Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 12.04.2012, Az.: S 81 R 306/10
Anforderungen an die Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten; Berücksichtigung eines Berufsgrundbildungsjahres als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme; Abgrenzung einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme von einer Einordnung als Schulausbildung
Bibliographie
- Gericht
- SG Oldenburg
- Datum
- 12.04.2012
- Aktenzeichen
- S 81 R 306/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 20143
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOLDBG:2012:0412.S81R306.10.0A
Rechtsgrundlage
- § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VI
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 04.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2010 wird geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, die Zeit des Berufsgrundbildungsjahres vom 01.08.1990 bis zum 03.07.1991 als berufsvorbreitende Bildungsmaßnahme anzuerkennen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung weiterer rentenrechtlicher Zeiten. Der Kläger begehrt die Anerkennung eines Berufsgrundbildungsjahres als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme statt einer Einordnung als Schulausbildung.
Der am E. 1972 geborene Kläger strebte nach der Erlangung des erweiterten Realschulabschlusses auf einer allgemeinbildenden Schule eine Ausbildung zum Gärtner an.
Damals war im Bundesland Niedersachsen der Abschluss des Berufsgrundbildungsjahres im Rahmen einer Ausbildung zum Gärtner zwingend vorgeschrieben und wurde als erstes Lehrjahr auf die dreijährige Ausbildungszeit angerechnet.
Der Kläger absolvierte in der Zeit vom 01.08.1990 bis zum 03.07.1991 das Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) Agrarwirtschaft an den Berufsbildenden Schulen des Landkreises F.in G ...
Unterrichtet wurden zum einen als berufsfeldübergreifender Lernbereich die Fächer Deutsch, Gemeinschaftskunde, Sport und Religion und zum Anderen im Rahmen des berufsfeldbezogenen Lernbereichs einerseits der fachtheoretische Bereich mit den Fächern Betriebslehre, Mathematik, Bodenkunde (Pflanzenernährung), Biologie (Pflanze, Tier) sowie Agrartechnik und andererseits der fachpraktische Bereich mit den Unterrichtsfächern Produktionstechnische Grundtätigkeiten, Technische Grundtätigkeiten (Holz, Metall, Gartenbau, Floristik) sowie Zeichnen und Gestalten.
Im Anschluss absolvierte der Kläger vom 1.8.1991-31.7.1993 die betriebliche Ausbildung als Gärtner. Das BGJ wurde auf die dreijährige Ausbildungszeit angerechnet, so dass die betriebliche Ausbildung zwei Jahre dauerte. Die Gesellenprüfung bestand der Kläger am 17.06.1993.
Mit Bescheid vom 04.03.2010 stellte die Beklagte die im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten, die länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen, also Zeiten bis zum 31.12.2003, verbindlich fest. Den Zeitraum des BGJ vom 01.08.1990 bis zum 03.07.1991 wertete sie als Zeit der Schulausbildung.
Der Kläger legte am 06.04.2010 Widerspruch ein. Das BGJ sei eine Ausbildung mit beruflichem Bezug. Zumindest in Niedersachsen sei es damals nicht möglich gewesen, dieses Jahr im Rahmen einer Berufsausbildung zu umgehen. Es habe zu der dreijährigen Ausbildung gehört und sei daher als Ausbildungszeit mit beruflichem Bezug zu werten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.05.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Das Berufsgrundbildungsjahr sei zwar gem. § 29 Berufsbildungsgesetz nach § 27 a der Handwerksordnung auf die Berufsausbildung in dem Bereich Agrarwirtschaft angerechnet worden. Es sei aber eine schulische Form der Berufsvorbereitung. Ziel sei es, Grundqualifikationen mehrerer verwandter Berufe zu vermitteln. Zugleich könne der Hauptschulabschluss erworben werden. Der durch vollzeitschulischen Unterricht erworbene Bildungsstand spreche dafür, die Teilnehmer wie Schüler einer allgemeinen weiterführenden Schule zu behandeln. Der berufsfeldbezogene Unterricht sei nicht auf einen bestimmten Beruf zugeschnitten, sondern erfasse eine Vielzahl von Berufen aus dem gewählten Berufsfeld Agrarwirtschaft. Daher sei das BGJ als Zeit der Schulausbildung gem. § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI, nicht als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme nach § 58 Abs. 1 Satz 2 SGB VI zu qualifizieren.
Mit seiner am 17.06.2010 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Das Berufsgrundbildungsjahr sei als Ausbildungszeit mit beruflichem Bezug anzuerkennen. Denn es überwiege der berufliche Charakter des Unterrichtes. Es seien die praktischen Grundlagen für eine spätere Tätigkeit im Bereich Agrarwirtschaft gelegt worden. Die Ausbildungsinhalte seien zwar breit aufgestellt gewesen, jedoch seien die vermittelten Fertigkeiten im Bereich der Agrarwirtschaft erforderlich gewesen. Er habe zudem einen Tag pro Woche ein Betriebspraktikum durchgeführt. Er habe das BGJ nicht absolviert, um einen Hauptschulabschluss zu erlangen, denn er habe bereits den erweiterten Realschulabschluss gehabt. Er habe lieber eine dreijährige betriebliche Ausbildung machen wollen, dies sei jedoch nicht möglich gewesen.
In einem Parallelverfahren vor dem SG Aurich seien die Zeiten entsprechend anerkannt worden. Ein Urteil existiere nicht, da Erledigungserklärungen abgegeben worden seien.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 04.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2010 zu ändern,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, die Zeiten des Berufsgrundbildungsjahres vom 01.08.1990 bis zum 03.07.1991 als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Meinung, die schulische Ausbildung habe im Vordergrund gestanden. Spezielle Kenntnisse für die Erlangung eines Berufs seien nicht vermittelt worden.
Wegen der weitern Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Die Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger daher in seinen Rechten. Das absolvierte Berufsgrundbildungsjahr ist im Versicherungsverlauf des Klägers als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme zu werten.
Die Beurteilung der rentenrechtlichen Zeiten richtet sich vorliegend nach § 58 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung). Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen sind nach Satz 2 sind alle beruflichen Bildungsmaßnahmen, die auf die Aufnahme einer Berufsausbildung vorbereiten oder der beruflichen Eingliederung dienen, sowie Vorbereitungslehrgänge zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses und allgemeinbildende Kurse zum Abbau von schwerwiegenden beruflichen Bildungsdefiziten.
Das BGJ ist in diesem Sinne als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme zu werten. Rechtsfolge dieser Einordnung ist vorliegend insbesondere die rentenrechtlich erhebliche Bewertung der Zeit im Rahmen von § 74 SGB VI im Gegensatz zu Zeiten einer Schulausbildung.
Es lag hier keine allgemeinbildende Schulausbildung vor. Hierunter würde der Besuch von allgemeinbildenden öffentlichen und privaten Schulen wie z.B. von Grund-, Haupt- und Realschulen, Gymnasien, Sonderschulen, Berufsaufbauschulen und Fachoberschulen fallen. Darüber hinaus ist aber auch jede Ausbildung an einer sonstigen Bildungsstätte Schulausbildung, wenn diese Ausbildung zumindest annähernd derjenigen entspricht, die den Schülern auf allgemeinbildenden Schulen vermittelt wird (BSG 26.1.1988 - 2 RU 2/87). Zwar kann mit dem BGJ grundsätzlich auch der Hauptschulabschluss nachträglich erworben werden, die Allgemeinbildung hat nach angebotenen Unterrichtsfächern aber nicht im Vordergrund gestanden, sondern spezielle für diesen Berufsbereich benötigte Fächer wie Pflanzenernährung, Biologie und Agrartechnik. Schwerpunkt war der berufsfeldbezogene Unterrichtsbereich.
Das BGJ hat vorliegend auch konkret auf die Aufnahme einer Berufsausbildung vorbereitet, denn es war Voraussetzung für die nachfolgende betriebliche Berufsausbildung zum Gärtner. Das BGJ wurde sogar als erstes Lehrjahr auf die Berufsausbildung angerechnet. Nach § 7 Abs. 1 Berufsbildungsgesetz können die Landesregierungen nach Anhörung des Landesausschusses für Berufsbildung durch Rechtsverordnung bestimmen, dass der Besuch eines Bildungsganges berufsbildender Schulen oder die Berufsausbildung in einer sonstigen Einrichtung ganz oder teilweise auf die Ausbildungszeit angerechnet wird. Die Ermächtigung kann durch Rechtsverordnung auf oberste Landesbehörden weiter übertragen werden. Niedersachsen hatte von der Möglichkeit der Anrechnung Gebrauch gemacht und bis zum 31.07.2009 das Berufsgrundbildungsjahr auf die entsprechende Berufsausbildung angerechnet.
Eine "Anrechnung" kann nach dem Berufsbildungsgesetz stets nur erfolgen, wenn die Ausbildungszeit als durch die angerechneten Zeiten zurückgelegt anzusehen ist. Das kommt in Betracht, wenn die zurückgelegten Vorbildungszeiten den Inhalt der angestrebten Ausbildung im zeitlichen Umfang der Ausbildungsordnung entsprechend vermitteln. (§ 7 BBiG, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 12. Aufl. 2012) Da das Berufsgrundbildungsjahr von der Landwirtschaftskammer (als prüfende Stelle) anerkannt wurde, wurde es als Gleichwertig mit einem sonstigen ersten Lehrjahr angesehen. Es hat also inhaltlich dem Ausbildungsberuf entsprochen.
Maßgeblich ist für den vorliegenden Fall, dass das BGJ zwingend vorgeschrieben war und auf die Ausbildungszeit angerechnet wurde. Dem Kläger war es nicht möglich, es zu umgehen. Es würde eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung bedeuten, wenn Auszubildende einer grundsätzlich dreijährigen Berufsausbildung mit vorgeschriebenem angerechnetem Berufsgrundbildungsjahr (als erstes Lehrjahr) hinsichtlich der rentenrechtlichen Bewertung ihrer Ausbildungszeit deutlich schlechter stünden, als Auszubildende einer dreijährigen betrieblichen Berufsausbildung, in der kein Berufsgrundbildungsjahr vorgesehen ist. Auch inhaltlich entsprach das Berufsgrundbildungsjahr der Ausbildung zum Gärtner. Das Berufsgrundbildungsjahr ist demnach bei der Einordnung als rentenrechtliche Zeit nicht als allgemeinbildende Schulausbildung, sondern als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme zu qualifizieren, wenn es im Rahmen der konkreten Berufsausbildung zwingend vorgeschrieben war und auf die Dauer der Ausbildungszeit angerechnet wurde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.