung befindet. Bei ihr besteht mit einem Hörverlust von 77 % eine hochgradige Schwerhörigkeit rechts und mit einem Hörverlust von 88 % eine hochgradige, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit links. Es ist bei ihr ein Grad der Behinderung von 100 mit Merkzeichen "RF" anerkannt.

Das Hörvermögen mit den derzeit noch genutzten Altgeräten beträgt bei 65 dB ausweislich der Messungen des Hörgeräteakustikers 30 %. Das Hörgerät der linken Seite wird kaum verwendet, da die Wahrnehmung der Störgeräusche als unangenehm empfunden wird.

Aufgrund ärztlicher Verordnung vom 12.04.2010 wandte sich die Antragstellerin an den Hörgeräteakustiker D.GmbH. Sie erprobte dort verschiedene Geräte mit folgenden Messergebnissen:

Hörvermögen

bei 55 dB

bei 65 dB

65 dB bei 60 dB Störgeräusch

Epoq XW Power

55%     

100 % 

60%     

Go Pro Power (eigenanteilsfrei)

30%     

80 %   

10 %   

Una M Power (eigenanteilsfrei)

20 %   

80 %   

30 %   

Milo SP (eigenanteilsfrei)

40 %   

90 %   

30 %   

Versata P

95 %   

40 %   

Die Antragstellerin beantragte am 11.05.2010 bei der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für die Geräte Epoq XW Power. Das Hören sei für sie derzeit sehr anstrengend und sie leide daher unter Kopfschmerzen und einem Schultersyndrom.

Die Antragstellerin reichte einen Kostenvoranschlag des Akustikers über 5.972,80 € ein. Zudem reichte sie eine Stellungnahme des Hörgeräteakustikers ein, wonach nur mit dem begehrten Gerät das bestmögliche Hörvermögen zu erzielen sei. Mit den Vergleichsgeräten hätten nicht annähernd gleiche Ergebnisse erzielt werden können.

Mit Bescheid vom 17.05.2010 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Laut BIHA-Vertrag sei der Hörgeräteakustiker verpflichtet, dem Versicherten zwei zuzahlungsfreie Versorgungsangebote zu unterbreiten, die den Hörverlust angemessen ausgleichen. Diesen vertraglichen Verpflichtungen sei die Firma E.nicht nachgekommen. Die Antragsgegnerin beabsichtige, die Firma zu verpflichten, aufzahlungsfrei mit den begehrten Geräten zu versorgen.

Die Antragsgegnerin wandte sich zugleich mit diesem Ansinnen an den Hörgeräteakustiker, der jedoch die Auffassung vertrat, seine vertraglichen Verpflichtungen mit den angebotenen zuzahlungsfreien Geräten erfüllt zu haben. Der Akustiker und die Antragsgegnerin kamen überein, weitere Geräte zu erproben. Die Antragstellerin kam der Bitte nach und erprobte weitere Geräte, die jedoch ebenfalls schlechtere Messergebnisse brachten als die streitgegenständlichen Geräte. Die Antragstellerin reichte eine Stellungnahme ihres Arbeitgebers ein, wonach sie am Arbeitsplatz auf die Kommunikation mit Kollegen bei wechselndem akustischem Umfeld angewiesen sei.

Mit Bescheid vom 06.10.2010 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme der Mehrkosten erneut ab. Der Medizinische Dienst (MDK) sei zu dem Ergebnis gelangt, dass die Hörstörung auch eigenanteilsfrei ausreichend versorgt werden könne. Die Leistungspflicht der Antragsgegnerin sei daher mit Übernahme des Festbetrages erfüllt. Eine volle Kostenübernahme könne nicht erfolgen.

Die Antragstellerin legte am 28.10.2010 Widerspruch ein. Das begehrte Gerät sei erforderlich. Ihre Altgeräte würden kein ausreichendes Hörvermögen ermöglichen. In mehrfachen Erinnerungen führte sie aus, Sie benötige dringend eine optimale Hörgeräteversorgung. Ihre Geduld sei am Ende.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.05.2011 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. Sie wiederholte und vertiefte das Vorbringen aus dem Bescheid.

Die Antragstellerin verfolgt ihr Begehren mit der am 14.06.2011 erhobenen Klage weiter. Die begehrten Geräte seien medizinisch notwendig, wie der Hörgeräteakustiker in seinen Empfehlungsschreiben erläutert habe.

Die Antragsgegnerin führt im Klageverfahren aus, erforderlich für einen Ausgleich der Hörstörung seien bei der Antragstellerin mindestens zwei Kanäle und Kompressionsmöglichkeiten sowie eine Störgeräuschunterdrückung. Dies sei bei den aufzahlungsfrei angebotenen Geräten der Fall. Daher sei nicht nachvollziehbar, weshalb mit diesen Geräten kein ausreichender Behinderungsausgleich möglich sei. Das Hörvermögen im Störschall sei nicht relevant, dies spiele nur bei der Frage eine Rolle, ob eine ein- oder eine beidohrige Versorgung erfolgen müsse.

Am 09.01.2012 hat die Antragstellerin zudem einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Der Anspruch sei in der Hauptsache begründet. Das begehrte Gerät biete nach den Messergebnissen einen erheblichen Gebrauchsvorteil. Eine Eilbedürftigkeit ergebe sich daraus, das Hören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehöre. Die Antragstellerin leide unter einer erheblichen Einschränkung ihres Alltages. Sie könne nicht in Kontakt mit Mitmenschen treten, sei von der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ausgeschlossen und dadurch diskriminiert. Sie würde erheblich unter der Situation leiden. Das Gericht müsse Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen und eine Folgenabwägung vornehmen. § 33 SGB V sei im Lichte der Behindertenkonvention auszulegen, wonach unter anderem Teilhabe und Selbstbestimmung möglichst weitgehend zu verwirklichen seien. Es müsse gewährleistet werden, dass Menschen mit Behinderungen Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt genießen und ausüben könnten. Es sei zudem die persönliche Mobilität sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten hätten sich verpflichtet, das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu verschaffen. Auch nach §§ 1, 4, 55 und 58 SGB IX bestehe ein Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie am kulturellen Leben. Nach § 10 SGB I hätten behinderte Menschen ein Recht auf Hilfe, die Notwendig sei, um die Folgen der Behinderung zu mildern. Die Antragstellerin sei nach wie vor nur mit ihren Altgeräten versorgt und von einer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ausgegrenzt, sie sei diskriminiert und benachteiligt. Unter Berücksichtigung einer Folgenabwägung sei dem Antrag daher zu entsprechen.

Die Antragstellerin beantragt (sinngemäß),

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin zur Neuversorgung vorläufig beidseitig Hörgeräte des Typs Epoq XW/AGIL Power (HmvNr. 13.20.03.0466) als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenkasse im Wege der Sachleistung zu verschaffen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie führt aus, der Anspruch bestehe in der Hauptsache nicht und wiederholt die Argumentation aus dem Hauptsacheverfahren. Auch sei der Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht und es würde durch die einstweilige Anordnung die Hauptsache vorweggenommen. Durch die Gefahr, dass ein späterer Rückforderungsanspruch evtl. nicht realisiert werden könne, werde zudem die Versichertengemeinschaft belastet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte verwiesen.

II.

Der zulässige Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Eine solche Regelungsanordnung ist zu erlassen, wenn dem Antragsteller ein vom ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zusteht und ihm nicht zu zumuten ist, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Erforderlich ist ein Anordnungsanspruch (Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist) und ein Anordnungsgrund (Gefahr der Vereitelung oder Erschwerung der Rechtsverwirklichung, wesentliche Nachteile, drohende Gewalt). Dabei darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen des summarischen Charakters dieses Verfahrens grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die bei einem Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen würden. Daher ist vorläufiger Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 79, 69, 74 [BVerfG 25.10.1988 - 2 BvR 745/88] mit weiteren Nachweisen).

1. Der Anordnungsanspruch ist gegeben. Eine einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistung setzt voraus, dass bei summarischer Prüfung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch nach materiellem Recht feststellbar ist, gem. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 916 Zivilprozessordnung (ZPO).

In der Hauptsache sind die Erfolgsaussichten überwiegend wahrscheinlich. Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung unter anderem mit Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkasse nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V; s. stellvertretend BSG, Urteil vom 16. September 2004 – B 3 KR 19/03 R).

Ein Anspruch auf die begehrte Versorgung besteht nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Alternative 3 SGB V, denn das begehrte Hilfsmittel ist vorläufig erforderlich, um das Gebot eines möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, (elementare) Körperpflegen, selbstständige Wohnen sowie Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Ebenso gehört dazu das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen (s. BSG a.a.O. unter Hinweis auf BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 3, dort m.w.N.).

Die Antragstellerin kann, gemessen an diesen Maßstäben, zum Ausgleich der bei ihr bestehenden Hörbehinderung als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung voraussichtlich die streitgegenständlichen Hörgeräte beanspruchen. Der grundsätzliche Bedarf neuer Hörgeräte ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.

Darüber hinaus ist der Anspruch auf genau diese Geräte wahrscheinlich. Versicherte haben Anspruch auf die Hörgeräteversorgung, die die nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt, da der unmittelbare Behinderungsausgleich betroffen ist (BSG, Urt. vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R). Das begehrte Gerät ermöglicht nach den Messergebnissen ein gegenüber den anderen Geräten deutlich höheres Sprachverständnis von 55 % bei 55 dB (gegenüber 40 % bei dem nächstbesten Gerät), 100 % bei 65 db (gegenüber 95 % beim nächstbesten Gerät und 60 % bei 65 dB und einem Störgeräusch von 60 dB (gegenüber 40% beim nächstbesten Gerät). Die Geräte, die der Akustiker eigenanteilsfrei angeboten hat, erfüllen nicht die für die Antragsstellerin notwendigen Anforderungen an die Hörgeräte. Sie wiesen erheblich schlechtere Messergebnisse auf. Deshalb stellen sie keine ausreichende Versorgung im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V für die bei der Antragstellerin bestehende Behinderung dar.

Selbst die Antragsgegnerin geht davon aus, dass nur das begehrte Hilfsmittel nach den Messergebnissen des Hörgeräteakustikers eine bestmögliche Versorgung ermöglicht. Die Argumentation der Antragsgegnerin (im Bescheid vom 17.05.2010), der Akustiker habe seine Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Komlettversorgung mit Hörsystemen zwischen der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker und dem Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. sowie dem Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V. (im Folgenden: BIHA-Vertrag) nicht eingehalten, greift gegenüber der Antragstellerin nicht durch. Ob die Beklagte im Innenverhältnis mit Ihren Hilfsmittellieferanten Verträge abschließt, kann im Außenverhältnis zur Versicherten nicht zu Einschränkungen von gesetzlichen Ansrpüchen führen. Festbetragsregelungen ermächtigen nicht zu Einschränkungen des GKV-Leistungskatalogs (BSG, Urt. vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, zitiert nach Juris). Ob es der Antragsgegnerin gegenüber eine Vertragsverletzung nach dem BIHA-Vertrag darstellt, dass der Hörgeräteakuster kein zuzahlungsfreies Gerät mit gleichen Messwerten angeboten hat, ist im Außenverhältnis zur Versicherten nicht von Relevanz. Es bleibt der Antragsgegnerin unbenommen, den Hörgeräteakustiker gegebenenfalls in Regress zu nehmen oder ihn gem. § 12 des Vertrages abzumahnen oder den Vertrag mit ihm zu kündigen bzw. gem. § 15 des Vertrages eine Vertragsstrafe von bis zu 10.000 € zu verhängen.

Das Risiko, für überhöhte Vergütungsansprüche aufkommen zu müssen, trifft im Sachleistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherungen grundsätzlich die Krankenkassen, nicht den Versicherten (BSG, Urt. vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, zhitiert nach Juris).

Auch die pauschale Behauptung der Beklagten (im Bescheid vom 06.10.2010), die Hörstörungen der Klägerin müssten eigentlich auch eigenanteilsfrei versorgbar sein, kann nicht zu einem Ausschluss der Leistungspflicht führen. Die Antragstellerin ist ihren Mitwirkungspfichten ausreichend nachgekommen, indem sie verschiene Hörgeräte ausgetestet hat und auch der Bitte der Antragsgegnerin nachgekommen ist, weitere Geräte zu erproben. Das Risiko, dass der Hörgeräteakustiker (evtl. entgegen dem BIHA-Vertrag) keine geeigneten zuzahlungsfreien Geräte anbietet, trägt in letzter Konsequenz die Krankenversicherung. Denn sie ist zur Sachleistung verpflichtet und muss dem Grunde nach für eine ausreichende medizinische Versorgung ihrer Versicherten sorgen. Im Zuge dessen obliegt es ihr auch, ihre Vertragspartner (in diesem Fall Hilfsmittelerbringer) zu einem vertragskonformen Verhalten zu bewegen.

Auch die Behauptung der Antragsgegnerin, ein Hörverstehen im Störgeräusch sei nicht relevant, ist nicht nachvollziehbar. Ein Hören mit Umgebungsgeräuschen gehört zu den normalen Alltagssituation wie etwa im Straßenverkehr, in einer Unterhaltung mit mehreren Menschen gleichzeitig oder beim Einkaufen. Dass das Hörvermögen bei Störgeräuschen für ein Aufschließen zu den Verständigungsmöglichkeiten hörgesunder Menschen erheblich ist, hat das Bundessozialgericht bereits entschieden (vgl. BSG, URt. v. 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R, zitiert nach Juris).

In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Hörgeräteakustiker als Hilfsmittellieferant im Lager der Beklagten steht und die Beklagte sich sein Fehlverhalten im Verhältnis zum Versicherten daher grundsätzlich zurechnen lassen muss.

Die Antragsgegnerin hätte der Antragstellerin, um eine weitere Mitwirkungspficht zur Erprobung weiterer Geräte ggf. bei einem anderen Akustiker begründen zu können, konkrete Alternativen aufzeigen müssen. Sie hätte zum Beispiel auf ein bestimmtes, ihrer Meinung nach ausreichendes Gerät hinweisen können und Hörgeräteakustiker benennen, die dieses Gerät anpassen würden. Die Antragstellerin erfüllt nicht das Sachleistungsprinzip und auch nicht ihre Beratungspflichten, wenn Sie dem Versicherten eine beantragte Versorgung verwehrt, auf die unstreitig grundsätzlich ein Anspruch besteht, ohne eine Möglichkeit der zuzahlungsfreien Versorgung aufzuzeigen.

Da der Antragstellerin nicht aufgezeigt wurde, wie sie eine zuzahlunglsfreie Versorgung erlangen kann, kann nicht von Ihr verlangt werden, weitere Hörgeräteakustiker aufzusuchen und jeweils diverse Hörgeräte auszutesten, bis - im Interesse der Wirtschaftlichkeit der Leistung - eine gleichgeeignete eigenanteilsfreie Versorgung gefunden ist.

Es ist nicht zu tolerieren, dass ein Streit zwischen der Krankenversicherung und ihrem Hilfsmittelerbringer über die Anwendung eines gemeinsamen Vertrages zu Lasten des Versicherten ausgetragen wird.

2. Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben. Der Anordnungsgrund setzt gem. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 917, 918 ZPO eine besondere Eilbedürftigkeit voraus. Die Eilbedürftigkeit der Versorgung ergibt sich aus der derzeitigen absolut unzureichenden Hörgeräteversorgung der Klägerin. Ein Hörvermögen von 30 % bei 65 dB (gegenüber möglichen 100 % mit den begehrten Geräten) entspricht einer hohen Schwerhörigkeit trotz des Tragens von Hörgeräten und kann der Antragstellerin nicht über einen noch längeren Zeitraum zugemutet werden. So trug die Antragstellerin schon im Verwaltungsverfahren vor, das Hören sei für sie sehr anstrengend und sie leide aufgrund dessen unter Kopfschmerzen. In Anbetracht der Tatsache, dass das Bewilligungsverfahren sich nunmehr seit fast zwei Jahren unter unhaltbaren Hörverhältnissen in die Länge zieht, scheint ein der Antragstellerin weiteres Zuwarten nicht zumutbar.

3. Bei der aufgrund Vorwegnahme der Hauptsache zudem anzustellen Folgenabwägung sind die Folgen einer Ablehnung mit den Folgen einer Stattgabe des Antrags abzuwägen, wenn in der Hauptsache jeweils anders entschieden würde. Hierbei überwiegen die Interessen der Antragstellerin. Wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erlässt, sich aber in der Hauptsache herausstellt, dass ein Anspruch der Antragstellerin nicht besteht, so hat die Antragsgegnerin fälschlicherweise die Kosten des Hörgerätes zahlen müssen, kann diese aber sodann von der Antragstellerin erstattet verlangen.

Wenn auf der anderen Seite der Antrag abgelehnt würde, obwohl die Antragstellerin nur äußerst schlecht hört, würde die Antragstellerin weitere Monate in ihrer Lebensführung erheblich eingeschränkt sein, was zum Zeitpunkt der Hauptsachentscheidung für die Vergangenheit nicht mehr gutgemacht werden könnte. Die Folgen für die Antragstellerin haben eine nicht zu vernachlässigende Intensität und sind grundrechtsrelevant. Demgegenüber müssen die finanziellen Interessen der Antragsgegnerin im einstweiligen Rechtsschutz zurücktreten, zumal der finanzielle Schaden der Antragsgegnerin überschaubar ist und von der Antragstellerin ersetzt verlangt werden könnte. Es ist nicht ersichtlich, dass dieser Erstattungsanspruch nicht durchgesetzt werden könnte. Die der Antragstellerin drohenden Folgen wiegen demgemäß schwerer.

4. Nach alledem bestehen sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund. Unter Berücksichtigung einer Folgenabwägung sind die Kosten der begehrten Hörgeräteversorgung von der Antragsgegnerin vorübergehend zu übernehmen. Die Antragsgegnerin ist im Wege der Sachleistung verpflichtet, der Versicherten das begehrte Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen und dafür eine entsprechende vorläufige Bewilligung vorzunehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus der analogen Anwendung des § 193 SGG.