Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 01.06.2012, Az.: S 61 KR 204/11

Versorgung mit einem Fahrrad mit Hilfsmotor in Form eines Leichtmofas als Sachleistung der gesetzlichen Krankenkasse

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
01.06.2012
Aktenzeichen
S 61 KR 204/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 20003
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOLDBG:2012:0601.S61KR204.11.0A

Redaktioneller Leitsatz

Ein Fahrrad mit Hilfsmotor ist als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens gem. § 33 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB V von der Sachleistungspflicht ausgenommen.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Fahrrad mit Hilfsmotor in Form eines Leichtmofas. Die am D. 1960 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet unter Kniebeschwerden. Im März 2011 beantragte sie die Kostenübernahme eines Fahrrades mit Hilfsmotor und fügte eine ärztliche Bescheinigung ihres Orthopäden Dr. E. vom 23.03.2011 bei, wonach sie zur Erhaltung der Mobilität bei Gonarthrose beidseits eines Hilfsmittels zur Fortbewegung bedürfe, z.B. eines Fahrrades mit Hilfsmotor. Im rechten Knie ist schon eine Knieprothese eingesetzt. Laut den beigefügten Arztbriefen empfahl Dr. E. bereits im März 2009 auch die Einsetzung einer Knie-TEP links. Mit Bescheid vom 01.04.2011 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Es handele sich bei einem Fahrrad mit Hilfsmotor nicht um ein Hilfsmittel, sondern um einen Gebrauchsgegenstand. Zuvor hatte die Beklagte eine Stellungnahme des medizinischen Dienstes (MDK) vom 30.03.2011 eingeholt, der ausführte, bei einem Fahrrad mit Hilfsmotor handele es sich um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, der mittlerweile verbreitet sei. Es würden andere Maßnahmen empfohlen wie Gewichtsreduktion, Diätberatung, Bewegungsprogramm, ggf. Unterarmgehstützen oder die Versorgung mit einem Rollator. Die Klägerin legte am 02.04.2011 Widerspruch ein. Sie trug vor, es sei ihr kaum möglich, 500 m ohne starke Schmerzen zurückzulegen. Sie habe seit fast drei Jahren eine Knieprothese rechts und laufe seitdem noch schlechter als vorher. Mit dem Fahrrad könne sie sich über sehr kurze Strecken einigermaßen schmerzfrei bewegen. Bei längeren Strecken von über 2 km habe sie beim Radfahren jedoch starke Schmerzen. Das Radfahren falle ihr zunehmend schwerer. Gegen die Schmerzen nehme sie Tramal oder unterziehe sich einer Punktion oder Kortisoninfusion. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.07.2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Gebrauchsgegenstände des tägl. Lebens seien Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet werden und die nicht für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt seien und überwiegend von diesen genutzt würden. Fahrräder mit Hilfsmotoren seien im Handel für alle Bevölkerungsteile frei zu erwerben. Die Krankenkasse habe einen gewissen körperlichen Freiraum zu ermöglichen, aber nur in einem Umfang, den ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklege. Die Fortbewegung über weitere Gehstrecken falle nicht darunter. Mit ihrer am 11.08.2011 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie wohne auf dem Land, habe kein Auto und sei darauf angewiesen, ihr normales Fahrrad mit in den Bus zu nehmen, um von da aus zweimal pro Woche ihre geringfügige Arbeitsstelle zu erreichen. Die Haltestelle sei weit entfernt (4-5 km) und der Bus fahre selten. Zudem könne sie sich nicht darauf verlassen, mit ihrem Fahrrad stets im Bus mitgenommen zu werden. Die gesamte Strecke bis F. könne Sie allein mit dem Fahrrad nicht schaffen. Sie könne auch nicht einkaufen und Arztbesuche erledigen. Sie habe einen Rollator könne diesen aber nur für kurze Wegstrecken von 200-300 m nutzen und habe dabei Schmerzen. Sie sei nicht ausreichend Gehfähig und benötige das Hilfsmittel zum Ausgleich ihrer Gehbehinderung bei Knieprothese rechts und Arthrose im linken Knie. Ein gesunder Mensch könne ohne weiteres 4-5 km zu Fuß zurücklegen. Sie wolle sich nicht vergnügen, nur ihre normalen Besorgungen erledigen. Sie benötige als Ausstattungsmerkmal ein Leichtmofa, das selbständig ohne Tretunterstützung fahren könne. Die Klägerin reichte einen Kostenvoranschlag über ein von ihr begehrtes Elektrofahrrad über 1999,- EUR ein. Sie beantragt,

den Bescheid vom 01.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.07.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ein Fahrrad mit Hilfsmotor zu gewähren.

2

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

3

Sie führt aus, eine Hilfsmittelversorgung mit Fahrrädern komme für Erwachsene grundsätzlich nicht in Betracht. Es solle vorliegend die Mobilität über weite Wegstrecken erhalten, was nicht in die Leistungspflicht der Krankenversicherung falle. Rentenversicherungsrecht sei ebenfalls nicht anwendbar, weil die Klägerin seit 2006 Arbeitslosengeld II erhalte und keiner konkreten sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehe. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichtes des behandelnden Orthopäden Dr. E. vom 21.11.2011. Dieser führte aus, unter Benutzung eines Rollators sei eine Gehstrecke von 800-1000 m zumutbar. Einen Rollstuhl halte er bei der noch bestehenden Mobilität für nicht erforderlich, sondern primär die Implantation von Knieendoprothesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

4

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Fahrrad mit Hilfsmotor in Form eines selbstfahrenden Leichtmofas. Die Sachleistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für die Versorgung ihrer Versicherten mit Hilfsmitteln bestimmt sich nach § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach§ 34 SGB V ausgeschlossen sind. Anspruch auf Versorgung besteht nur, soweit das begehrte Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenversicherung gemäß § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligen. Nicht entscheidend für den Versorgungsanspruch ist, ob das begehrte Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) gelistet ist, denn es handelt sich bei diesem Verzeichnis nicht um eine abschließende Regelung im Sinne einer Positivliste. (vgl. BSG, Urt. v. 07.10.2010 - B 3 KR 5/10 R m.w.N., zitiert nach [...]) Hiervon ausgehend hat die Klägerin keinen Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit dem begehrten Leichtmofa. Denn Aufgabe der GKV bei der Hilfsmittelversorgung ist allein die an Gesundheit, Organfunktion und Behandlungserfolg orientierte medizinische Rehabilitation. Darüber hinausgehende soziale oder berufliche Rehabilitationsleistungen können grundsätzlich allenfalls von anderen Sozialleistungsträgern erbracht werden. Bei Hilfsmitteln, die - wie hier - nicht unmittelbar eine körperliche Funktion ersetzen, sondern lediglich die direkten oder indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen ("mittelbarer Behinderungsausgleich"), kann von medizinischer Rehabilitation aber nur dann die Rede sein, wenn der Zweck des Hilfsmitteleinsatzes der Befriedigung körperlicher Grundfunktionen und in diesem Sinne einem Grundbedürfnis dient. Dies ist der Fall, wenn das Hilfsmittel die Auswirkungen einer Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist. (vgl. BSG, Urt. v. 07.10.2010 - B 3 KR 5/10 R m.w.N., zitiert nach [...]) Eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht vorliegend nicht, denn das Fahrrad mit Hilfsmotor ist als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens gem. § 33 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB V von der Sachleistungspflicht ausgenommen. Die Einordnung als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens hängt davon ab, ob ein Gegenstand bereits seiner Konzeption nach den Zwecken des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V dienen soll oder - falls dies nicht so ist - den Bedürfnissen erkrankter oder behinderter Menschen jedenfalls besonders entgegenkommt und von körperlich nicht beeinträchtigten Menschen praktisch nicht genutzt wird. Fährräder in Form eines üblichen Zweirades sind allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens (vgl. BSG, Urt. v.07.10.2010 - B 3 KR 5/10 R m.w.N., zitiert nach [...]). Gleiches wurde für serienmäßig hergestellte Liegedreiräder angenommen - die auch von gesunden Menschen genutzt werden (vgl. BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 12 RdNr. 17). Damit ist auch das hier begehrte Elektrofahrrad vergleichbar. Es ist keine individuell angefertigte Konstruktion, und auch nicht für die speziellen Bedürfnisse von Kranken und Behinderten konzipiert, sondern es wird für einen breiten Markt serienmäßig hergestellt. Es wird auch nicht über Hilfsmittellieferanten wie Sanitätshäuser vertrieben, sondern ist für Jedermann im normalen Fahrradhandel zu erwerben. Ein Elektrofahrrad wird (im Gegensatz etwa zu einem Rollstuhl als klassisches Hilfsmittel) nicht speziell für behinderte Menschen hergestellt, sondern für breite Bevölkerungsschichten und insbesondere auch gesunde Menschen. Zweck und Funktion des Fahrrades mit Hilfsmotor sind nicht vorrangig auf behinderte Menschen zugeschnitten, sondern zum einen auf ältere Menschen, die möglichst noch längere Radfahrten bewältigen wollen, aber auch auf junge, gesunde Menschen wie Berufspendler als Alternative zu Stau im Berufsverkehr und steigenden Benzinpreisen. Elektrofahrräder werden in erheblichem Umfang von körperlich nicht (erheblich) beeinträchtigten Menschen genutzt, die Marktanteile verzeichnen gegenüber klassischen Fahrrädern rasante Zuwächse. Sie sind daher als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens zu qualifizieren und unterfallen nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung. Es kommt vorliegend nicht mehr darauf an, ob die Klägerin das Elektrofahrrad für Strecken nutzen würde, die über den Nahbereich der Wohnung hinausgehen, ob es also dem Grundbedürfnis dient, bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder die üblicherweise (die ländliche Wohnsituation der Klägerin ist insofern nicht ausschlaggebend) im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (vgl. zu den Voraussetzungen im Einzelnen BSGE 102, 90 [BSG 20.11.2008 - B 3 KN 4/07 KR R]). Wenn die Klägerin gesundheitlich tatsächlich nur noch kürzeste Strecken zurücklegen kann, so hat sie unter Umständen einen Anspruch auf ein Fortbewegungsmittel, das als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung zu qualifizieren ist, etwa einen Rollstuhl. Mit einem Rollator ist sie bereits versorgt. Nach alledem war die Klage abzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.